Kapitel
34

»Wollen Sie jetzt übernehmen?« fragte Darkfeather Susan.

»Aber gern«, antwortete sie froh und hoffte, daß sie den Jungen jetzt auf ihre Art behandeln konnte.

»Gut, dann erkläre ich Ihnen jetzt, was Sie zu tun haben. In zwei Stunden muß eine zweite Schicht Paste über die erste gestrichen werden.«

Er stellte die Pfanne mit der mittlerweile hartgewordenen Masse vor sie. »Erwärmen Sie das hier wieder, bis der Brei weich ist und anfängt zu köcheln. Haben Sie mich verstanden?«

Susan nickte.

»Sie brauchen nicht so viel aufzutragen wie ich beim ersten Mal, und Sie müssen auch nicht erst den alten Belag abwischen. Wenn man die Paste auf die Schicht aufstreicht, sieht sie etwas anders aus. Das ist ganz normal, und Sie müssen sich deswegen keine Sorgen machen. Das Zeug ist stark genug, um durch den alten Belag zu dringen. Ist das alles klar?«

Wieder nickte Susan.

»Überprüfen Sie alle zwanzig Minuten seine Lebensfunktionen. Und wenn Sie glauben, es gibt ein Problem, dann holen Sie mich.«

Er packte den Wollsack wieder zusammen, stand auf und schlüpfte durch die Zeltklappe nach draußen. Susan legte eine Hand auf seinen Arztkoffer, den er zurückgelassen hatte, und wollte ihn gerade öffnen, als der Medizinmann den Kopf wieder hereinschob.

»Nicht die Medizin wird ihm jetzt helfen, Doktor, und auch nicht der Borkenbrei«, erklärte er und nur sein Gesicht war zu sehen. »Ihr Geist ist seinem sehr nahe. Beide werden sich vereinigen, und er wird sich an Ihrer Stärke nähren. Deswegen lasse ich Sie jetzt auch mit ihm allein. Keine Bange, Sie haben mehr Kraft in sich, als Sie vermutlich glauben.«

Susan zog die Hand von dem Arztkoffer zurück.

»Das heilige Land darf nicht entweiht werden«, erklärte der Häuptling.

»Mit anderen Worten, wir können keinen von ihnen töten?« fragte Blaine, obwohl er die Antwort schon kannte.

»Nicht, wenn uns die Geister, die dieses Land ihr Heim nennen, beistehen sollen«, entgegnete Wareagle. »Außerdem dürfen wir nur solche Waffen einsetzen, die auch dem Stamm zur Verfügung standen, der damals die legendäre Schlacht geschlagen hat.«

»Ich fürchte, die bösen Jungs von der anderen Seite werden sich nicht an diese Spielregeln halten wollen.«

»Das wird sich für uns als Vorteil erweisen.«

»Sie bringen aber sicher eine Menge zum Ballern mit.«

»Um so besser für uns«, sagte Silver Cloud. »In jener Schlacht haben zehn Krieger fünfhundert Feinde lange genug aufgehalten, damit der Rest des Stammes fliehen und sich in Sicherheit bringen konnte.«

»Wie viele sind wir denn auf unserer Seite?« wollte McCracken wissen.

»Acht Krieger. Zusammen mit uns beiden sind wir dann zehn.«

»Mehr braucht es auch nicht. Genausowenig wie damals in der Schlacht«, bemerkte der Häuptling.

»Und was wird aus dem Dorf?« fragte McCracken den alten Mann.

»Das untersteht meiner Verantwortung. Und es wird wieder so geschehen wie damals.«

»Sie sind darauf vorbereitet?«

»Wer in der Gegenwart überleben will, muß Vergangenes wiederholen.«

»Wäre schön, wenn es für uns auch noch eine Zukunft gäbe.«

Joshua Wolfe kam langsam wieder zu sich. Das erste, woran er sich erinnern konnte, war sein Versuch, die Lider hochzuzwingen. In diesen Minuten schienen seine sämtlichen anderen motorischen Fähigkeiten abgeschaltet zu sein. Er konnte weder seine Hände noch seine Füße spüren, und nicht einmal daran denken, sie zu bewegen. Es kam ihm so vor, als lägen seine Gliedmaßen in tiefem Schlaf.

