Kapitel
32

Wareagles Plan verlangte es, daß sie praktisch nonstop durchfuhren. Nur die Landschaft und die Außentemperaturen änderten sich. Alles andere nahmen sie nur nebenbei wahr, wenn sie mal wieder den Wagen wechselten und hin und wieder bei Sal Belamo anriefen, um ihm von ihrem Vorankommen zu berichten. Sie ernährten sich unterwegs in Raststätten, hielten sich dort nie lange auf. Dreißig Minuten Stop waren die längste Pause, die sie sich gönnten.

Joshua Wolfe kam nicht wieder zu sich und zeigte auch keine Anzeichen einer deutlichen Besserung. Susan Lyle befürchtete bald, er habe sich einen Gehirnschaden zugezogen. Trotz ihrer Sorge nickte sie immer wieder ein. Ihre Erschöpfung war einfach zu groß, als daß sie ununterbrochen an seiner Seite hätte wachen können.

»Was geht dir gerade durch den Kopf, Indianer?« fragte Blaine Wareagle, als er festgestellt hatte, daß Susan eingeschlafen war. Die beiden Männer hatten sich am Steuer abgewechselt, und Johnnys Schicht näherte sich ihrem Ende.

»Die Gegebenheiten im allgemeinen, und im besonderen, ob der Kurs, den wir eingeschlagen haben, auch wirklich der richtige ist.«

»Habe ich irgend etwas nicht ganz mitbekommen?«

»Könnte schon sein, Blainey. Diese Flucht hier mag uns zwar vertraut vorkommen, unterscheidet sich aber doch erheblich von früheren.«

»Kannst du dich etwas genauer ausdrücken?«

»Eine Frage: Worum hat sich der Großteil unserer Arbeit im letzten Jahrzehnt gedreht?«

»Irgendwelche Wahnsinnigen aufzuhalten, die glaubten, sie allein wüßten, was für die Welt oder für dieses Land das Beste sei.«

»Und welche Mittel hatten sie?«

»Nun, meistens irgendwelche neuartigen Technologien. Waffen hauptsächlich, oder eine Entdeckung, aus der sich eine furchtbare Waffe herstellen ließ.«

»Und solche Leute vernichten wir.«

»Das müssen wir sogar.«

»Und wie sieht es in diesem Fall aus?«

»Hm, da gibt es weder einen Größenwahnsinnigen noch eine todbringende Waffe.«

Johnny wandte den Blick von der Straße ab und sah McCracken an. »Ersteres ist richtig, zweiteres falsch.«

»Spielst du etwa darauf an, daß Josh CLAIR entdeckt hat?«

»Nein, ich meine den Jungen selbst. Aufgrund dessen, wozu er in der Lage ist, müssen wir ihn selbst als die tödliche Waffe ansehen, Blainey.«

McCracken wußte jetzt, worauf Johnny hinauswollte. »Aber er ist doch unschuldig. Und zu unseren Aufgaben gehört es auch, das Leben von Unschuldigen zu schützen.«

»Ist er wirklich so unschuldig?«

»Meinst du damit seine geistigen Fähigkeiten, Indianer?«

»Wir haben nicht einmal eine Vorstellung von seinen Möglichkeiten.«

»Aber das ist doch nicht seine Schuld. Und er hat nicht um das gebeten, was man mit ihm angestellt hat. Genauso wenig wie viele von den anderen, die wir unter Einsatz unseres Lebens gerettet haben. Nicht mehr als …« Blaine schwieg und war noch nicht in der Lage, seine Gedanken zu artikulieren. Er war froh, daß Johnny ihm das Weiterreden ersparte.

»Wenn der Junge schon durch Zufall eine Formel entwickelt hat, hinter der die Gruppe Sechs wie der Teufel her ist, wozu mag er dann erst in der Lage sein, wenn er sich bewußt an eine Aufgabe macht?«

»Du meinst, wenn er in die falschen Hände gerät. Nun, unsere Arbeit besteht eben darin, das zu verhindern.«

»Und wenn wir scheitern, Blainey? Wie weit wird er gehen, wenn man ihn erneut verletzt? Was wird er dann aus dem Wissen machen, das er bereits besitzt? Mittlerweile ist auch seine Seele verwundet.

