Kapitel
25

»Sie wollten mich sprechen?« fragte Susan von der anderen Seite der Trennscheibe des isolierten Laborraums, in dem Joshua Wolfe arbeitete.

Er sah sie durch das dicke Glas an. »Ich brauche einiges aus dem Materiallager.« Unsichtbare Mikrofone übertrugen seine und Susans Stimme durch die Glaswand.

Wie sie es abgesprochen hatten, setzte sich Susan vor einen Computer, der von Josh zuvor an seinen Rechner angeschlossen worden war, so daß ein geheimes Netzwerk sie verband.

Da sie sich darüber im klaren waren, daß Fuchs und Haslanger alles sehen und hören konnten, was sie und Josh taten und sagten, legte Susan die Hände unschuldig-harmlos auf die Tastatur. Der Monitor stand in einem derartigen Winkel zur Videokamera, daß der Bildschirm nicht frontal erfaßt wurde.

Josh wußte, daß alles, was sich auf seinem Monitor zeigte, auch auf Fuchs' und Haslangers Bildschirm erschien, und hatte deshalb gleich am Anfang ein kleines Tarnprogramm geschrieben. Es versorgte die Computer der Beobachter mit zufällig gestreuten Wiederholungen seiner Arbeit und kaschierte so, was er währenddessen wirklich eintippte. Er brauchte das Programm nur zu aktivieren, und die elektronische Observation durch Gruppe Sechs setzte vorübergehend aus.

»Wie kommen Sie mit der Arbeit an der Formel voran?« fragte Susan.

In scheinbarem Desinteresse huschten Joshs Finger über die Tasten. Er blickte auf und nickte andeutungsweise.

»Ich bin soweit«, antwortete er. Nur Susan verstand den wahren Sinn der Äußerung.

Sie schrieb eine Mitteilung, die sofort auch seinen Monitor erreichte.

Wann bist du fertig?

In dreißig Minuten, tippte Josh.

Also um Punkt zwanzig Uhr, rechnete Susan, hielt die Finger schon an der Tastatur bereit, während der Rechner Joshs nächste Sätze auf den Monitor projizierte.

Sie müssen besorgen, was wir brauchen. Mir überläßt man es wahrscheinlich nicht. Aber keine Sorge, Ihnen geben sie bestimmt alles, was ich verlange.

Susan äußerte in lockerem Plauderton belangloses Zeug, während sie auf mehr wartete. Doch Josh fügte nichts mehr hinzu.

Wieviel Zeit haben wir?

Josh antwortete sofort. Elf Minuten.

Susan wartete, bis er die Liste mit seiner Materialbestellung ausgedruckt hatte und ging zur Tür.

Unter dem Druck von McCrackens Schulter gab die Luke nach und offenbarte wie erwartet einen im spitzen Winkel zum Stollen verlaufenden, ganz ähnlich beschaffenen Kanal. Blaine untersuchte die Wände mit einem Chemosensor und besah sich die Meßwerte auf der winzigen LED-Anzeige.

»Alles sauber, Indianer«, sagte er zu Wareagle. »Muß eine Weile her sein, daß hier was durchgeflossen ist. Anscheinend ist heute unser Glückstag. Das ist der Zugang.«

Wie sich erwies, war es allerdings ein schwieriger Zugang, denn den kalten glatten Boden hinaufzusteigen, fiel erheblich mühsamer aus als der Abwärtsgang. Blaine merkte bald, daß sie nur sehr langsam vorankamen, weil sie nur an den Seitenwänden Halt fanden. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie den ersten heimlich von Gruppe Sechs angelegten Anschluß an Brookhavens vorzeitig aufgegebenes zweites Abwasserrohrsystem entdeckten. Geradeaus war eine dritte Luke, während der Kanal scharf nach links abknickte.

