Kapitel
23

»Doktor?« hakte Joshua Wolfe noch einmal nach.

»Wie bitte?«

»Sie wollten etwas sagen …«

Haslanger hatte vergessen, was er sagen wollte, und versuchte den roten Faden wiederzufinden. Seit nunmehr zwanzig Minuten führte er Joshua Wolfe durch die Laboreinrichtungen von Gruppe Sechs. Dem Jungen mußte nur selten etwas erklärt werden. Er erkannte und verstand von sich aus auf den ersten Blick, was er zu sehen bekam, äußerte sich oft selbst dazu und sah Haslanger nur an, um von ihm eine Bestätigung zu erhalten.

Anscheinend konnte er sich noch genau an alles erinnern, was er bei seinem kurzen Einblick in die Datenspeicher von Gruppe Sechs gesehen hatte. Haslanger brauchte lediglich Informationslücken zu füllen oder auf Zusammenhänge zwischen bestimmten Projekten und gewissen Forschungsarbeiten hinzuweisen.

Ja, da hatte ihr Gespräch geendet, entsann sich Haslanger. Er hatte die Vorzüge von Gruppe Sechs gepriesen und eine langsame Indoktrination des Jungen begonnen, um ihn dazu zu bringen, die Bedeutsamkeit der hier betriebenen Forschungen anzuerkennen.

»Ich wollte den Punkt klarstellen«, fuhr Haslanger fort, »daß weite Bereiche unserer Tätigkeit, auch wenn ein Großteil der Informationen, die Sie in den Datenbanken gefunden haben, vielleicht einen anderen Eindruck erwecken, sich mit der Entwicklung nichttödlicher Kriegswaffen befassen.«

Skeptisch drehte sich der Junge um. »Für mich klingt das wie ein Widerspruch in sich.«

»Das scheint so, weil Gruppe Sechs darauf hinwirkt, die Grundlagen der Kriegsführung gänzlich neu zu definieren. Was mich betrifft, ich bin sogar der Auffassung, sie haben sich längst gewandelt, und wir vollziehen nur eine nachträgliche Anpassung. Ich will Ihnen zeigen, was ich meine.«

Gemeinsam setzten sie den Weg durch das ausgedehnte, weitläufige Laboratorium fort. An einem langen, schwarzen Tisch blieb Haslanger stehen und reichte Joshua Wolfe ein Stück silberglänzenden Materials.

»Wie fühlt sich das nach Ihrem Empfinden an?«

Der Junge befühlte es mit den Händen. »Schwer zu sagen. Wie Alufolie, würde ich sagen. Nur knittert es nicht.«

»Sie sind dicht dran«, lobte Haslanger. »Das Material, das Sie da in der Hand halten, bildet eine Umhüllung mit dem Zweck, ein feindliches Fahrzeug vollständig zu immobilisieren, sogar einen Panzer. Die Substanz schmiegt sich an die Umrisse des Zielobjekts und bleibt haften, und damit ist das Fahrzeug, oder was auch immer, sofort bewegungsunfähig.«

Als Haslanger verstummte, nahm Josh von einem Stapel Papier eine große Metallklammer und umwickelte sie mit dem folienähnlichen Material. Genau wie Haslanger gesagt hatte, ließ es sich anschließend nicht mehr ablösen.

»Diese Substanz kann auf verschiedenerlei Weise verschlossen werden«, erläuterte der Greis. »Die Geschwindigkeit, die nach Verlassen des Laufs erreicht wird, liefert die Kraft, die sie braucht, um sich auszubreiten und sich um das Zielobjekt zu legen. Eine Nebenform dieses Stoffes haben wir dazu benutzt, ein neuartiges Netz zu konstruieren, das sich über größere Zusammenrottungen von Unruhestiftern werfen läßt. Damit werden die Leute dort festgehalten, wo sie sich gerade befinden, erleiden aber buchstäblich keinen körperlichen Schaden.«

Haslanger erkannte, daß der Junge ihm inzwischen sehr aufmerksam zuhörte, und genoß die Situation. Mehr als alles andere ersehnte er Joshua Wolfes Beifall, wünschte er von dem Jungen anerkannt, als Ebenbürtiger akzeptiert zu werden.

