Kapitel
14

»Sie hätten mich früher einweihen sollen, Doktor«, meinte Colonel Fuchs und hob den Blick von dem Stapel Schnellhefter, den Haslanger ihm vorgelegt hatte.

»Das ging Sie nichts an. Das sind … alte Geschichten.«

»Abgesehen von den neueren Leistungen Ihres Wunderkinds, würde ich sagen.« Die Aufregung, die Fuchs angesichts des Potentials der Operation Offspring verspürte, milderte etwas die Schärfe seines Tonfalls. »So etwas zu verschweigen, ist unklug, Doktor.«

»Seit sie Kleinkinder waren, habe ich mit Joshua Wolfe und den anderen nichts mehr zu tun gehabt.«

Doch anscheinend verliefen Fuchs' Überlegungen in eine andere Richtung. »Ich bin neugierig zu erfahren, warum Sie den Jungen und die anderen mit ihren Aufsichtspersonen in ein Leben außerhalb des Laboratoriums entlassen haben.«

»Genies kann man nicht im luftleeren Raum erzeugen, Colonel. Sie müssen die Welt kennen, um die Folgewirkungen ihrer Entdeckungen zu sehen. Auf der anderen Seite aber muß ihr Heranwachsen überwacht werden. Ich habe mich mit den Aufsichtspersonen erst einverstanden erklärt, nachdem mir die für die Auswahl zuständigen Verantwortlichen versichert hatten, daß sich die Kandidaten tatsächlich zur Ausübung der von uns gewünschten Überwachung eignen.«

Über den Schreibtisch hinweg funkelten Fuchs' sonst stumpfe Augen Haslanger an. »Kann ich Ihnen noch vertrauen, Doktor? Wenn Sie weitere Geheimnisse haben, die Sie mir offenlegen sollten … dann ist jetzt dafür der richtige Zeitpunkt.«

»Da wäre bloß noch Krill.«

»Der ist wohl kaum ein Geheimnis, sondern eher ein Malheur. Er fällt im Vergleich zu Joshua Wolfe und den anderen weit zurück.«

»Nein, nur hinter Wolfe. Leider haben sich die anderen nicht unseren Hoffnungen entsprechend entwickelt.«

»War das nicht zu erwarten?«

»Wir hatten überhaupt keine Ahnung, was zu erwarten war, Colonel. Das war für uns alle völliges Neuland.«

»Wie haben Sie das betrieben?« fragte Fuchs unvermittelt.

»Was?«

»Sie haben ihn doch im Laufe Ihrer Tätigkeit in der Fabrik geschaffen, oder? Ich bin neugierig, wie die Verfahren durchgeführt wurden, welchen Ursprung das Ganze hat.«

»Es ist durch Zuchtauswahl erreicht worden«, antwortete Haslanger mit absichtlicher Untertreibung.

»Ohne Zweifel haben Sie das Rüstzeug dafür während Ihres Wirkens für ein anderes Regime erlernt, wie?«

Haslanger leugnete es nicht. »Das züchtbare Genie hat immer zu den hoffnungsvollen Vorstellungen jedes Regimes gehört, um seine künftige Vorherrschaft zu sichern. Wir hatten das Ziel, Verstand zu erzeugen, den wir beeinflussen und lenken konnten.«

»Wen meinen Sie mit wir, Doktor?«

Haslanger beachtete ihn nicht. »Oppenheimer, Teller, solche Männer hätten darüber entscheiden sollen, welche Lebensweise gedeihen und blühen sollte. Sie planten längst über die Wasserstoffbombe und die chemische Kriegsführung hinaus. Ständig habe ich mit Spermaproben der größten Denker dieser Nation arbeiten dürfen. Wer sie waren, erfuhr ich nicht, und es ist mir gleichgültig gewesen …«

»Und wie steht es mit Ihnen?« unterbrach ihn Fuchs. »Ich meine, Sie haben sich selbst doch bestimmt auch als Genie betrachtet.«

»Ja.«

»Nur nicht so bescheiden, Doktor. Sie haben auch eine Spermaprobe dazugetan, nicht wahr? Möglicherweise ist Joshua Wolfe Ihr …«

»Eine außerordentlich hohe Wahrscheinlichkeit spricht dagegen«, beteuerte Haslanger, nachdem Fuchs' Stimme verklungen war.

»Aber auf alle Fälle hat er Ihre Erwartungen erfüllt.«

»Er hat sie übertroffen.«

»Inwiefern?«

Haslanger nickte vor sich hin. »Was ihm im Rahmen des Forschungsförderungsprogramms in den Labors der Harvard-Universität gelungen ist, zeigt an, daß er Konzeptionen gemeistert hat, von denen wir in Gruppe Sechs noch mindestens ein Jahrzehnt entfernt sind.«

»Das erklären Sie mir bitte mal genauer.«

Haslanger zögerte mit der Antwort. Fuchs war kein Wissenschaftler und verstand selten etwas außer den grundlegendsten Prinzipien. Das hieß, Haslanger mußte seine Formulierungen sehr sorgfältig wählen.

