Kapitel
8

»Ich habe Sie gefragt, wer Sie sind.« Susans Stimme war ruhig, ihre Haltung jedoch blieb angespannt, als sie zum Telefon herübersah.

McCrackens Blick schweifte durchs Zimmer. »Sie haben sich hier umgesehen, was? Und mit einigem Erfolg, habe ich den Eindruck.«

»Und was suchen Sie hier?«

»Das gleiche wie Sie, vermute ich.«

»Wer hat Sie geschickt?« fragte Susan. »Washington? Atlanta?«

Blaine schaute sich im Zimmer um, sah sich alles aufmerksam an.

»Na, aus Atlanta kommen doch Sie«, gab er zur Antwort. »Ich glaube, davon können wir mal ausgehen.« Er erwiderte ihren Blick. »Den Jungen haben Sie nicht angetroffen, denke ich, oder?«

Susans Augen weiteten sich, und ihre Wangen liefen in immer dunklerem Rot an. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«

»Mein Name ist Blaine McCracken. Vielleicht wollte ich schon immer einmal miterleben, wie das SKZ, vor allem die Sonderabteilung Brandwacht, eine Krise meistert.«

Mit Mühe verbarg Susan ihre Verblüffung. »Sie wissen verdammt viel, wovon der Durchschnittsbürger keine Ahnung hat.«

»Als durchschnittlich wurde ich bisher von noch niemandem bezeichnet, Miss … Verzeihung, Doktor. Es muß doch Doktor heißen, stimmt's?«

»Sonst scheinen Sie ja über alles informiert zu sein.«

»Ein Freund hat mir mitgeteilt, was hier los ist, hatte aber keine Zeit zu so tiefschürfenden Recherchen.«

»Was hat er Ihnen erzählt?«

»Citypassage von Cambridge. Reicht das als Stichwort?«

»Durchaus, aber das erklärt nicht, was Sie in dieser Studentenbude suchen.«

»Wie erwähnt, das gleiche wie Sie. Ich suche den jungen Mann, der hier wohnt.« Wieder wanderte sein Blick durchs Zimmer. »Oder gewohnt hat.«

»Und sein Name? Seinen Namen haben Sie nicht genannt.«

»Josh. Zufrieden?«

»Susan Lyle.«

»Was?«

»Das ist mein Name. Ich bin Susan Lyle.«

Als nächstes erledigte McCracken, was sein mußte: Er schaute in die Schreibtischschubladen, ohne den Inhalt durcheinanderzubringen.

»Sie haben schon alles durchgesehen.«

»Unten nicht«, sagte Susan Lyle in einem Tonfall, als wisse sie nicht, weshalb sie ihm eigentlich Auskunft erteilte.

McCracken durchsuchte die unteren Schubladen.

»Wenn Sie wirklich wissen, warum ich hier bin«, meinte Susan, »wäre es ja wohl nur fair, mir zu sagen, was Sie hier wollen.«

McCracken hatte gefunden, was er suchte. Er richtete sich auf. »Das«, sagte er und betrachtete einen Schnappschuß, auf dem Harry Lime den Arm um einen etwa vierzehn- oder fünfzehnjährigen Jungen legte. Beide lächelten. Harry trug ein Tropenhemd, das ihm über den Gürtel hing; der Junge hatte lange, dunkle Haare, und sein Lächeln wirkte irgendwie unecht.

Blaine widerstrebte es, das Foto aus der Hand zu geben, als verliere er dadurch Harry zum zweitenmal binnen vierundzwanzig Stunden. Er betrachtete das leicht verschwommene, lächelnde Gesicht des Jungen. Die langen Haare standen ihm gut. Sogar auf dem Foto hatten seine Augen einen seltsam durchdringenden, aber gleichzeitig merkwürdig unreifen Ausdruck. Mit einemmal machte Harrys verrückte, unglaubhafte Geschichte irgendwie Sinn. Es kostete Blaine ziemliche Überwindung, die Aufnahme Susan Lyles ausgestreckter Hand zu überlassen.

»Joshua Wolfe«, sagte sie, als sie das Bild zwischen die Finger nahm.

