Kapitel
37

»Wir haben jede seiner Bewegungen überwacht«, fuhr Thurman fort. Er schien stolz auf seine Tat zu sein und wollte, daß McCracken alles darüber erfuhr. »Und wir haben uns seine Forschungen gründlich angesehen. Unsere Wissenschaftler sind dann darauf gestoßen, wie einfach es ist, CLAIR in einen Killer zu verwandeln. Soweit ich weiß, muß die Formel dafür nur ein bißchen verändert werden – so wenig, daß man es kaum bemerkt.«

»Der fette Mann und Sie sind wirklich aus demselben Holz geschnitzt.«

»Hören Sie, wir hatten keine Ahnung, daß Joshua CLAIR im Einkaufszentrum testen wollte.«

Die Flammen brannten immer noch, und ihr Ring zog sich immer enger um die beiden Männer zusammen. Doch keiner von beiden schien es zu bemerken.

»Aber Sie haben ihn auch nicht aufgehalten«, beschuldigte McCracken ihn.

»Unsere Männer haben ihn in dem Einkaufszentrum verloren. Und sie waren immer noch im Gebäude, als …«

»Also war auch niemand da, der ihm folgen konnte, als er davongelaufen ist. Dabei brauchten Sie ihn dringend, um für Sie die Formel zu reproduzieren.«

»Und wer wäre besser in der Lage gewesen, ihn für uns zu finden, als Blaine McCracken.«

»Deswegen brauchten Sie Harry Lime. Mir ist nicht der geringste Verdacht gekommen, dabei hätte ich es mir von Anfang an denken können …« Blaine schwieg für einen Moment. Alles paßte jetzt zusammen. »Ich glaube, Sie können sich glücklich schätzen, daß der Junge entkommen konnte. Sonst wären Sie wohl längst erledigt worden. Sie waren für den fetten Mann nicht länger nützlich, bis Joshua dann verschwand, und er sich wieder an Sie wenden mußte.«

»Der Mistkerl hat mir von Ihnen und Marokow erzählt. Er ließ mich das Ganze inszenieren.«

»Sie haben sich zum Idioten machen lassen, wie immer.«

Thurman verzog das Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse. »Ich denke, ich werde ihn dieses Mal überraschen.«

»Dazu sind Sie nicht der richtige Mann, mein Lieber. Crum verspeist so was wie Sie zum Frühstück, vielleicht sogar buchstäblich. Überlassen Sie ihn lieber mir.«

Aus der Freitagnacht war Samstagmorgen geworden, als Erich Haslanger endlich die Computeranalysen der Verbindung abschließen konnte, die Joshua in den Labors von Gruppe Sechs hergestellt hatte. Er hatte schnell festgestellt, daß die Substanz als solche ebenso harmlos wie unidentifizierbar war. Daraus ließ sich ableiten, daß es sich bei der Verbindung um einen Aktivator handeln mußte, den der Junge mit seiner ursprünglichen CLAIR-Formel zu mixen beabsichtigte. Aber wenn er ihn nicht dazu gebrauchen wollte, die Formel wieder herzustellen, wozu denn dann?

Selbst die Haslanger zur Verfügung stehenden Supercomputer, die in einer Sekunde eine Million Befehle verarbeiten konnten, brauchten für die Diagnose einige Zeit. Schließlich stand ihnen kaum Material zur Verfügung, auf dem sie aufbauen konnten, und auch analytische Proben waren nicht vorhanden. Es gab nur zwei Formeln, von denen keine vollständig war. Haslanger zwang sich zur Geduld. Er wußte, was es bedeutete, darauf zu warten, daß eine Nacht zu Ende ging und der Morgen kam, um ihn davon abzuhalten, in einen Schlaf zu fallen, aus dem er nie mehr erwachen würde.

Denn dann würden die Geister ihn bedrängen.

In den Träumen war alles noch schlimmer als in der Wirklichkeit; denn in der Traumwelt waren die Subjekte groß geworden und nicht mehr nur angelieferte Bündel von verformten Körpern und totem Fleisch oder von unidentifizierbaren Haufen, denen es irgendwie gelungen war, so lange am Leben zu bleiben, bis er ihr kurzes Dasein gnädig beendete.

In seinen Träumen sah er diese Kreaturen als ausgewachsene Wesen, deren zusätzliche oder fehlende Gliedmaßen, deren Verunstaltungen und Mutationen grotesk übersteigert waren.

Sie streckten ihre verwachsenen Hände nach ihm aus und hielten ihn in ihrer Traumwelt fest. Als er es vor Jahren zum letzten Mal gewagt hatte einzuschlafen, waren sie ihm gefährlich nahe gekommen. Beim nächsten Mal würden sie ihn bestimmt erwischen, und dann würde er bis in alle Ewigkeit ihr Gefangener bleiben – um nie wieder zu erwachen.