»Der Sinn solcher Erfindungen liegt darin«, versicherte Haslanger, »daß die Vereinigten Staaten sich nicht mehr gezwungen sehen, ihr volles Militärpotential zu aktivieren, wenn es irgendwo einen Putschisten oder eine aufmüpfige Regierung in die Schranken zu verweisen gilt. Im allgemeinen stellt das Terrain uns vor zu große Schwierigkeiten, und Abschreckungswaffen sind viel zu verbreitet und zu kompliziert. Deshalb müssen die Prinzipien der Kriegsführung umgeschrieben werden. Die Projekte, an denen wir – in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung – ständig arbeiten, gehen wahrhaftig in die Hunderte. Manche beschäftigen sich mit tiefgreifenden Veränderungen der sensorischen Erfassung von Licht, Geruch oder Geräuschen. Andere sind chemischer oder organischer Natur, beispielsweise entwickeln wir Mikroben, die Schläuche, Keilriemen und Isolationsmaterial auffressen.«

»Aber Sie sind nicht immer erfolgreich«, bemerkte Joshua Wolfe unvermittelt. »Die Dateien, die ich gesehen habe, enthielten in dieser Hinsicht ziemlich detaillierte Angaben. Einige Ihrer Experimente sind nicht wie geplant verlaufen. Zum Beispiel GL-12.«

Die Schlafgas-Pleite, erinnerte Haslanger sich mit kaltem Grausen.

»Sämtliche Einwohner einer Ortschaft sind letztendlich durch dieses Mittel ums Leben gekommen, wenn ich richtig informiert bin. Können Sie mir von GL-12 eine Probe beschaffen?«

Mißmutig nickte Haslanger.

»Ich glaube, ich kann es für Sie stabilisieren. Nach allem, was ich gesehen habe, steckt dort der Fehler. Und diese Woche, erst gestern, glaube ich, gab es noch einen Vorfall … Die Daten sind etwas rätselhaft, aber auf alle Fälle ist klar, daß Ihre Blendwaffe noch erheblich überarbeitet werden muß.«

Unwillkürlich fragte sich Haslanger, ob der Junge ihn zum Narren hielt. Schließlich enthielten die Datenbanken nichts über das verheerende Resultat des letzten Versuchs. Das konnte nur bedeuten, daß Wolfe, so wie im Fall GL-12, allein durch Analyse des vorhandenen Datenmaterials den Rückschluß gezogen hatte, daß etwas schiefgegangen sein mußte. Haslanger bemühte sich sehr, sich nichts von seinen Gedanken und Gefühlen anmerken zu lassen. Er ersparte sich die Mühe, Joshua Wolfes Schlußfolgerungen abzustreiten. Statt dessen verlegte er sich angesichts des peinlichen Themas auf eine andere Argumentation.

»In der Wissenschaft, junger Mann, gehen das Entdecken und der Fortschritt oft nur unter heftigen Geburtswehen voran. Sie sind nur um einen Preis zu erlangen, den wir als Forscher zu zahlen bereit sein müssen. Wir testen und analysieren, aber das einzig wahre, wirklich verläßliche Testgelände ist die Realität. Fehlschläge schließen den Erfolg keineswegs aus, er wird nur aufgeschoben. Wir müssen mit Fehlschlägen leben und den manchmal hohen Preis, der uns abgefordert wird, als normalen Begleiter auf dem Wege zu neuen Entdeckungen verstehen.«

»Aber alles, womit Sie sich hier abgeben, hat mit Krieg zu tun, nicht mit Wissenschaft.«

»Ich ziehe die Auslegung vor, daß unser Wirken auf das Überleben abzielt. Wie denken Sie über die Abschreckungsstrategie, junger Mann?«

»Sie hat einen dritten Weltkrieg verhindert.«

»Warum?«

»Weil beide Supermächte befürchteten, durch die gewaltigen Atomwaffenarsenale der Gegenseite vollkommen vernichtet zu werden.«

