Kapitel
30

Als Susan das zweite Mal Schreie gehört hatte, war sie unter genauer Befolgung der Instruktionen McCrackens an die Arbeit gegangen. Josh hatte sie bereits in einen mit Rollen versehenen Stuhl gehoben, um ihn, sobald es an der Zeit war, schnell wegbringen zu können.

Sie ließ ihn im Lagerraum sitzen und ging in das Labor zurück. Hier gab es – ebenso wie in den fünf anderen auf diesem Flur – einen Leitungshahn, aus dem sich für die Abwicklung gewisser Versuche Gas zapfen ließ. Die Gashähne befanden sich an der Vorderseite der Labors, in der Nähe der hohen Werkbänke, an denen die Lehrer die Experimente vorführten. Susan lief zum ersten Hahn und öffnete ihn mit wenigen schnellen und kräftigen Drehungen. Sofort strömte mit gedämpftem Zischen Gas aus.

Danach ging sie in das nächste Labor. Dort fand sie die gleichen Verhältnisse vor: Direkt gegenüber der Tür standen ordentlich Tische mit schwarzen Schieferplatten aufgereiht. Sie lief darauf zu. Das Licht, das von draußen hereinfiel, half ihr ein wenig dabei, den Hahn zu ertasten, und sie öffnete ihn ebenfalls.

Diesen Vorgang wiederholte sie in den drei anderen Labors. Dann eilte sie zu dem Jungen zurück, um die kommende Flucht vorzubereiten.

»Josh?« Sachte rüttelte sie ihn. »Josh …«

Er stöhnte, rührte sich aber nicht.

Susan faßte ihn an den Schultern und rollte ihn mitsamt dem Stuhl aus dem Lagerraum ins Labor. Die Rollen quietschten leise, und sie drosselte das Tempo, als sie in den Korridor kamen, um jedes Geräusch zu vermeiden. An der rechten Rückseite des Schulgebäudes gab es einen Hinterausgang. Dort wollte McCracken auf sie warten. So leise wie möglich schob sie den Stuhl durch den fast finsteren Korridor.

»Susan …«

Als sie McCracken halblaut ihren Namen rufen hörte, wandte sie den Kopf und schaute in Richtung des Dienstzimmers der Schulkrankenschwester. Einen Moment lang hatte sie ein Lächeln auf dem Gesicht – ehe ein Arm grob ihren Hals umschlang und sich eine Pistolenmündung gegen ihre Schläfe drückte.

Als Blaine den Mann hinter Susan auftauchen sah, war es schon zu spät, einen Schuß abzufeuern. Ruckartig blieb McCracken stehen, in einer Hand die SIG-Sauer, in der anderen eine der letzten zwei Rohrbomben.

»Fallenlassen!« befahl der Mann, der Susan gepackt hatte. Blaine sah die Angst in ihrem Gesicht. Josh saß in einem Schreibtischstuhl, der jetzt hinter ihr stand. »Sonst niete ich sie um.«

Es schien, als ob der Stuhl sich … bewegte. Nein, sah Blaine, es war Joshua Wolfe, der eine Hand ausstreckte und nach dem Mann faßte, der Susan Lyle umklammerte.

Blaine ließ die SIG-Sauer an einem Finger baumeln und ging langsam in die Knie, um vorzugeben, daß er die Waffe auf den Fußboden legen wollte. Die Pistole berührte die Fliesen, als Joshuas Hand an der Kampfjacke des Mannes einen Gurt zu fassen bekam und daran zog.

Im selben Augenblick riß Blaine die SIG-Sauer vom Boden hoch und zielte auf den Mann, der Susan wieder in den Würgegriff zu bekommen versuchte.

Susan Lyle duckte sich.

Blaine schoß.

Die Kugel warf dem Mann den Kopf in den Nacken und schleuderte ihn gegen Joshua Wolfe, so daß beide auf den Fußboden polterten.

»Josh!« schrie Susan.

Gerade kam McCracken wieder hoch, da tauchten mehrere Gruppe-Sechs-Männer am anderen Ende des Erdgeschoßflurs nahe dem verwüsteten Foyer auf. Er entflammte die Zündschnur der vorletzten Rohrbombe und schleuderte sie den Angreifern entgegen.

Während der nun folgenden Explosion rannte Blaine zu Susan Lyle und Josh und richtete unterwegs zur Sicherheit die SIG-Sauer auf die Zugänge der Labors. Er nahm schwachen, leicht süßlichen Gasgeruch in der Luft wahr. Also war sein Plan verläßlich ausgeführt worden.