Letzte Nacht wäre er beinahe eingenickt. Er spürte, wie er wegdämmerte. Der Schein der Computermonitore war das einzige Licht im Raum, und die Tabletten wirkten noch nicht. Er konnte sich erst im letzten Moment wachreißen, als er sich schon auf dem Weg hinab in die Dunkelheit befunden hatte. Haslanger war davon überzeugt, Kratzer und andere Male auf seinem Körper zu haben – an den Stellen, an denen die Geister versucht hatten, ihn in ihr Reich hinabzuziehen.

Er war so entsetzt gewesen, daß er für einige Zeit nicht zu Atem gekommen war und sein Herz wie verrückt geschlagen hatte.

Jetzt, am Samstagvormittag, hörte er eine Signalfolge, die anzeigte, daß der Computer das Programm abgeschlossen hatte. Er konzentrierte seinen Blick auf den Bildschirm und las die endgültigen Ergebnisse ab. Eine beißende Furcht, schlimmer noch als die, die sein gerade noch gestopptes Abgleiten in den Schlaf ausgelöst hatte, durchfuhr ihn. Haslanger ging die Programmfolge durch und hoffte, daß sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen hatte.

Aber das Programm war einwandfrei gelaufen. Haslanger checkte alles ein weiteres Mal. Und ein drittes Mal.

Danach sprang er so abrupt auf, daß sein Schreibtischstuhl umstürzte.

Haslanger stürmte aus dem Büro. Der Flur war so hell beleuchtet, daß es ihm in den Augen weh tat. Er warf einen Blick auf seine Uhr und stellte fest, daß er die Nacht hinter sich gebracht hatte und es auf Mittag anging. Aber die Leere im Korridor vermittelte ihm das Gefühl, eingeschlafen und in sein ewiges Gefängnis gelangt zu sein. Die Geister rotteten sich sicher schon zusammen und würden jeden Moment aus einer Tür treten.

Doch dann hörte er hinter der nächsten Biegung Schritte und Stimmen. Ein paar Arbeiter grüßten ihn, aber er rannte nur immer schneller und erreichte schließlich atemlos das Büro von Colonel Fuchs.

»Die Geister waren uns freundlich gesonnen, Blainey«, sagte Wareagle, als sie bewacht und gedeckt von den verbliebenen Sioux-Kriegern durch das Tal der Toten zurückkehrten.

»Dein Volk hat heute ein paar gute Männer verloren, Indianer«, entgegnete McCracken in entschuldigendem Ton.

»Der Häuptling hat das in seiner Vision vorausgesehen, Blainey. Er wird über die Verluste genauso traurig sein wie wir. Traurig, aber nicht überrascht.«

Als sie das Dorf erreichten, erwarteten sie, dort Silver Cloud mit seinem wissenden Halblächeln auf den Lippen anzutreffen. Der alte Mann stand tatsächlich da, aber er lächelte nicht, und er war auch nicht allein.

Sam Belamo stand neben ihm, sein staubbedeckter Wagen war am Straßenrand abgestellt.

»Wir haben ein ziemliches Problem, Boß.«

»Wir waren bereits eine Stunde unterwegs«, erklärte Belamo mit glasigen Augen, »und ich hielt an einer Raststätte an, um etwas zu essen zu besorgen. Ich habe den Wagen die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Der Junge saß die ganze Zeit über auf seinem Sitz, bis ich vor der Kasse stand und bezahlte. Ich ging zum Wagen zurück, öffnete die Tür und wachte erst zwei Stunden später wieder auf.«

»GL-12.«

»Hä?«

»Ein Schlafgas, das Gruppe Sechs entwickelt hat. Joshua muß etwas davon herausgeschmuggelt haben. Das hat dich umgehauen, Sal. Er hat das Gas im Wagen ausströmen lassen und ist abgehauen, bevor du zurück warst.«

»Scheiße! Aber warum, Boß? Ich meine, wir stehen doch auf seiner Seite, oder? Was hat der Bengel bloß vor?«

»Das weiß ich nicht, Sal.«

»Aber ich«, sagte Susan Lyle, die langsam aus dem Wagen stieg.

»Was sagen Sie da?« entfuhr es Fuchs.

Haslanger lief ungeduldig in dem Büro auf und ab. Sein Gesicht war krebsrot. »Wärme. Es hat alles mit Wärme zu tun.«

»Was hat etwas mit Wärme zu tun?«

»Joshua Wolfes Original-Formel für CLAIR. Er hat sie darauf programmiert, temperaturempfindlich zu sein – damit sie unterhalb einer bestimmten Minimaltemperatur nicht mehr existieren kann.«

»Das sagten Sie bereits.«

Haslanger blieb unvermittelt stehen.