Blaines Hand strich um die Luke. »Was hältst du davon, wenn wir uns mal dahinter umschauen?«

Johnny hatte schon einen Schweißbrenner in der Hand und kam nach vorn, um als erster an die Arbeit zu gehen. Er schaltete das Werkzeug ein und setzte die Flamme am Lukenrand an. Weitere dreißig Minuten vergingen, in denen Blaine und Johnny sich abwechselten. McCracken hatte das Gerät in der Faust, als die blaue, heiße Flamme die Luke endlich herausgeschmolzen hatte.

Diesmal war es unnötig, sich dagegenzustemmen; die Luke kippte einfach nach hinten. Blaine leuchtete mit der Stablampe durch die Öffnung in einen Raum, der wie ein Zwischenlager aussah. An allen vier Wänden waren zusammengebaute Waffenmodelle gestapelt. McCracken erkannte sofort, daß diese sich dank der Nähe zur Luke leicht aus der Welt schaffen ließen. Und Verklappung war vermutlich der Sinn der Klappe. Im Fall eines Angriffs oder einer Besetzung des Hauptquartier-Gebäudes konnte der Inhalt des Lagerraums zusammen mit dem übrigen Abfall der Gruppe-Sechs-Labors einfach weggespült werden.

»Dieser Raum ist auf den Plänen nicht verzeichnet, Indianer.«

»Wir sind hier unter dem tiefsten Kellergeschoß des Gebäudes, Blainey. Zu diesem Raum muß es einen Gang geben, der unter dem gesamten Komplex verläuft.« Johnny leuchtete mit der Lampe umher. »Und zwar dahinter.«

McCrackens Blick folgte der Richtung des Lichtkegels. »Das sieht mir aber gar nicht gut aus.«

Die einzige Tür des Raumes ähnelte der Stahltür eines Tresorraums und war offensichtlich viel zu dick, als daß sie mit den Schweißbrennern oder dem Sprengstoff, den sie dabeihatten, hätte geöffnet werden können.

Blaine trat dicht vor die Tür und leuchtete sie langsam von oben nach unten mit der Stablampe ab. »Ein elektronisches Schloß, vermute ich, das man nur von innen betätigen kann. Außer wir schaffen es irgendwie, hier einen Kurzschluß zu verursachen.«

»Die Schalttafel muß irgendwo in der Wand sein.«

»Dann laß uns mal versuchen, sie zu finden, Indianer.«

Susan ging den Korridor entlang und war sich der Observationskameras vollauf bewußt, die zweifellos jeden ihrer Schritte verfolgten. Mit der Liste der Gegenstände, die Josh angeblich zur Vollendung seiner Arbeit brauchte, ging sie zur Materialausgabe. Dort las der Angestellte die Liste, hob die Brauen und las sie ein zweites Mal. Ein atemberaubender Augenblick verzweifelter Spannung folgte, als der Mann einen Vorgesetzten um Genehmigung anrief. Als er den Hörer auflegte, hatte sich seine Miene nicht verändert.

»Das wird ein Momentchen dauern.«

»Ich hab's nicht eilig«, antwortete Susan.

Der Karton, den er ihr einige Minuten später aushändigte, war leicht genug, daß Susan ihn durch den Korridor in das Labor tragen konnte, in dem Joshua Wolfe an der Arbeit saß. Unterwegs befürchtete sie, jede Sekunde könnten Fuchs oder Haslanger sie abpassen und verlangen, den Karton zu öffnen. Vielleicht hatten sie sie aber auch die ganze Zeit auf die Probe gestellt und warteten jetzt vor dem Labor auf sie.

Aber sie gelangte ohne Zwischenfall zum Labor, und Josh öffnete ihr per Tastendruck die Tür. Sie schloß sie von innen und schob den Karton auf den nächstbesten Tisch.

»Machen Sie sich fertig«, empfahl Josh leise.

Seine Finger flogen über die Computertastatur, während Susan den Karton aufklappte. Sie hatte gerade zwei Nachtsichtbrillen herausgenommen – dank Gruppe Sechs weniger unhandlich und unförmig als herkömmliche Exemplare –, da drückte Josh die Befehlstaste.