Kaum hatte er Susan das nächste Mal in die Augen geblickt, als ein Geräusch vom anderen Ende des Flurs ihn herumfahren ließ. Ein von der Detonation verschont gebliebener Bewaffneter war hinter einer Wand in Deckung gegangen, hatte die Waffe angelegt und eröffnete das Feuer. Blaine gab vier Schüsse aus der SIG-Sauer ab, um den Angreifer und andere, die hinter ihm lauerten, fernzuhalten.

»Sofort da hinein!« keuchte er Susan zu und deutete in das nächste Labor, das an der dem Wald zugewandten Seite der Schule lag.

McCracken feuerte noch fünf Schüsse den Korridor hinab, um Susan Lyle das rasche Überwechseln in den Laborraum zu ermöglichen, dann zerrte er, während er den Rest des Magazins verschoß, den wieder besinnungslosen Josh hinterher.

Blaine schlug die Tür zu und verriegelte sie. Anschließend stieß er das letzte Magazin in die SIG-Sauer. Susan half ihm dabei, Josh an das Fenster zu den Sportplätzen zu schaffen. Soeben schmetterte er mit einem Stuhl die Fensterscheibe ein, als hinter ihm Garben aus Maschinenpistolen die Tür zersiebten.

»Raus!« brüllte er Susan zu und erwiderte das Feuer mit einer Anzahl rascher Schüsse, um die Gruppe-Sechs-Schützen noch einmal in Schach zu halten. »Ich reiche ihn Ihnen hinaus.«

Flink kletterte Susan durch die zerbrochene Fensterscheibe, ohne auf die gezackten Scherben zu achten. Ihre Füße hatten kaum den Boden berührt, da hob McCracken Joshua Wolfe durchs Fenster und ließ den Bewußtlosen in ihre Arme herab.

»Scharfschütze Rot an Einsatzleiter. Ich habe drei Zielpersonen im Visier. Zwei davon klar. McCracken sehe ich noch nicht.«

»Scharfschütze Blau an Einsatzleitung. Ich habe auch drei Ziele im Visier, zwei ebenfalls ganz klar. Aber bisher keinen McCracken.«

Sinclair traute seinen Ohren kaum. Aus dem drohenden Fehlschlag erblühte unversehens die Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluß der Aktion.

»Sobald Sie drei Ziele klar haben, schießen Sie! Gehen Sie hundertprozentig sicher, daß Sie McCracken eliminieren! Vollkommen sicher!«

»Roger«, gab Scharfschütze Rot durch.

»Verstanden«, meldete Scharfschütze Blau.

»Bringen Sie ihn fort!«

Susan schleifte Josh vom Schulgebäude über den ersten einer Reihe von Sportplätzen auf den Wald zu. Sobald er sich sicher war, daß sie weit genug weg war, wandte Blaine sich vom Fenster ab und sah im folgenden Moment die Labortür aufbersten.

Er schoß das ganze letzte Magazin der SIG-Sauer leer, so daß die Angreifer in den Flur zurückflüchteten. Dann hechtete er durch das zertrümmerte Fenster hinaus. Sobald er auf dem Rasen lag, hielt er die Flamme des Feuerzeugs an die Zündschnur der letzten Rohrbombe. Er mußte aufstehen, um sie durch das zerborstene Fenster ins Innere des Gebäudes werfen zu können. Ihm entging der rote Leuchtpunkt, der von einer im Wald verborgenen Scharfschützenposition auf ihn fiel.

»Scharfschütze Blau an Einsatzleiter. Ich habe McCracken im Visier.«

»Verstanden, Blau«, antwortete Sinclair. »Rot, haben Sie noch die Frau und den Bengel?«

»Ja, ich sehe …«

»Scharfschütze Rot, bitte wiederholen … Einsatzleitung an Scharfschütze Rot, bitte wiederholen Sie Ihre Durchsage. Haben Sie die Frau und den Jungen im Visier?«

Keine Antwort.

»Scharfschütze Blau, hier spricht die Einsatzleitung.«

»Ich warte auf Befehle, Einsatzleitung.«

»Legen Sie McCracken um!«

Scharfschütze Blau hatte in einem Baum Position bezogen, die ihm einen klaren Ausblick auf die den Sportplätzen zugekehrte Seite des Schulgebäudes bot. Durch sein Zeupold-Nachtsichtfernrohr sah er McCracken einen Satz aus dem Fenster vollführen. Anschließend richtete er sich sofort auf und warf etwas durchs Fenster ins Haus. Dann drehte er sich um und floh.