»Sie kennen ihn?«

»Von einem Foto im Büro des Registrators.«

»Bis vor einem Moment hatte ich noch meine Zweifel, ob es ihn überhaupt gibt.«

Susan Lyle hob den Blick von der Fotografie. Verwirrung vertiefte das anhaltende Schwelen ihres Argwohns. »Was soll das heißen?«

»Der Mann auf dem Bild ist der Grund, weshalb ich hier bin.«

»Dann sind wir doch nicht aus demselben Grund hier, oder?«

»Ich glaube doch, wir hatten nur verschiedene Ansätze.«

»Reden Sie den ganzen Tag über so unverständliches Zeug?« giftete Susan.

»Bis ich meinen Gesprächspartner vertraue, ja.«

»Ich bin hier diejenige, die im Ungewissen ist. Von Ihnen weiß ich nur den Namen, während Sie anscheinend so gut wie alles wissen.«

»Bloß nicht, wo ich Joshua Wolfe finden kann.«

Susan Lyles Miene lockerte ein wenig auf. »Ihnen ist bekannt, was sich in der Einkaufspassage ereignet hat. Der junge Mann könnte unter den Opfern sein.«

»Denkbar wäre es, aber ich halte das für eher unwahrscheinlich. Am Sonntagnachmittag hat jemand zwei Stunden nach dem Zeitpunkt der Katastrophe von dieser Studentenwohnung aus ein Telefonat geführt.«

»Mit Ihrem Freund, dem Mann auf dem Foto?«

»Das ist ja das Komische an der Sache, Doktor. Als ich mit meinem alten Bekannten gesprochen habe, ist kein Wort über ein Telefongespräch gefallen. Ganz im Gegenteil, er hat eindeutig gesagt, er hätte seit längerer Zeit nichts von dem Jungen gehört. Er ist sogar der Ansicht, man hätte ihn entführt.«

»Und er möchte, daß Sie ihn aufspüren.«

»Richtig.«

»Und er hält Sie für den geeigneten Mann.«

»Ich schulde ihm einen Gefallen. Einen ziemlich großen, kann man sagen.«

»Deswegen sind Sie jetzt hier.«

»Ich bin hier, Doktor, weil mein Bekannter gestern abend verschwunden ist und der Junge der einzige Anhaltspunkt für den möglichen Grund ist. Bloß sieht es jetzt so aus, als wäre Joshua Wolfe ebenfalls verschwunden.«

Susan wirkte perplex. »Weshalb beantworten Sie so bereitwillig meine Fragen und erzählen mir das alles?«

»Weil ich meinerseits ein paar Fragen an Sie habe und mir denke, daß unseren jeweiligen Interessen mit einem Informationsaustausch am besten gedient sein dürfte.«

»Zufällig vertrete ich die Interessen der Regierung der Vereinigten Staaten.«

»In der Sonderabteilung Brandwacht. Mir ist klar, daß Sie Ihre Vorschriften und Weisungen beachten müssen, und ich kann mir denken, daß Sie alle keinen Aufwand scheuen, um über das, was passiert ist, nichts durchsickern zu lassen. Aber das funktioniert ja doch nicht. So etwas gelingt in den seltensten Fällen.«

»Na gut, sagen wir mal, wir sind beide dabei, ein Rätsel zu lösen.«

»Und das Rätsel dreht sich um einen verschwundenen Jungen.«

»Er ist fünfzehn«, konkretisierte Susan Lyle. »Im September wird er sechzehn.«

»Und den Sommer verbringt er in Harvard.«

»Nicht nur den Sommer, er ist ganzjährig da.« Blaine merkte auf. »Seit wann?«

»Seit vergangenem Herbst.«

»Das bedeutet ungefähr seit der Zeit, als nach Harrys Meinung die Entführung stattgefunden hat.«