Harry Lime ist tot, und er ist auch nur knapp mit dem Leben davongekommen. Der Junge wird so, wie wir einmal waren, nur bringt er ein ganz anderes Reaktionspotential mit. Vom Verstand her mag er durchaus schon erwachsen sein, aber seine Emotionen hat er noch lange nicht unter Kontrolle, da ist er noch ziemlich unreif. Und wir dürfen auch nicht vergessen, auf welche Weise er die Bühne betreten hat.«

»Was meinst du damit?«

Wareagle atmete tief ein. »Wir sind in unsere Arbeit hineingewachsen. Der Junge ist dazu geboren worden.«

McCracken gefiel es nicht, diese Vorstellung weiterzuspinnen. Er suchte nach einem Argument, um Johnnys Ansicht zu widerlegen, aber wie üblich waren die Gedanken des Indianers von einer nicht zu erschütternden Logik.

»Er hat in der Passage so viele Menschen umgebracht«, fuhr Wareagle fort, »und das nur, weil er etwas Gutes tun wollte. Wer weiß, was er das nächste Mal beweisen möchte? Es gibt so viele Ziele, Gelegenheiten und Begründungen.«

»Hört sich nach einer harten Nuß an.«

»Die allerhärteste, Blainey.«

Alan Killebrew war in seinem ganzen Leben noch nicht so nervös gewesen. Alle seine Versuche, Susan Lyle zu erreichen, waren fehlgeschlagen, und seine Vorgesetzten im SKZ verloren allmählich die Geduld, weil von ihm immer noch keine Erfolgsmeldung gekommen war.

»Teilen Sie alles, was Sie herausfinden, niemand anderem mit als mir. Wir wissen nicht, wie weit diese Geschichte reicht und wem wir noch trauen dürfen.«

Das waren die Instruktionen, die Susan ihm bei ihrem letzten Zusammentreffen gegeben hatte; und Killebrew nahm sie sehr ernst. Die tödlichste Macht, die die Menschheit je bedroht hatte, lag tiefgefroren im Innern des Mount Jackson. Die Temperatur dort mußte lediglich siebenunddreißig Grad übersteigen, damit sie aktiviert wurde. Er durfte diese Information nicht weitergeben, ehe er nicht mit Susan darüber gesprochen hatte.

Aber wie konnte er jetzt noch mehr Zeit herausschlagen? Wie sollte er zusätzliches Personal aus dem Isolations-Labor auf Ebene Vier und dem gesamten Flügel heraushalten, von dem aus man dorthin gelangte?

Killebrew fiel nur eine Lösung für beide Probleme ein. Er rollte mit seinem Stuhl zur Wand und zielte mit dem Zeigefinger auf einen von den sechs Knöpfen, die mit Ebene Vier verbunden waren. Er drückte ihn hinein und zog dann den Finger so hastig wieder zurück, als sei der Knopf glühend heiß. Sofort begann ein elektronischer Alarm zu heulen. Rote Lämpchen, die in die Decke eingelassen waren, fingen an zu blinken, und eine dumpfe mechanische Stimme verbreitete im ganzen Mount Jackson die Warnung:

»Stufe Rot. Ebene Vier wurde kontaminiert. Alle Notfallregelungen sind ab sofort in Kraft.

Stufe Rot. Ebene Vier wurde kontaminiert …«

Magnetische Verriegelungen versperrten alle Türen, durch die man in diesen Flügel gelangen konnte, und schnitten Killebrew hermetisch vom Rest der Welt ab.

»Wir sind da, Blainey«, verkündete Wareagle am späten Freitagabend. Er saß hinter dem Steuer des Jeep Cherokee , mit dem sie den Großteil der Reise westwärts nach Oklahoma zurückgelegt hatten.

McCracken bemerkte den leisen Unterton in Johnnys Stimme. Nach so langer Zeit nach Hause zurückzukehren machte ihn wohl genauso nervös wie jeden anderen auch.