Scharfschütze Blau legte den Zeigefinger fester um den Abzug und verfolgte das Ziel mit dem roten Laserstrahl, um es genau aufs Korn zu nehmen, bevor er abdrückte. Endlich blieb der Laserstrahl auf McCrackens Brustkorb gerichtet, und der Scharfschütze bereitete sich aufs Feuern vor. Er wollte mit dem Ende des jetzigen Atemzugs abdrücken.

Ein stechender Schmerz zwischen seinen Schulterblättern riß den Gewehrlauf aufwärts, und der rote Lichtstrahl geisterte empor in die bewölkte Nacht. Ein einzelner Schuß löste sich, ehe ihm die Waffe entglitt, weil seine Hände nach der Wunde in seinem Rücken suchten. Doch bevor seine Finger sich so weit tasten konnten, verkrampften sie sich spasmisch, und er stürzte vom Baum. Er war tot, ehe er auf den Boden prallte.

Sekunden später sprang Johnny Wareagle herunter und riß das Messer aus dem Rücken des Toten. Das war der vierte und letzte Scharfschütze gewesen, den Johnny seit Verlassen des Schulgebäudes aufgespürt und unschädlich gemacht hatte. Die zwei ersten Scharfschützen hatten – sicher, wie sie glaubten – in dichtem Unterholz und Gestrüpp versteckt gelegen. Sie auszuschalten war so einfach gewesen, wie sie zu finden. Die höheren Schußpositionen des dritten und vierten Scharfschützen hatten jedem von ihnen ein 70-Grad-Schußfeld auf mögliche Fluchtwege aus der Vorderseite der Schule geboten. Und an genau solchen Stellen hatte Johnny Wareagle sie zu finden erwartet.

»Scharfschütze Blau«, quäkte ein Funksprechgerät am Gürtel des Erstochenen. »Scharfschütze Blau, melden Sie sich! Scharfschütze Blau, hören Sie mich?«

Gerade hielt Johnny Ausschau nach McCracken, als eine furchtbare Explosion durch die Nacht donnerte.

Achtzig Meter vom Schulgebäude entfernt fühlte Blaine die ohrenbetäubende Wucht der Detonation die Luft erschüttern. Die letzte Rohrbombe hatte das ausgeströmte Gas zur Explosion gebracht. Die Druckwelle schleuderte ihn vornüber. Zum Glück milderte der Rasen seinen Sturz, und er ließ den nachfolgenden Hitzeschwall über sich hinwegfegen.

Zehn Meter weiter fühlte sich Susan Lyle, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Ein flammend-orangegelber Feuerball, der schwarzen Rauch nach allen Himmelsrichtungen spuckte, verschlang den gesamten Hauptflügel der Schule. Trümmer segelten durch die Luft, Steinbrocken und Scherben hagelten auf die Umgebung herab und hinterließen im sommerlich üppigen Gras schwarze Krater. An verschiedenen Stellen brachen Brände aus und glommen in dunklem Rot, das einen unheimlichen Kontrast zu dem gelben Flammenmeer bildete, das die Überreste des Bauwerks verzehrte.

Susan tastete sich nach Wunden oder Verletzungen ab. Ihre Haut war heiß und versengt, doch anscheinend war ihr, abgesehen von dem Klingeln in ihren Ohren und den grellen Nachbildern auf ihren Augen, Schlimmeres erspart geblieben. Im Feuerschein sah sie Josh reglos auf dem Bauch liegen.

Susan kroch auf ihn zu. Da taumelte aus den Schatten außerhalb des Flammenwaberns eine Gestalt heran, die eher einem Geist als einem Menschen ähnelte. Die Gestalt verharrte, und ein zweiter Schatten kam an ihre Seite. Die beiden Silhouetten liefen auf sie zu, und Susan konnte McCracken und Wareagle erkennen. In der Ferne hörte sie lautes Sirenengeheul, das sich der Schule näherte.

»Du nimmst sie, Indianer«, hörte Susan McCracken sagen. »Ich trage den Jungen.«

Susan spürte, wie Johnny Wareagle sie mühelos auf die Beine stellte und stützte. Sekunden später stand Blaine neben ihr und hatte Joshua Wolfe auf den Armen, sein Blick auf den nahen Wald gerichtet.

»Kommen Sie, Doktor. Wir verschwinden hier.«