»Und in welchem Verhältnis steht er zu Ihrem Bekannten?«

»Harry behauptet, der Vater dieses Burschen zu sein.«

»Nein, ausgeschlossen, der Familienname lautet …«

»Glauben Sie nicht alles, was Sie lesen.«

»Immerhin steht der Name auf dem Immatrikulationsformular des Jungen.«

»Das ist die Art, in der sie so was handhaben.«

»Wie wer es handhabt?«

»Sie haben Harry nach Key West aufs Altenteil abgeschoben und ihn dann verschwinden lassen, nachdem die Erinnerungen dort ihn eingeholt hatten. Möglicherweise waren sie auch hinter dem Jungen her. Vielleicht ist er deswegen verschwunden.« Diese Möglichkeit, befand McCracken, machte aber nur auf den ersten Blick Sinn. »Das erklärt allerdings Ihre Anwesenheit noch nicht, stimmt's, Doktor? Eine leitende Mitarbeiterin der Sonderabteilung Brandwacht verläßt den Katastrophenort und verbringt den Nachmittag in einer Studentenbude der Universität Harvard. Dafür haben Sie doch sicher wichtige Gründe, nehme ich an.«

»Selbst wenn es mir gestattet wäre, Sie einzuweihen, was bringt Sie zu der Auffassung, ich sei dazu bereit?«

»Inzwischen dürften Sie gemerkt haben, daß ich Ihnen dabei behilflich sein kann, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Aber wenn Sie mir nicht helfen, wüßte ich nicht, warum ich nicht einfach meiner Wege gehen sollte, wenn ich gesehen habe, was es hier zu sehen gibt.«

»Sie arbeiten für Washington.«

»Früher einmal. Heute nicht mehr. Ich werde aber bei den Geheimdiensten nach wie vor in der Kategorie Unbedenklich geführt.« Blaines Blick fiel auf das Telefon. »Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen eine Telefonnummer, unter der Sie meine Angaben nachprüfen können.«

»Ich kenne die Nummer.«

»Also rufen Sie an.«

»Nicht nötig.«

»Dann verraten Sie mir, was Sie hier machen.« Susan Lyle zögerte, aber nur für einen Moment. »Ich glaube, daß Joshua Wolfe der Urheber dessen ist, was in der Citypassage von Cambridge passiert ist«, erklärte sie. »Und ich bin der Ansicht, daß es sich dabei um einen Unfall gehandelt hat.«

»Und was nun?« fragte Susan, nachdem sie ihre Schlußfolgerungen dargelegt hatte. Aufgrund ihrer inzwischen gewonnenen Einsicht, daß es nichts mehr zu verschweigen gab und dieser Fremde namens McCracken ihr tatsächlich eine Hilfe sein konnte, hatte sie ihn in alles, was sie herausgefunden hatte, eingeweiht. Als sie geendet hatte, empfand sie ihn nicht mehr als Fremden. Irgend etwas an ihm erweckte ihr Vertrauen und zerstreute ihren Argwohn. In seinen Augen stand Überzeugungskraft, ebenso wie in jedem Wort, das er von sich gab.

»Sie erledigen, was Sie tun müssen«, antwortete er, »und ich erledige, was ich zu tun habe.«

»Wie bleiben wir in Verbindung?«

»Ich kann Ihnen zwei streng private Telefonnummern nennen, unter denen ich erreichbar bin. Bei der einen ist jemand auf Posten, bei der anderen nicht.«

»Was meinen Sie damit, auf Posten?«

»Es sitzt jemand am Apparat. Betrachten Sie ihn als Verbündeten. Ich vermute, Sie können keine ähnliche Vorsichtsmaßnahme treffen?«

Kurz dachte Susan Lyle nach. »Ich könnte einen privaten Anrufbeantworter einrichten. Wäre das annehmbar?«

»Solange Sie die Nummer nur mir geben.«

»Ist das wirklich notwendig?«

»Wenn wir verhindern wollen, daß diejenigen, die hinter Harrys Verschwinden stecken, zwischen uns beiden einen Zusammenhang herstellen, ja.«

»Das kommt mir ein bißchen paranoid vor.«

»Zwischen Paranoia und Vorsicht verläuft eine feine Grenze, Doktor«, versicherte McCracken. »Ich habe sie schon kennengelernt.«

»Ich nicht.«

»Bis jetzt.«