Kapitel
4

»Ich glaube, jetzt ist die Sache geklärt«, begrüßte Alan Killebrew am Dienstagmorgen Susan, als sie in das Wohnmobil stieg, das vor Ort die Leitstelle der Sonderabteilung Brandwacht war. Es parkte nach wie vor gegenüber der Cambridger Citypassage im Charles-Park.

Killebrew war Susans tüchtigster Mitarbeiter im Brandwacht-Team. Am Sonntag war er nur vier Stunden nach ihr eingetroffen und seitdem geblieben; und er würde den Katastrophenort nicht verlassen, bevor sich die Hinweise, Spuren und Theorien nicht zu Fakten erhärteten.

Killebrew lenkte seinen Rollstuhl an die Arbeitsfläche vor den Computermonitor; sein fettiges Haar und die müde Stimme bewiesen, daß er Montag nacht durchgearbeitet hatte. »Ich meine die Weise, wie der Organismus sich in der Passage verbreitet hat. Das habe ich herausgefunden, glaube ich.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Das, und wie er hineingelangt ist.«

Ehe Susan Fragen stellen konnte, drückte er Tasten, und auf dem Monitor erschien in simulierter Dreidimensionaliät eine Animationsgrafik des Ladenzentrums. Sie war einem Computerspiel nicht unähnlich. Killebrew kontrollierte sie mit der Computermaus.

»Anhand einer Analyse der Aufnahmen, die die Überwachungskameras der Passagen angefertigt haben, und einer Untersuchung der Verteilung der Leichen in allen drei Etagen ist ersichtlich geworden, daß die Opfer nicht alle gleichzeitig infiziert worden sind. Was sie getötet hat, mußte erst in der Passage um sich greifen. Der Zeitunterschied ist minimal, aber meßbar und von wesentlicher Bedeutung. Ich zeige Ihnen ein Modell der Ausbreitung des Organismus.«

Die Darstellung fing in der dritten Etage an. Weiße Blinkpünktchen kennzeichneten die Kunden des Einkaufszentrums. Während sich der Cursor an ihnen vorbeibewegte, stoppte das Blinken der Markierungen, sie verfärbten sich rot. Der Vorgang wiederholte sich in jeder Etage bis zum Erdgeschoß.

»Der Ausbreitungsweg verlief vom dritten Geschoß hinab ins Erdgeschoß«, faßte Killebrew zusammen. »Bleibt der Ausnahmeüberlebende, dieser Hund. Der Raum, in dem er eingeschlossen war, war in dem ursprünglichen Bauplan der Passage nicht vorgesehen. Die Raumtemperatur dort betrug über dreißig Grad, dagegen lag die Außentemperatur bei dem Vorfall bei rund achtundzwanzig Grad. Nun verhält es sich wohl so, daß die Türen der Passage irgendwann nach Freisetzung des Organismus geöffnet worden sein müssen. Also ist es an sich unvorstellbar, daß die Ansteckung sich nicht wenigstens in gewissem Umfang über das Gebäude hinaus verbreitet hat. Trotzdem sind ausschließlich im Innern der Passage Tote gefunden worden. Und zwar, weil der Organismus durch einen bestimmten Faktor an den Türen buchstäblich eliminiert worden ist.«

»Durch die Temperatur«, schlußfolgerte Susan und begriff sofort die Zusammenhänge. »Gütiger Himmel …«

»Dank der Klimaanlage herrschten in der Passage angenehme zweiundzwanzig Grad«, erläuterte Killebrew und schaute ihr aus dem Rollstuhl ins Gesicht. »Die Computersimulation der Ausbreitung des Organismus stimmt genau mit dem Verlauf der Luftzirkulation in den Gängen der Passage überein. Weil der Raum, in dem sich der Hund aufhielt, nicht zur gleichen Zeit wie die übrige Passage gebaut wurde, hat er keinen Anschluß an die Klimatisierung.«

»Wirklich hervorragende Arbeit, Killebrew.«

»Es kommt noch besser. Die zur Klimatisierung erforderlichen Kompressoren stehen im Heizungskeller des Gebäudes, das heißt, hier.« Killebrew sauste mit dem Cursor durch das Computermodell der Passage bis ins Untergeschoß, zu einem rotblinkenden Quadrat. »Da war der Ausgangspunkt des Organismus.«

»Dann wollen wir uns dort mal umsehen.«

McCracken hatte mit Harry Lime vereinbart, ihn am Dienstag als erstes morgens zu besuchen – das hieß für Harry, um neun Uhr. Lime hatte eine Parterrewohnung in einem der sechs Häuser der sogenannten Südpark-Residenz. Mit ihrem pseudospanischen Kolonialstil ähnelten die Häuser einem Großteil der restlichen Bauten des Viertels, zeichneten sich jedoch durch den Vorzug aus, lediglich drei Blocks vom Meer entfernt zu stehen. Blaine konnte sich vorstellen, daß Harry die Geräuschkulisse und die Gerüche des Ozeans als Labsal für die Seele empfand.