Die Sioux hatten sich auf etlichen Hektar in den wogenden Hügeln und Ebenen dieser Gegend ausgebreitet und eine Gemeinschaft aufgebaut, die sich selbst versorgen konnte. Der Stamm hatte sich unbeirrbar an die alten Traditionen und an seinen Stolz festgeklammert und litt deshalb nicht an den beschämenden Stereotypen, die man aus anderen Reservaten kannte. Blaine entdeckte, daß sie dennoch ein Zugeständnis an die modernen Zeiten gemacht hatten: Ihre Unterkünfte waren keine Zelte mehr, sondern Hütten. Sie säumten die Straße, die durch das Zentrum des Reservats führte, das dank der Beleuchtung auch in der Nacht von weitem auszumachen war. Hier gab es weder Läden noch Handelsposten der Weißen, und die von der Regierung unterstützte Versorgungsstelle war längst dichtgemacht und stellte nur noch ein Relikt aus alter Zeit dar.

Traditionelle Tipis erhoben sich fast neben jeder Hütte. Gelegentlich sah man auch eine Kochstelle, bei der es sich in der Regel lediglich um einen Grillständer über einem Lagerfeuer handelte.

McCracken rechnete, daß dieses Dorf etwa fünfhundert Menschen aufnehmen konnte, wohl vor allem solche, die die Aussicht anlockte, wie in alten Zeiten zu leben.

Johnny stoppte den Jeep vor einem Tipi, das McCracken das größte am Ort zu sein schien. Ein alter Mann, dessen Gesichtshaut fast so verbrannt aussah wie die Erde hier, stand vor dem Zelteingang und lächelte leise. Der Staub auf seiner Kleidung ließ darauf schließen, daß er schon länger dort stand.

Wareagle sprang aus dem Jeep und warf Blaine einen Blick zu. McCracken nickte und stieg ebenfalls aus, folgte dem Freund aber nicht, als er auf den alten Mann zuging.

»Ich habe dich früher erwartet, Wanblee-Isnala«, grüßte Johnnys spiritueller Vater, Häuptling Silver Cloud. »Ich hoffe, du hast Regen mitgebracht.«

»Tagsüber haben wir weiter im Osten ein paar dicke Wolken gesehen«, antwortete Johnny. »Aber danach nicht mehr.«

»Selbst wenn die Wolken dir gefolgt wären, wären sie vermutlich an uns vorbeigezogen. Der Frühling war zu naß, der Sommer zu trocken. Unsere Geister schaffen es nicht mehr. Ich bin froh, daß du hier bist.«

»Mir blieb keine andere Wahl.«

»Ein Heim ist nicht der Ort, bei dem man einen Grund braucht, um zu ihm zurückzukehren.«

»Du hast mich nicht richtig verstanden.«

»Ich glaube doch.«

»Es gibt ziemliche Schwierigkeiten.«

»Das war mir schon klar, als du mir dein Kommen angekündigt hast, Wanblee-Isnala. Und da sind andere, die deinem Pfad folgen. Ich habe sie auch gesehen. Ihre Seelen waren bleich. Ich kenne sie. Nicht sie, aber andere, die wie sie waren.«

Johnny warf einen Blick zurück zu McCracken, der am Jeep stand. »Krieger?« fragte er den Häuptling.

»Die Vision war nicht klar genug, um das eindeutig erkennen zu können. Aber manche Vermutungen liegen näher als andere.«

»Es tut mir leid, euch das alles antun zu müssen.«

»Was tust du uns an? Das gleiche, was wir dir so oft angetan haben? Ich freue mich, dich hier zu sehen, Wanblee-Isnala. Du hast viele Kämpfe für uns ausgetragen. Nun bekommen wir vielleicht die Chance, an deiner Seite zu stehen und …« Er hielt inne, seine alten Augen blickten auf McCracken. »Ist dies dort das Bleichgesicht, von dem du so oft erzählt hast?«

»Ja, er ist es.«

Silver Cloud lächelte. »Es kommt mir so vor, als wären wir alte Bekannte. Er ist hier willkommen.«

»Ich habe noch zwei weitere mitgebracht, eine Frau und einen Jungen.«

»Die Geister haben mir auch ihr Erscheinen angekündigt.« Er sah Wareagle plötzlich ernst an: »Der Junge macht mir Sorgen, Wanblee-Isnala.«

»Mir auch.«

»Seine Aura ist nicht eindeutig und schwer zu lesen. Licht und Dunkel vermischen sich bei ihm und sind eins geworden, statt einander zu bekämpfen. Du weißt, was das bedeutet.«