Haslanger nickte. »Tja, und genau diese Atomwaffenarsenale sind heute wegen ihrer Overkillkapazität ineffizient geworden. Tausend Atomsprengköpfe sind ein unpraktisches Mittel gegen einen Staat, eine Terroristengruppe oder einen Irren mit einer einzigen Atomwaffe. Ich vermute, daß um die Jahrtausendwende Dutzende von Ländern über Nuklearwaffen verfügen werden – entweder zum eigenen Gebrauch oder um damit auf dem Waffenmarkt Handel zu treiben.«

»Dagegen können aber Laser, Schlafgas und Metallfolie auch nicht viel ausrichten.«

»Genau meine Meinung. Wir brauchen etwas anderes, etwas … Neues.«

Der Gesichtsausdruck des Jungen änderte sich; er wirkte plötzlich unsicher. »CLAIR sollte keine Menschen töten, sondern sie vor einer Gefahr schützen.«

»Und was ist bei der einzigen Anwendung geschehen?« hielt Haslanger, die Gelegenheit nutzend, ihm vor.

»Das wissen Sie doch genausogut wie ich.«

»Und soll das alles umsonst gewesen sein? Für nichts? Wollen Sie sich damit abfinden?«

»Haben Sie sich mit dem Tod der vielen Menschen in der bosnischen Ortschaft abgefunden?«

»Mein Versuch hatte zum Ziel, sie zu schützen, junger Mann.« Für einen kurzen Augenblick schwieg Haslanger. »So wie Sie die Absicht hatten, die Leute in dem Einkaufszentrum vor der Umweltverschmutzung zu schützen.«

Haslanger verstummte. Weiter wollte er nicht gehen. Die Wahrheit lautete, daß die Kenntnisse des Jungen auf dem Gebiet der Nanotechnologie und seine Erarbeitung der ersten wirklich funktionierenden organischen Maschine eine Tragweite erreicht hatten, die wesentlich über CLAIR hinausging. Eine völlig neue Generation von Waffen, die Mittel zur weltweiten Hegemonie und Einflußnahme, zeichneten sich am Horizont ab.

Das Potential war unbegrenzt. CLAIR verkörperte, als ein Zufallsprodukt, nur den Anfang. Doch was Joshua Wolfe während kommender Jahre in Gruppe-Sechs-Laboratorien leisten könnte …

»Aber es hat sie nicht geschützt«, sagte der Junge plötzlich. »Es hat sie umgebracht.«

Haslanger verlieh seiner Stimme den bislang strengsten Tonfall. »Für mich zählen die Absichten und ausschließlich die letztendlichen Ergebnisse, die aus den Absichten resultieren. Alles andere kann man als überflüssige Beiläufigkeiten und Nebensächlichkeiten bewerten, über die nachzugrübeln der Durchschnittsmensch sein Leben vergeudet.

Der Außergewöhnliche verschreibt sich ganz dem Großen, das er erstrebt. Ihm ist alles einerlei außer dem, was er will und was er zum Schluß erreicht. Andernfalls geht man nämlich das Risiko ein« – den letzten Satz fügte er hinzu, obwohl er wußte, daß er damit zuviel von sich selbst preisgab – »sein Leben lang von Geistern verfolgt zu werden.«

Josh erinnerte sich an den Traum, den er auf dem Flug von Philadelphia nach Miami gehabt hatte, in dem CLAIR alle Passagiere getötet hatte und er das tatenlos hatte mitansehen müssen.

»Welches sind Ihre Geister?« fragte er Haslanger.

»Verraten Sie mir, was Sie glauben.«

»Sie haben einen deutschen Akzent und sind wahrscheinlich über siebzig, also denke ich mir, daß Sie schon für die Nazis tätig gewesen sind.«

»Sehr gut überlegt, aber damit haben meine Geister wenig zu tun, junger Mann. Sie sind erst später gekommen, weil niemand dazu imstande gewesen ist, mir so zu helfen, wie ich nun Ihnen helfen möchte. Der Erfolgsdruck war enorm, aber meine Intelligenz und die Theorie überstiegen die Grenzen der verfügbaren Technik.«