»Er kann sie herausnehmen.«

»Was kann er herausnehmen?«

»Die Temperaturempfindlichkeit, den Defensivmechanismus. Und zwar mit der Substanz, die Joshua in unseren Labors erzeugt hat. Wir haben gedacht, daß er an dem Problem des Organismus arbeitet, Sauerstoff-Stickstoff-Verbindungen zu erkennen … na ja, daß er die Programmierung spezifizieren wollte, damit CLAIR nur noch die entsprechenden Moleküle in vergifteter Luft angreift und die im menschlichen Blut ignoriert.«

»Aber das hat er wohl nicht getan.«

»Nein. Aufgrund der ursprünglichen Programmierung hätte CLAIR eigentlich beim Eintritt in einen menschlichen Körper sterben müssen. Der Junge hat darüber nachgedacht und die Theorie entwickelt, daß bestimmte Aminosäuren in den äußeren Hautschichten die Temperaturempfindlichkeit neutralisiert haben – und damit lag er richtig. Die Substanz, die er in unseren Einrichtungen entwickelt hat, ist dazu gedacht, diese Aminosäuren auf einem extrem konzentrierten Level zu synthetisieren. Sobald man die Substanz mit dem ursprünglichen CLAIR mischt, wird der Defensivmechanismus ausgeschaltet, der damals in Cambridge den Organismus daran gehindert hat, sich über die Einkaufspassage hinaus zu verbreiten.«

»Wollen Sie damit etwa sagen …«

»Wenn Joshua die neue Substanz und CLAIR miteinander verbindet und den daraus entstandenen neuen Organismus freisetzt, kann nichts mehr ihn aufhalten – dann breitet er sich ungehemmt aus.«

Fuchs erhob sich langsam von seinem Schreibtisch. »Und in diesem Fall …«

»… könnte Joshua Wolfe die gesamte Menschheit auslöschen«, beendete Haslanger den Satz.

»Alles menschliche und auch alles tierische Leben?« entfuhr es McCracken, der nicht glauben konnte, was Susan Lyle ihm da gerade erklärte.

Susan nickte. »Das hat er mir gestern nacht alles erzählt, aber da war mir noch nicht klar, daß er damit Ernst machen könnte, daß er den modifizierten Organismus wirklich freisetzen will! Anscheinend hat es für ihn damit eine ganz besondere Bewandtnis …«

»Welche?«

»Die ›Feuer der Mitternacht‹. Das ist der Titel des ersten Gedichtes, das er je geschrieben hat. Es drückt seine Frustration darüber aus, so anders als alle anderen zu sein und nirgendwo richtig dazuzugehören. Schon damals hatte sich eine mächtige Wut in ihm zusammengeballt – und die scheint nun überzukochen.

Joshua hat es satt. Er will jetzt nur noch dafür sorgen, daß ihn alle anderen in Ruhe lassen.«

»Indem er damit droht, die ganze Menschheit zu vernichten …«

»Er glaubt, das sei die einzige Möglichkeit, sich all die Gruppen Sechs dieser Welt vom Hals zu schaffen. Mittlerweile ist ihm alles egal … Er hat das Desaster in der Einkaufspassage in Cambridge nicht verkraftet, und daraus ist mittlerweile eine totale Antihaltung erwachsen …«

»Aber ist ist gar nicht dafür verantwortlich.«

»Wie bitte?«

»Eine Splittergruppe der CIA, die ihn die ganze Zeit überwacht hat, hat an seiner Formel herumgepfuscht. Sie sind die wahren Mörder.«

»Aber das weiß Joshua nicht, oder?«

»Nein, wir müssen es ihm sagen. Wenn das, was Sie gerade erzählt haben, stimmt, muß er irgendwo ein zweites Fläschchen mit Original-CLAIR versteckt haben, richtig?«

Susan nickte langsam.

»Disney World, Doktor.«

»Wie?« Haslanger hatte Mühe, sich aus der Stumpfheit zu befreien, die ihn befallen hatte, nachdem er sein Büro wieder betreten hatte. Er hatte die Lichter ausgelassen, so als wollte er den Schlaf herausfordern, ihn endlich zu holen. Dieses Schicksal erschien ihm immer noch erstrebenswerter als das, was Joshua Wolfe über die Menschheit bringen wollte.

Er fühlte sich besiegt und kam sich wie ein Trottel vor. Die ganze Zeit über hatten Fuchs und er versucht, den Jungen zu täuschen und ihn für sie arbeiten zu lassen; dabei hatte Joshua von Anfang an sie hinters Licht geführt. Und Haslanger war in seinem Stolz auf das, was er geschaffen hatte, darauf hereingefallen.