McCracken hantierte ergebnislos mit den Kabeln hinter einer Wandklappe neben der Stahltür, als die Deckenlampe, die sie entdeckt hatten, erlosch. In derselben Sekunde, als er die Stablampe ergriff und anknipste, ertönte ein metallisches Klicken.

»Stromausfall, Blainey«, stellte Wareagle fest und schaltete seine Lampe ebenfalls ein.

»Das Knacken war sicher ein automatisch aktiviertes Sekundärsicherheitssystem, das die Flucht von Eindringlingen durch diese Tür verhindern soll.«

»Aber uns nicht am Hineinkommen hindert.«

»Genau meine Meinung«, sagte Blaine und widmete sich wieder den Kabeln.

Keine Minute später hatte er Erfolg: Er verband die beiden richtigen Drähte. Mit einem zweiten Knacken wurde das Sekundärsicherheitssystem abgestellt, und das elektronische Schloß öffnete sich. Wareagle konnte die Tür ohne größere Mühe aufschieben. Sie mündete, wie erwartet, in einen schmalen Gang, der tunnelartig unter dem Gebäude verlief.

»Ich habe keine Ahnung, wo der Gang hinführt, Indianer, aber es ist besser, wir nehmen ihn, als uns hier die Beine in den Bauch zu stehen.«

Blaine bemerkte, daß die Werkzeugtasche jetzt übervoll war mit Ausrüstung, die Wareagle aus dem Bestand der Waffenkammer zusammengesucht hatte.

»Das Zeug brauchen wir womöglich, wenn wir da sind, Blainey«, meinte Johnny und schwang sich die Tasche mühelos über die Schulter.

Das Gruppe-Sechs-Hauptquartier war vollkommen ohne Strom. Die von Josh am Computer getroffenen Vorbereitungen und die zuletzt eingegebenen Befehle hatten auch die Abwehrsysteme der Sicherheitszonen von der Notstromanlage getrennt. Zwar waren die Generatoren automatisch angeworfen worden, aber der erzeugte Strom erreichte nicht die Zufuhrkabel.

Die plötzliche Finsternis lähmte Susan, obwohl sie sich darauf vorbereitet hatte. Joshua Wolfe war nur einen Meter von ihr entfernt, aber sie hatte völlig die Orientierung verloren, und Panik drohte sie zu überwältigen.

»Hier«, rief die Stimme des Jungen. »Ich bin hier.«

Susan bezwang ihre Panik und tastete sich hinüber zu Josh. Er nahm aus ihrer Hand eine der Nachtsichtbrillen entgegen und setzte sie auf, dann half er Susan beim Aufziehen der zweiten Brille. Da durch die abgedunkelten Fenster nur wenig Licht eindrang, war selbst der Nutzen der modernisierten Nachtsichtbrillen gering. Doch immerhin konnten Josh und Susan, das was unmittelbar vor ihnen war, sehen und noch einen Meter darüber hinaus.

»Kommen Sie«, rief Josh, faßte Susans Hand und ging auf die Tür zu.

Sie hatte vorgesorgt und die Tür nur angelehnt, so daß sie nicht, im Gegensatz zu so gut wie dem gesamten Gruppe-Sechs-Personal, eingesperrt waren. Unter den richtigen Umständen ließ sich das Gebäude aufgrund der elektronischen Schlösser an jeder Tür in ein Gefängnis verwandeln. Diese Situation war jetzt eingetreten, und das machte Josh hinsichtlich seines Fluchtplans so zuversichtlich. Seine Elfminutenschätzung betraf die Zeitspanne, die die Techniker von Gruppe Sechs brauchten, um ein Notkabel zu verlegen und seine Befehle an die Computersteuerung der Anlagen rückgängig zu machen.