Haslanger ließ einen stolzen Blick durchs Labor schweifen und merkte mit Genugtuung, daß der Junge ihn dabei beobachtete. »Hätten mir von Anfang an solche Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden, gäbe es heute keine Geister.«

Josh zuckte die Achseln. »Für mich ist der Anfang auch schon vorbei.«

»Noch ist die Lage zu retten, junger Mann. Die Geister lassen sich bannen. Lassen Sie zu, daß wir … daß ich Ihnen helfe, und Sie werden …«

»Ich weiß, was mit CLAIR nicht stimmt«, sagte Josh unvermittelt und unterbrach damit Haslangers Worte. »Denn ich weiß, wie ich es einrichten kann, daß der Organismus die Stickstoff-Sauerstoff-Verbindung der Moleküle präziser differenziert, daß er zwischen Sulfaten und Nitraten auf der einen und menschlichem Blut auf der anderen Seite unterscheidet. Wenn Sie mir helfen wollen, dann lassen Sie mich das tun. Hier in diesen Labors.«

»Selbstverständlich muß ich erst Colonel Fuchs' Genehmigung einholen.«

»Machen Sie ihm klar, daß Sie andernfalls keine Unterstützung von mir erwarten können. Das gilt auch für die Herausgabe der Originalformel. Dann verabschiede ich mich und stelle mich lieber den Konsequenzen und den Geistern.«

»Ich bin ganz sicher, daß er seine Einwilligung erteilt. Ihm ist genausoviel wie mir daran gelegen, daß Sie bei uns bleiben.«

Haslanger sah, wie sich die Haltung des Jungen verkrampfte, er fast mit Tränen rang. Er widerstand der Versuchung, ihn in den Arm zu nehmen. Statt dessen senkte er die Stimme. »Wir wissen beide, daß Sie für Ihre wundervollen Talente und Fähigkeiten Ihr ganzes bisheriges Leben lang immer nur bestraft worden sind. Sie sind ein Ausgestoßener gewesen, so wie es schon vielen ergangen ist, die allen anderen haushoch überlegen waren. Aber bei Gruppe Sechs haben Sie keine derartigen Probleme. Hier können Sie ein Zuhause finden. Sie dürfen sein, wer und was Sie sind, und Ihren Beitrag dazu leisten, die Zukunft dieses Landes und des gesamten Planeten zu erhalten.«

Dr. Lyle kam herein. Haslanger glaubte zu bemerken, daß der Gesichtsausdruck des Jungen sanfter wurde, als die Frau das Labor betrat.

»Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Nein, überhaupt nicht«, versicherte Haslanger und versuchte, seine Erregung zu verheimlichen.

»Colonel Fuchs hat mich gebeten, unserem Gast seine Unterkunft zu zeigen, sobald Sie mit der Führung fertig sind.«

»Ich glaube, fürs erste hat er genug gesehen.«

»Ich möchte gleich morgen mit der Arbeit anfangen, Doktor«, sagte Joshua Wolfe in ernstem Ton. »Als allererstes.«

»Darüber spreche ich gleich mit dem Colonel.«

Haslanger begleitete die beiden auf den Flur hinaus und entfernte sich dann in entgegengesetzter Richtung.

»Mit was möchtest du anfangen?« fragte Susan, sobald sich der Doktor außer Hörweite befand.

»Mit der Arbeit an CLAIR«, gab Josh zur Antwort.

Susan beschloß, darüber keine Diskussion anzufangen. »Es dauert fünf Minuten, bis wir bei deiner Unterkunft sind. Mehr Zeit haben wir nicht, um miteinander zu sprechen. Die Wohnräume hier werden mit Sicherheit alle abgehört.«

Langsam gingen sie den Flur hinab.

»Ich muß dir etwas sagen, weiß aber nicht genau wie … Über deinen Freund. Über Harry.«

Joshuas Blick bohrte sich in ihre Augen.