Haslanger wußte, daß er erledigt war; und auch, daß es für ihn keinen Ort mehr gab, an den er noch gehen konnte.

»Die Männer, die Sinclair in Orlando eingesetzt hat, haben gemeldet, daß Joshua Wolfe sich im Magic Kingdom in Disney World aufgehalten hat, bevor er von seinem Hotel aus in unsere Datenbanken eingedrungen ist«, fuhr Colonel Fuchs nach einem Moment fort.

»Und dort befindet sich der Rest von CLAIR.«

»Ein interessantes Versteck, finden Sie nicht? Trotz allem dürfen wir jetzt wieder etwas Hoffnung schöpfen.«

»Hoffnung?«

»Ihre Entdeckung dessen, wozu der Junge fähig ist, ändert nichts daran, daß die Gruppe Sechs um jeden Preis erhalten werden muß. Und dazu ist es unabdingbar, das restliche CLAIR zu finden. Ich werde sofort General Starr Bescheid geben. Sicher wird er uns die erforderliche Anzahl von Männern zur Verfügung stellen.«

»Sie werden es niemals finden.«

Fuchs sah ihn im Halbdunkel befremdlich an. »Ich habe auch gar nicht vor, CLAIR zu finden. Ich habe vielmehr vor, den Jungen zu finden und uns von ihm zu dem Organismus führen zu lassen. Ich meine, Doktor, dank Ihnen wissen wir jetzt genau, was der Bengel vorhat. Alles was wir tun müssen, ist warten.«

»McCracken wird ihn sicher begleiten … oder ihm dichtauf folgen.«

»Großartig. Dann nehmen wir genug Schützen mit, um auch noch ihn ein für allemal auszuschalten, nicht wahr?«

»Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt?« wollte McCracken wissen.

»Weil ich befürchtete, damit alle Ängste und Sorgen zu bestätigen, die Joshua bereits bei Ihnen ausgelöst hat. Und wovon Ihr indianischer Freund überzeugt ist.«

»Aber der Junge hat doch gar nichts getan. So viel steht ja jetzt fest.«

»Damals wußten Sie das aber noch nicht. Wenn ich Ihnen gesagt hätte, daß er noch ein zweites Fläschchen besitzt und was er damit vorhat …«

»Was dann?«

»Ich hatte Angst, Sie würden ihn dann umbringen.«

»Für was für ein Scheusal halten Sie mich eigentlich?«

»Für jemanden, der glaubt, immer das Richtige zu tun.«

»Unschuldige zu töten ist niemals richtig.«

»Aber bis heute morgen wußten Sie nicht, daß Joshua unschuldig ist. Und alle waren sie wegen der schlimmen Dinge hinter ihm her, die man ihm unterstellt hat. Sie und Ihre Leute von der einen Seite und die Gruppe Sechs von der anderen. Doch wie steht es mit den schönen und wunderbaren Dingen, zu denen er auch in der Lage ist?«

»Sie meinen, wenn er auf Ihrer Seite steht und nicht mehr für Gruppe Sechs arbeiten muß?«

»Unter anderem.« Susan senkte den Blick.

»Und wenn Sie von ihm bekommen haben, was Sie wollen, taucht ein anderer auf und fordert sein Recht, nicht wahr? Das Problem heißt doch, daß wir früher oder später wieder dort stehen, wo wir angefangen haben: bei der Gruppe Sechs oder einer anderen Truppe, die Joshua so oder noch schlimmer mißbrauchen will.«

»Wir alle wollen doch etwas von ihm«, erwiderte sie leise. »Sogar Sie.«

»Im Moment will ich den Jungen nur daran hindern, zwei Reagenzgläser zusammenzuschütten. Und ihn wissen lassen, daß er nicht an dem Tod all der Menschen in Cambridge schuld ist.«

»Und wie wollen Sie das erreichen?«

McCracken zuckte die Achseln. »Tja, Dr. Lyle, es schadet bestimmt nicht, wenn wir uns erst einmal nach Disney World begeben.«

»Bedauerlich, Mr. Thurman, höchst bedauerlich«, jammerte Livingstone Crum, als der Agent ihn über sein Handy aus dem Tal der Toten anrief.

»Blasen Sie alles ab. Die Sache ist gelaufen.«

»Und das haben wir zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Ihnen zu verdanken.«

»Wir können die Schuldfrage später noch klären. Jetzt ist es erst einmal wichtiger, alles abzubrechen. Das bezieht auch Mount Jackson mit ein. Stellen Sie die Operation ein, und rufen Sie das Team zurück.«

»Ich fürchte, dafür ist es leider schon etwas zu spät.«