Als nichts geschah, nachdem McCracken mehrmals den Klingelknopf betätigt hatte, drückte er zwei andere Klingeln, und ihm wurde, wie erwartet, ohne Umstände geöffnet. Er hatte die SIG-Sauer unter einem weiten, um die Taille herum schon fadenscheinigen Leinenhemd umgeschnallt; das war nicht seine Lieblingsart, eine Waffe zu verstecken, sondern ein Kompromiß, zu dem ihn Key Wests Temperatur von 38° nötigte.

An der Wohnungstür läutete Blaine erneut einige Male und klopfte, aber wieder ohne Erfolg. Er hielt es für denkbar, daß Harry in der Wohnung, Apartment 1A, seinen Rausch ausschlief, oder daß die Kopfhörer eines Computerspiels seine Aufmerksamkeit ablenkten. Blaine seufzte und ging mit den Drähten, die er immer dabei hatte, ans Knacken der Schlösser. Für das Sicherheitsschloß brauchte er dreißig Sekunden, für das Türschloß nicht einmal die Hälfte. Obwohl beides Schlage-Fabrikate waren, das beste auf dem Markt, forderten sie einem echten Profi nur wenige Sekunden Mehrarbeit ab.

»Harry«, rief McCracken, als er die Wohnung betrat. »Harry?«

Blaine bekam keine Antwort, er ging weiter. Das Wohnzimmer machte einen ordentlichen, sauberen Eindruck, angesichts der im allgemeinen ungepflegten Erscheinung Harrys eine Überraschung. Noch verwunderlicher war allerdings die völlige Kahlheit der Wände. McCracken hatte erwartet, sie mit allerlei Postern, Fotos und Andenken vollgehängt zu sehen – ein Zustand, wie er in Harrys stets etwas wirrem Hirn herrschen mochte.

Auch in der Küche war keine Spur von Harry. Blaine besah sich das auf dem Küchentisch stehende Faxgerät. Es erstaunte ihn nicht, daß es kein Papier enthielt. Er warf einen Blick in die beiden Zimmer. Harrys Schlafzimmer wirkte schlicht und konservativ, wiederum gänzlich anders, als Blaine es sich vorgestellt hatte; er fand dort ein unbenutztes, säuberlich gemachtes Bett vor. In den Schubladen der Kommode lag penibel aufgestapelte, sortierte Wäsche, hinter den Türen des Kleiderschranks hing Harrys spärliche Garderobe, überwiegend Blumenhemden und weite Hosen.

Nach einem kurzen Abstecher ins Bad besah sich McCracken das zweite Zimmer. Bis auf einige wenige Möbelstücke stand es leer. Falls Harry tatsächlich einen Sohn hatte, mußte hier sein Schlafzimmer gewesen sein. Es hätten Poster an den Wänden, ein Kinder- oder Jugendbett und ein Schülerschreibtisch da sein müssen. Und Platz für einen Computer.

Nichts dergleichen war vorhanden. Nur Möbel, die niemand benutzte, und ein paar Kisten, die auszupacken Harry anscheinend keine Zeit gehabt hatte. Wie lange wohnte er schon hier und arbeitete für die Nachfolgerin der Air America? Diese Frage war gestern ungeklärt geblieben.

Blaine ging noch einmal durch die ganze Wohnung. Aus irgendeinem Grund lief es ihm hier kalt über den Rücken. Die Zimmer bereiteten ihm ein ungemütliches Gefühl, sie waren viel zu steril. Sogar der Teppichboden war gründlich gesaugt worden – man konnte auf dem Grau noch die Streifen des Saugers erkennen.

Vielleicht um verräterische Fußabdrücke und die Spuren eines Handgemenges zu vertuschen.

Warum denke ich an so etwas?

Überhaupt nichts rechtfertigte einen derartigen Verdacht; wahrscheinlich kam es in so mancher Nacht vor, daß Harry Lime nicht nach Hause fand, egal wo er sein Zuhause haben mochte.