»Ich bin jemandem begegnet, einem Bekannten Harrys. Die Spur, die er auf der Suche nach Harry verfolgte, hat ihn in deine Studentenbude an der Harvard-Universität geführt … Zur gleichen Zeit, als ich dort war.«

»Was für eine Spur?«

»Limes Spur. Harry dachte, dir wäre etwas zugestoßen, deshalb hat er seinen Bekannten um Hilfe gebeten.«

»Das ist typisch Harry«, meinte Josh mit schwachem Lächeln.

»Dann ist er mit einemmal verschwunden, und sein Bekannter hat ihn zu finden versucht. Allerdings hatte er, glaube ich, die Hoffnung schon aufgegeben. Er suchte nämlich nach den Verantwortlichen für Harrys Verschwinden.«

»Fuchs und Haslanger …«

»Dafür spricht jedenfalls, daß du jetzt hier bist. Egal was die beiden dir versprechen, egal was sie reden, du kannst ihnen nicht trauen. Haslanger und Fuchs lassen dich unter gar keinen Umständen je wieder von hier gehen.«

Josh dachte nach. »Und Sie haben mich ihnen ausgeliefert.«

»Als ich meinen Bericht über Cambridge nach Atlanta weitergeleitet habe, wußte ich noch nicht einmal, daß Gruppe Sechs überhaupt existiert. Man hat mich auf ganz ähnliche Tour wie dich hergeholt.«

»Also sind wir beide Gefangene.«

»Könnte sein. Ich weiß zuviel.« Für einen Moment schwieg Susan. »Sogar mehr, als ich denen erzählt habe.«

Sie erreichten den Lift. Josh musterte Susan.

»Ich weiß, daß es eine zweite Ampulle CLAIR gibt, die du irgendwo versteckt haben mußt.«

Die Türen des Lifts rollten auf und gaben den Blick in eine leere Aufzugkabine frei. Susan ging hinein. Leicht unwillig folgte Josh ihr. Mit einem Fauchen schloß sich der Lift. Susan beugte sich vor und drückte die Taste mit der Ziffer fünf. Die Kabine setzte sich nach oben in Bewegung.

»Ich möchte vermeiden, daß Gruppe Sechs die Ampulle in die Finger bekommt«, fuhr Susan ganz leise fort. »Ich arbeite hier nicht. Und ich denke gar nicht daran, für solche Leute zu arbeiten, weil ich weiß, auf was man es hier abgesehen hat. Gegenwärtig ist CLAIR das einzige, was Gruppe Sechs vor dem Skandal retten kann, der sich in Washington zusammenbraut. Sie braucht etwas, um es ihren Förderern vorzuzeigen, und du hast genau das.

Davon abgesehen, alles was du hier an Forschungstätigkeit leisten könntest, liefe darauf hinaus, Gruppe Sechs auf eine Stufe mit der CIA zu erheben. Deshalb kann man dich hier nie mehr fortlassen. Du bist zu wertvoll. Man will dich ganz für sich allein haben, darum darf niemand erfahren, daß es dich überhaupt gibt. Das heißt, du darfst den Standort der Gruppe Sechs künftig nicht mehr verlassen. Du bist Fuchs' Garantie für seine heißersehnten Generalssterne und Haslangers Garant für die schon immer erträumte ultimative Waffe. Der Mistkerl will immer noch den Zweiten Weltkrieg gewinnen. Er hat bloß die Seite gewechselt.«

Die Aufzugkabine stoppte in der fünften Etage, und die Türen öffneten sich. In Sichtweite hielt sich niemand auf. Weder Susan noch Joshua Wolfe machten Anstalten, den Aufzug zu verlassen.

»Weshalb sollte ich ausgerechnet Ihnen vertrauen?«

»Weil ich dir helfen werde, von hier zu verschwinden.«

»Ich habe ein paar deiner Gedichte gelesen«, sagte Susan, als sie und Josh den Flur in der fünften Etage entlanggingen. »Sie haben mir gefallen«, fügte sie rasch hinzu, als sie sah, daß Josh das Gesicht verkniff und sich verkrampfte. »Ich habe durch diese Verse das Gefühl bekommen, dich zu kennen. Oder wenigstens zu wissen, was für ein Mensch du bist.«