Johnny nickte. »Er ist in der Lage, Böses zu tun, ohne das zu beabsichtigen.«

»Da ist noch mehr. Ein Abgrund in seiner Seele, in den sich das Wesen seiner Aura zurückgezogen hat. Dieser Abgrund ist tief, Wanblee-Isnala. Und so breit, daß der Rest seines Wesens ebenfalls dort hineinstürzen kann, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Der Verlust aller Hoffnung.«

»Eine schlimme Sache für jemanden mit einer so gemischten Aura. Sein Wesen sitzt am Rand des Abgrunds. Sollte es hinabrutschen, gibt es keine Möglichkeit, es wieder herauszuholen.«

»Kann man ihn noch retten?«

Der alte Häuptling schien darauf zunächst keine Antwort zu haben, doch plötzlich zeigte sich ein Leuchten in seinen Augen. »In der Vision, die mir dein Kommen anzeigte, sah ich ihn als schwarzen Sperling. Du weißt doch noch, was dieses Symbol bedeutet, oder?«

»In einigen unserer alten Mythen gilt dieser Vogel als derjenige, der die Seele eines Mannes zu seiner letzten Ruhestätte trägt.«

»Und was bedeutet das Omen des Sperlingsnestes?«

»Es ist ein Warnzeichen, weil es schlimme Dinge mit sich bringt. Die Umwandlung der Ordnung in Chaos, vielleicht den Tod.«

»Wo hat dieser Junge sein Nest gebaut, Wanblee-Isnala?«

Als Johnny ihm keine Antwort geben konnte, drehte Silver Cloud sich zu dem Tipi um. »Will Darkfeather, unser Medizinmann, wartet drinnen. Ich habe ihm gesagt, daß du kommen würdest.«

»Was sagen Sie da, Doktor?« rief Fuchs und sprang von seinem Stuhl.

Haslanger, der an seinem Schreibtisch stand, hob den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Daß die Formel auf dem Chip aus dem Fax-Gerät nicht die des CLAIR-Organismus ist, den der Junge in Cambridge freigesetzt hat.«

»Soll das heißen, er hat uns schon wieder hereingelegt?«

»Das glaube ich eigentlich nicht. Er hat die Formel zu seinem eigenen Vorteil und nicht unseretwegen in Harry Limes Wohnung gefaxt. Warum hätte er da etwas zurückhalten sollen? Und wenn die Formel nicht vollständig war, warum hat er sie dann nicht schon früher weitergegeben?«

»Und was bedeutet das für uns?«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Sie sind der Ansicht, daß es zur Zeit für uns keine Möglichkeit gibt, CLAIR neu zu schaffen?«

»Das habe ich nie gesagt. Verstehen Sie, es gibt zwei gleichermaßen wichtige Stufen bei der Entstehung eines solchen Organismus. Die erste betrifft seine Konstruktion. In der zweiten geht es darum, ein Agens zu erschaffen, für gewöhnlich ein Enzym, das den Organismus dazu bewegt, sich zu teilen oder sich sonstwie zu reproduzieren. Vergessen Sie nicht, daß wir nach all der Konstruktion, Atom um Atom, immer noch nur eine einzelne Zelle haben. Doch dank des Aktivierungsagens werden aus der Zelle dann zwei, aus denen vier, dann acht und so weiter. Die Formel nun, die der Junge uns gegeben hat, identifiziert dieses Aktivierungsagens.«

»Ich begreife noch nicht ganz, was das …«

»Die letzten Worte, die Joshua von sich gegeben hat, ehe McCracken ungebeten auf den Plan trat, lauteten, daß er über eine weitere CLAIR-Probe verfüge, die er offenbar irgendwo versteckt hat. Wenn es uns gelingt, diese Probe in unseren Besitz zu bringen, könnten wir mit dem Aktivierungsagens eine polymere Kettenreaktion auslösen, die uns mit einem geradezu unerschöpflichen Vorrat versorgen würde.«

»Joshua Wolfe ist in Orlando gesehen worden. Unsere Leute haben sein Hotelzimmer durchsucht – und weder ein Fläschchen noch ein Reagenzglas noch sonstwas gefunden.«

»Die Suche wurde allerdings abgebrochen, als wir erfuhren, daß er sich im Hyatt aufhielt. Wo mag er sich noch aufgehalten haben? Das müssen wir herausfinden, dann finden wir auch die Probe.«

Fuchs drückte auf den Gegensprechknopf seiner Telefonanlage. »Schicken Sie bitte Mr. Sinclair herein.«