McCracken setzte sich im Wohnzimmer auf die weiße Couch und holte das vierseitige psychologische Gutachten über Harry Lime aus der Tasche, das ihm Sal Belamo heute ins Hotel gefaxt hatte. Das Resümee lief weitgehend auf das hinaus, was er schon befürchtet hatte: Harry Lime hatte einen knallharten Defekt und war eigentlich nur bei Verstand, wenn er in der Luft sein durfte. Im Flugzeug bewährte er sich als der beste Pilot, den man sich wünschen konnte, doch außerhalb der Flugkanzel hatte er selten einen klaren Begriff von der Wirklichkeit.

So lautete, obwohl es darin noch mehr zu lesen gab, die Kernaussage des Gutachtens. Wahrscheinlich hätte man Harry längst den Pilotenschein entzogen, wäre seine Begabung als Flieger nicht dermaßen wertvoll gewesen. Für die Air-America-Nachfolgerin war er schlichtweg der ideale Mitarbeiter. Leistungsfähig und unbedingt verläßlich bei der Ausführung eines Auftrags; gleichzeitig konnte man den Umgang mit ihm leicht leugnen und ihn vergessen, falls er geschnappt wurde.

Andererseits wußte McCracken, daß es sich umgekehrt ähnlich verhielt. Niemand mutete Harry etwas zu, was er nicht wollte. Das Fliegen war sein Leben, das einzige in seinem Dasein, das ihm ein gewisses Gespür für die Realität und inneres Gleichgewicht verlieh.

McCracken blätterte als nächstes die auf den neuesten Stand gebrachte Akte durch, die die Regierung über Harry führte. Für ein Jahrzehnt, bis ungefähr 1985, deckten die Informationen sich im wesentlichen mit dem, was Blaine über ihn wußte oder sich von ihm vorstellen konnte. Die Daten aus dem nachfolgenden Jahrzehnt mußten hingegen als purer Routinekram eingestuft werden. Sie enthielten detaillierte Angaben über Harrys Aufträge und Einsatzorte, fast durch die Bank so öde Angelegenheiten, daß Blaine sie keine Stunde lang verkraftet hätte. Langweilige Geschichten. Frachttransporte. Im Golfkrieg ein paar Versorgungsflüge für hinter den feindlichen Linien aktiven Spezialeinheiten. Erkundungseinsätze nach Panama und Grenada. Absolut nichts Außergewöhnliches.

Und nichts davon entsprach Harrys wahrem Niveau. Es lag nicht daran, daß er abenteuerliche Aufträge gescheut hätte. Der Grund war, daß die heutigen Militärs ihm nicht trauten. Er hatte einen zu starken Hang, die Dinge kreativ anzugehen und unterwegs laufend zu improvisieren. Er wollte nur wissen, wohin, wann und was – alles andere betrachtete er als sein Bier. Darum ergingen mittlerweile sämtliche auf dem Dienstweg zu erteilenden Aufträge an andere Leute.

Blaine nahm das Telefon vom Beistelltisch und rief Sal Belamo an.

»Hat's mit dem Fax geklappt, Boß?«

»Besser als mit Harry, Sal.«

»Gibt's Ärger?«

»Er ist verschwunden, und irgendwer hat ziemlich viel Aufwand betrieben, um die Spuren zu verwischen. Die Wände sind blitzblank, und vom Teppichboden hat man das letzte Staubkörnchen gesaugt.«

»Möglicherweise, damit jemand wie du keine Hinweise entdeckt. Heiliger Strohsack, glaubst du, Harry hat wirklich ein Kind, das verschleppt worden ist?«

»Falls ja, müssen in diesem Zusammenhang Telefongespräche geführt worden sein.«

»Das läßt sich ohne weiteres nachprüfen.«

»Ich rufe in einer Stunde noch mal an.«

Obwohl alle Untersuchungen darauf hindeuteten, daß die Luft im Einkaufszentrum keinerlei Risiko mehr darstellte, verpflichteten die Vorschriften Susan und Killebrew vor Aufsuchen des Gebäudes zum Anlegen von Racal-II-Schutzanzügen. Für Susan war damit ein mulmiges Déjà-vu-Erlebnis verbunden, obwohl man inzwischen die Toten aus den Gängen und Geschäften geborgen und zum SKZ-Quarantäneinstitut in den Ozark-Bergen gebracht hatte.

In einem Lastenaufzug fuhren sie ins Kellergeschoß hinunter. Killebrew blieb mit seinem Rollstuhl an Susans Seite und überholte erst, als sie die Tür zum Heizungskeller erreichten.