Josh nickte. »Eben deshalb habe ich mit dem Schreiben aufgehört. Ich habe dabei zuviel über mich nachgegrübelt. Es war zu schmerzhaft. Nicht nachzudenken ist einfacher.«

Er verstummte, dann blickte er Susan an. »Welches hat Ihnen am besten gefallen?«

»Das erste«, sagte Susan ohne zu zögern. »Die Feuer der Mitternacht.«

»Ich weiß noch, wie unglücklich ich gewesen bin, als ich es geschrieben habe, und wie wütend. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich gemerkt habe, wie anders ich eigentlich bin. Ich haßte deswegen alles und jeden. Die Feuer in dem Gedicht waren meine Wut. Ich mußte sie irgendwie rauslassen, sie brennen lassen …«

Wieder verstummte er für einen Moment. »Und seitdem brennen sie ständig. CLAIR sollte sie löschen, aber statt dessen sind sie davon nur noch größer geworden, so groß, daß ich sie vielleicht nie mehr löschen kann. So was Ähnliches hat mir auch Haslanger erzählt. Und er hat recht.«

»Die Feuer werden niemals erlöschen, wenn du bei Gruppe Sechs bleibst. Dafür wird man hier schon sorgen, Josh.«

Schließlich standen sie vor der Tür zu Joshs Unterkunft; Susans Zimmer lag unmittelbar hinter der Ecke des Korridors.

»Können Sie das schaffen? Mich hier rauszukriegen?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, ja. Ich glaube, es gibt einen Weg. Aber du mußt mir helfen.«

»Und wann?«

Susan schob die codierte Plastikkarte, die Fuchs ihr ausgehändigt hatte, in den dafür bestimmten Schlitz. Die Tür öffnete sich. »Je früher, desto besser. Morgen nacht.«

»Dann hätte ich einen Tag im Labor.«

»Ja.«

»Den brauche ich unbedingt.«

»Wieso?«

»Zur Sicherheit«, lautete Joshuas Antwort.

Alan Killebrew war damit beschäftigt, nochmals die erarbeiteten Daten zu überprüfen und Tests zu wiederholen, um seine anfänglichen Feststellungen zu verifizieren und eventuell neue Beobachtungen zu machen, die sein Verständnis des Organismus CLAIR vervollständigen konnten.

Weil die Citypassage von Cambridge nach der Katastrophe als ungefährlich eingestuft werden konnte, war allgemein davon ausgegangen worden, daß CLAIR – wie jeder Parasit – nach Ableben der Wirte gleichfalls abgestorben sein mußte. Jetzt jedoch verwiesen alle Anzeichen darauf, daß er statt dessen in einen schlafenden Zustand übergewechselt war; ohne Nahrung hatte er sich in einen zeitlich unbegrenzten Winterschlaf zurückgezogen, aus dem Killebrew ihn unbeabsichtigt geweckt hatte.

Killebrew rollte zur Computerkonsole und lud erneut das Programm. Er hatte Moleküle des Organismus durch Übereinanderlagern verglichen, um zu klären, ob sie, obwohl sie aus verschiedenen Körperzonen stammten, die gleiche Form hatten. Nun hörte er die letzten Worte seines Diktats ab.

»Abgesehen von minimalen Abweichungen an den Rändern, die durch herkömmlichen Gewebeverfall erklärbar sein dürften, scheinen die Moleküle in jeder Beziehung gänzlich gleichartig beschaffen …«

Ihm hatte es die Sprache verschlagen, als eines der Moleküle auf dem Bildschirm begonnen hatte, sich zu teilen. Es war weit über den Umfang des überlagernden Exemplars hinaus gewuchert. An diesem Punkt hatte er die Bildfläche wieder halbiert.

Das Molekül in der rechten Hälfte, das er aus den arteriosklerotischen Extremitäten des Opfers gewonnen hatte, war vor seinen Augen unablässig weitergewachsen; es war Teil eines Stücks Gewebe gewesen, das er mit dem erhitzten elektrischen Skalpell abgetrennt und versehentlich, weil er das Werkzeug liegengelassen hatte, in der Schale hatte schmoren lassen.