Im Flur begegneten Susan und Josh, während sie Hand in Hand losrannten, keinem Menschen. Sie nahmen den Weg zur Tiefgarage, den sie sich gut gemerkt hatten. Die Garage ließ sich durch ein Treppenhaus erreichen, dessen Türen keine Kombinations- oder Kartenschlösser hatten. Zudem hatte Josh am Computer mehrere Trenntüren im dritten Untergeschoß auf Handbedienung umgeschaltet. Unten könnten sie dann jedes der geparkten Fahrzeuge als Fluchtauto nehmen, die steile Auffahrt hinauffahren, und durch den Zaun brechen, ohne befürchten zu müssen, daß die Infrarotsensoren den Laserbeschuß auslösten.

Susan schätzte, daß sie das Treppenhaus knapp nach der dafür gesetzten Zweiminutenfrist erreichten. Wenn sie unten in der Garage waren, blieben ihnen noch acht Minuten. Rechnete man drei Minuten, um einen Wagen auszusuchen und ein Ausfahrtstor zu öffnen, standen ihnen zum Schluß fünf Minuten zur Verfügung, um vom Gruppe-Sechs-Gelände zu fliehen.

Genug Zeit, befand sie, während sie durch den Korridor rannte.

Johnny und Blaine folgten dem gekrümmten Verlauf des dunklen Kanals und suchten unterwegs nach Luken, die Zutritt ins eigentliche Gruppe-Sechs-Gebäude bieten könnten. McCracken vermutete, daß man diese unterirdischen Gänge auch dazu benutzte, gefährliche Substanzen von einem in einen anderen Teil des Komplexes zu befördern, um das Verseuchungsrisiko für das Hauptquartier zu minimieren. Falls er recht hatte, mußten in regelmäßigen Abständen Zugänge vorhanden sein.

»Blainey …« Johnny Wareagle winkte, als er die erste Luke gefunden hatte: dreißig Zentimeter über seinem Kopf in der Decke, erreichbar durch eine in der Wand verankerte Eisenleiter.

McCracken erklomm die Sprossen und hielt oben wackelig die Balance. Er drehte das Handrad der Klappe, bis er ein Klicken hörte. Langsam ließ er den Lukendeckel herabsinken. Ein altbekannter Geruch drang ihm in die Nase.

»Ich glaube, ich weiß, wo wir …«

Unvermittelt strahlte Licht durch die Lukenöffnung und zwang ihn dazu, sich mitten im Satz zu unterbrechen. Er sprang von der Leiter, drückte sich Johnny gegenüber an die Wand und hatte die Pistole schon schußbereit in der Faust, als er eine Stimme hörte.

Joshua Wolfe und Susan Lyle hasteten die Treppe hinab. Die Nachtsichtbrillen, kaum größer als Taucherbrillen, verliehen dem dunklen Treppenhaus eine mattorange Farbtönung. Drei Etagen tiefer stieß Susan die Tür auf, die in den Gang zu den Parkdecks führte. Als sie den Ausgang am anderen Ende erreichte, holte Josh sie ein. Susan stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. In der orangegetönten Finsternis ließ sich eine Vielzahl von Fahrzeugen erkennen. Da stach ihr auf einmal ein unerhört greller Lichtschein in die Augen, als würde ein ultrahelles Blitzlicht betätigt. Sie geriet ins Taumeln, während sie mit den Händen nach der Nachtsichtbrille griff, sie herunterriß und die normale Garagenbeleuchtung brennen sah. Ihre Augen schmerzten und füllten sich mit Tränen.

Als sie wieder einigermaßen klar sehen konnte, standen Lester Fuchs und Erich Haslanger vor ihr, flankiert von zwei breitschultrigen Männern in Sportjacketts. Hinter ihnen, in den Schatten an der Mauer, ragte die wuchtige Erscheinung eines Ungeheuers auf, das man kaum als menschlich bezeichnen konnte.

»Ich habe Sie auf die Probe gestellt«, sagte der Colonel. »Sie haben sie leider nicht bestanden.«