»Sind hier Tote gefunden worden?« erkundigte sich Susan, sobald sie beide in dem Heizungsraum waren.

»Nein. Wir haben die Leichen der drei diensthabenden Hausmeister unter den Toten oben in den Gängen identifiziert. Schon das muß an und für sich als absonderlich bewertet werden.«

Dank der unter den Helmscheiben installierten Mikrofone konnten sie sich gegenseitig hören. Durch Umstellung des Helmfunks auf eine andere Frequenz bestand die Möglichkeit zur wechselseitigen Verständigung, anstatt den Funkkontakt zur Sonderabteilung beizubehalten; allerdings geboten die Vorschriften, daß die mobile Leitstelle ihre Unterhaltung aufzeichnete. Daß ihre Stimmen weniger rauh und heiser klangen, gelang der Technik jedoch nicht.

»Wieso?«

»Weil nach dem Dienstplan einer von ihnen eigentlich immer im Heizungskeller anwesend sein soll.«

Killebrew stieß die Tür auf und rollte voraus. Sie kamen in einen Hightech-Raum, zu dem die Bezeichnung Heizungskeller nicht so recht passen wollte. Es gab keine Heizkessel im eigentlichen Sinne, sondern moderne Heizelemente, Pumpen und Klimaanlagen-Kompressoren. Letztere hatte man bis auf weiteres abgeschaltet, so daß die Temperatur in der Ladenpassage gegenwärtig knapp unter dreißig Grad lag.

Nichts davon interessierte Susan so sehr wie eine der Wände, an die von Tischplattenhöhe bis unter die Decke Schwarzweiß-Beobachtungsmonitore, 24 mal 24 cm groß, montiert waren.

»Das sieht gar nicht aus, als gehörte es in einen Heizungskeller«, sagte sie.

»Ursprünglich sollte hier eine Wachdienstzentrale eingerichtet werden. Nachträglich haben die Verantwortlichen dann beschlossen, sie im Dachgeschoß unterzubringen, aber da war hier unten die Montage schon durchgeführt worden.«

»Funktionieren diese Monitore?«

»Das weiß ich nicht genau.«

»Nehmen wir mal an«, meinte Susan, »daß das der Fall ist.«

»Ist das wichtig?«

»Allmählich neige ich zu der Ansicht, es könnte bedeutsam sein. In welche Richtung gehen bisher die Ermittlungen?«

»Lokale Masseninfektion mit einem noch unbekannten Virus oder Bakterium.«

»Als rein zufälliges Unglück?«

»Jedenfalls denken wir an einen unbeabsichtigten Vorfall.«

»Unterstellen wir einmal einen Terroranschlag.«

Susan sah Killebrew das Unbehagen sogar durch seine beschlagene Helmscheibe an. »Sie vertreten die Regierung«, wich er aus, »nicht ich.«

»Nun spielen Sie ruhig mal mit. Was wissen wir, was können wir beweisen?«

»Daß derjenige, der hier Dienst tun sollte, während des Vorfalls abwesend war. Das ist eine nachweisbare Tatsache.«

»Wenn er nicht selbst der Täter war. Aber gehen wir einmal von der Annahme aus, daß der wirkliche Täter ihn fortgelockt hat.«

»Das wäre nur eine Hypothese«, wandte Killebrew mit Nachdruck ein.

»Dadurch hätte der Täter oder die Täterin dafür gesorgt, sich ungestört im Heizungskeller aufhalten zu können.« Susans Blick schweifte über die Wand mit den Monitoren. »Er oder sie hätte hier Gelegenheit gehabt, die Wirkung des Anschlags an Dutzenden von verschiedenen Stellen live zu beobachten und zudem genau abzusehen, wann es Zeit zur Flucht ist.« Susan betrachtete die in die Decke integrierten Ventile der Klimaanlage. »Sie sagen, die gekühlte Luft kam von der dritten Etage. Folglich ist der Heizungskeller der Ort im Einkaufszentrum, an den der Organismus zuletzt kam. Bleiben wir mal bei dieser Vorstellung. Auf welchem Weg könnte der Täter oder die Täterin dann geflohen sein?«

»Geht man in dem Korridor, den wir eben durchs Untergeschoß zum Heizungskeller genommen haben, ein Stück weiter, gelangt man zu einem Eingang ins Parkhaus.« Plötzlich erstarrte Killebrew in seinem Rollstuhl. »Da … fällt mir ein, genau dort ist etwas gefunden worden …«

»Was denn?«

»Es ist besser, ich zeig's Ihnen.«