Sein nächster Schritt bestand darin, die Temperatur der restlichen Gewebeprobe zu messen. Sie betrug nur noch 39°, war also schon erheblich gesunken. Weil die anderen entnommenen Proben dem heißen Skalpell für eine weit kürzere Zeitspanne ausgesetzt gewesen waren, lag ihre Temperatur deutlich unter diesem Wert. Bei 35° C zeigte der Organismus keinerlei Zeichen der Wiederbelebung. In Zehntelgradstufen erhöhte Killebrew die Temperatur. Es trat kein neues Wachstum unter einer Temperatur von 36,9° auf, einem Wert, der die durchschnittliche menschliche Körpertemperatur nur um 0,1° überstieg. Bei höherer Wärme erwachte CLAIR zu neuem Leben und entfaltete mit erschreckender Schnelligkeit wiedererwecktes Wachstum, das sogar anhielt, als die Temperatur unter die festgestellte Schwelle zurücksank.

Der Schlüssel war … die Körpertemperatur!

Bei der Transformation zur Anpassung an den menschlichen Körper hatte CLAIR einen Weg gefunden, auch dann weiterzuleben, wenn sein Wirt tot war. Nach dem Tod sank die Körpertemperatur fast augenblicklich. Um nicht zu verhungern, hatte CLAIR die Fähigkeit entwickelt, bei Wärmeverlust in einen schlafenden Zustand überzugehen, in dem der Organismus dann auf eine Erwärmung und die Gelegenheit zu weiterer Nahrungsaufnahme warten konnte. Der Organismus wußte nicht, daß so etwas bei Toten unter normalen Verhältnissen ausblieb. Bar jeder Kreativität hatte er rein logisch reagiert.

Genau wie es einer Maschine entsprach, dachte Killebrew. Während er auf dem Monitor noch einmal den Zellteilungsvorgang mitansah, nahm er das Diktat wieder auf.

»… Mittlerweile hat sich bestätigt, daß der durch das erhitzte Skalpell verursachte Temperaturanstieg in der Gewebeprobe den Organismus in den aktiven Zustand zurückversetzt hat. Wahrscheinlich fällt der Organismus in den schlafenden Zustand, wenn der Wirtstoffwechsel zum Erliegen kommt.

Daraus leite ich die Dr. Lyles erster Annahme widersprechende Theorie ab, daß CLAIRs bei Temperaturen oberhalb von 36,9 Grad Celsius auftretender Verstoß gegen die Originalprogrammierung nicht aus einem Kontakt mit in den Schleimhäuten der Nase und des Munds enthaltenen Aminosäuren resultiert. Vielmehr ist er höchstwahrscheinlich die Folge eines Kontakts mit einem Protein, den der Organismus in den oberen Hautschichten erhielt, während er die Körperflüssigkeiten der Opfer von der Körperaußenseite her aufzehrte …«

Killebrew unterbrach das Diktat erneut und überdachte die Tragweite seiner Worte.

»Ferner werden durch die aus dem Proteinkontakt entstandenen Umwandlungen eben die Temperaturen, die CLAIR in der Originalform eliminieren würden, zum Anstoß der Wiederbelebung.

Ich habe den Organismus isoliert und in einen Vakuumbehälter verschlossen. Befindet der mutierte Organismus sich nicht unter Verschluß und wird er höheren Temperaturen ausgesetzt, müßte er sich mit exzeptioneller Wachstumsgeschwindigkeit vermehren, ohne daß gegenwärtig eine wirksame Eindämmungsmethode bekannt wäre.

Ich beabsichtige die Tests weiterzuführen, indem ich die wiederbelebten Exemplare einer allmählichen Temperatursenkung unterziehe, um zu ermitteln, bei welcher Temperatur das Wachstum aufhört und der Organismus in den schlafenden Zustand zurückfällt. Sollte allerdings der Organismus in mutierter Form nicht mehr durch Temperaturveränderungen kontrollierbar sein …«

Killebrew stoppte abrupt, als er die Bedeutung seiner Worte begriff. Er erkannte, daß hier im Mount Jackson eine Macht schlummerte, die die Menschheit ausrotten konnte.