»Ich höre, Doktor.«

Haslanger seufzte auf. »Ich rede von Nanotechnologie.«

»Was für ein Ding?«

»Ein neuer Wissenschaftszweig, in dem der Junge ganz offensichtlich tätig geworden ist.«

»Nanotechnologie«, wiederholte Fuchs, als wüßte er, wovon Haslanger sprach.

»Dabei handelt es sich im wesentlichen um ein Verfahren, Atom um Atom Moleküle so aufzubauen, daß sie einem bestimmten Zweck oder einer vorausbestimmten Aufgabe dienen. Bis jetzt hat sich die einzige ernstzunehmende Nanotechnologieforschung um die Reparatur geschädigter menschlicher Zellen gedreht, eigentlich um die Herstellung von molekularen Strukturen, die in solche Zellen vordringen und Defekte korrigieren sollen, beispielsweise Enzymmangel oder Formen der DNS-Schädigung. Für die Zukunft erhofft man sich, daß sie Krebs heilen oder angeborene Mißbildungen schon im Fötus beseitigen können. Die Forschungen, mit denen der Junge sich offenbar befaßt hat, lassen auf signifikante Durchbrüche bei der Anwendung dieser Methode schließen.«

»Aber das steht ja wohl in keinem Zusammenhang mit dem, was er in Cambridge verbrochen hat.«

»Doch, durchaus. Joshua Wolfe hat eine molekulare Vorrichtung konstruiert, eine organische Maschine, die darauf programmiert ist, Luftverschmutzung nicht nur zu erkennen, sondern auch zu beheben, indem sie in die Sulfat- und Nitratmoleküle eindringt und darin den Zusammenhalt zwischen Sauer- und Stickstoff auflöst. Was in dem Einkaufszentrum vorgefallen ist, war die Folge des Phänomens, daß der Organismus diese Verbindungen auch im menschlichen Blut aufgebrochen hat.«

»Warum ist es dazu gekommen?«

»Ich vermute, wegen eines kleinen Fehlers in der Formel für den Organismus.«

»Ein Fehler, der sich auch vorsätzlich wiederholen ließe?«

»Wenn man die Originalformel hat, ja.«

Diese Mitteilung behagte Fuchs. Seine Stimme klang nach wachsender Geistesabwesenheit, während er laut nachdachte. »Man stelle sich vor, was das Gehirn dieses Burschen unter den richtigen Bedingungen noch an Wundern für uns aushecken könnte … natürlich nur dank der grandiosen Voraussetzungen, die Sie ihm mit auf den Lebensweg gegeben haben.«

»Da sehe ich das wahre Problem: in seinem Werdegang, wie er in dem Ihnen von General Starr zugeleiteten Bericht beschrieben steht.«

»Was gefällt Ihnen daran nicht?«

»Er ist ziemlich genau, mit nur geringen Abweichungen, nach meinen Voraussagen verlaufen. Schon mit acht Jahren hat er mit dem Studium begonnen und sich an der Universität Stanford eingeschrieben, und drei Jahre später Diplome in Chemie, Biologie und Maschinenbau erworben. Danach studierte er Medizin und bewältigte ein vierjähriges Curriculum in nur zwei Jahren.«

»Offensichtlich war aber nicht geplant, daß er Arzt wird.«

»Nein. Ich wollte lediglich, daß er die Funktionsweise des menschlichen Körpers vollkommen durchschaut.«

»Mit Sicherheit, um ihn noch besser zum Ausbrüten der verschiedenartigsten Mittel zur Vernichtung dieses Körpers zu befähigen.«

»Ganz richtig. Aber wer hat dafür gesorgt, daß meine ursprüngliche Planung beibehalten wurde, Colonel? Wer hat da weitergearbeitet, wo ich aufgehört hatte?«

»Zu dumm, daß wir nicht diesen …« Fuchs starrte auf die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Faxblätter, »… diesen Harry Lime fragen können.«

»Ich habe den Eindruck, Sie sehen in all dem überhaupt keinen Anlaß zur Beunruhigung.«

»Egal, wer dahintersteckt, er hat offensichtlich seinen Schützling aus den Augen verloren, und dadurch bietet sich nun Ihnen die Gelegenheit, ihn wieder unter Ihre Fittiche zu nehmen. Sie behaupten, der Junge hätte Ihre Erwartungen übertroffen, Doktor. Das bedeutet, wir können endlich ernsthaft an die Entwicklung der ultimativen Waffe denken, die für Gruppe Sechs und damit für uns die Rettung verheißt.«

»Sie meinen den im Einkaufszentrum eingesetzten Organismus.«

»Ich meine Joshua Wolfe selbst, Doktor, aber selbstverständlich müssen wir auch diesen Organismus haben.« Fuchs nahm einen dünnen Schnellhefter zur Hand und blätterte darin. »Zu diesem Zweck, habe ich mir überlegt, spannen wir den gegenwärtig in Cambridge tätigen Teamleiter der Sonderabteilung Brandwacht vor unseren Karren. Die Akte ist höchst interessant.« Fuchs reichte Haslanger den Schnellhefter über den Tisch.

Haslanger warf einen kurzen Blick in die Akte. »Eine Frau?«

»Eine für unsere Bedürfnisse ganz besonders geeignete Frau.«

Haslanger überflog Susan Lyles Lebenslauf. »Ach, jetzt verstehe ich …«

»Dachte ich mir.«