Der Junge wollte sprechen, aber seine Lippen verweigerten den Dienst, die Zunge fühlte sich dick und geschwollen an, und jemand schien seinen Gaumen mit Sandpapier abgerieben zu haben.

»Josh? Komm schon, Junge … Wach auf. Du kannst es. Ich weiß es.«

Eine ihm vertraute, sanfte und warme Stimme. Er fühlte ein Gewicht auf seiner rechten Hand, so als wolle jemand sie drücken. Er zwang sich dazu, auch wenn es ihn große Anstrengung kostete, den Druck zu erwidern. Dann gelang es ihm auch, die Augen zu öffnen, und er erkannte Susan Lyle, die sich über ihn beugte, um auch seine Linke in ihre Hände zu nehmen.

»Kannst du mich hören? Weißt du, wer ich bin?«

Er murmelte ihren Namen und sah, wie Tränen ihre Augen füllten, als das Leben in ihn zurückströmte.

»Wo bin ich?« brachte er schließlich hervor und hob den Kopf.

»In einem Indianer-Reservat.«

»Was?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Sieht nicht so aus, als würde ich hier bald wieder wegkommen.«

Er spürte, wie Susan die Arme um ihn legte und ihn an sich zog. Joshua erwiderte mit seinen schwachen Kräften die Umarmung, weil er nicht losgelassen werden wollte.

»Du hast mir das Leben gerettet«, erklärte sie, als sie sich endlich voneinander trennten. »Ich verdanke dir mein Leben.«

»Das war das mindeste, was ich tun konnte«, krächzte er. »Schließlich sind Sie der einzige Mensch seit Harry Lime, der mir beigestanden hat.«

»Nun, mittlerweile gibt es noch einen.«

»Harry Limes Freund«, sagte Susan, nachdem es Josh gelungen war, sich aufzurichten und die Beine zu verschränken. »Er hat uns beide aus den Klauen von Gruppe Sechs gerettet.«

»Wo ist er?«

»Draußen. Soll ich ihn holen?«

»Nein, noch nicht. Ich möchte … erst einmal nur hier sitzen.« Er rutschte näher ans Feuer heran und bemerkte erst jetzt die rote Masse auf seiner nackten Brust. »Über so etwas habe ich schon einmal gelesen. Wissen Sie, was das ist?«

»Irgendeine Rindenart.«

Joshua schnüffelte an dem Rot an seinem Arm. »Riecht stark.«

»Hauptsache, es funktioniert.«

»Genau wie CLAIR.«

Er starrte sehr lange ins Feuer, bevor er wieder sprach. »Ich habe viel nachgedacht, während ich bei Gruppe Sechs war. Das kann ich nämlich am besten, nachdenken. Ich habe keine Ahnung, wo all die Gedanken herkommen. Und ich weiß auch nicht, wie ich das mache. Zumindest wußte ich das früher nicht. Aber jetzt weiß ich von der Operation Offspring. Meine Eltern waren in Wahrheit zwei Reagenzgläser, die Dr. Haslanger zusammengekippt hat. Vielleicht ist er sogar mein Vater. In mancher Hinsicht bin ich ihm ja ähnlich. Wir beide haben … Geister … und wir beide sind Mörder …«

»Das stimmt nicht …«

»Doch. Und wir beide tun das alles im Namen der Wissenschaft und des Fortschritts. Dabei ist die Motivation nicht so wichtig, allein das Ergebnis zählt.«

Joshua schlang die Arme um sich und erschauerte leicht.

»Ich wollte alles besser machen. Alles anders. Ich wünschte mir so sehr, daß die Menschen mich mögen. Harry hat mich gemocht, aber der ist tot. Das ist mir jetzt klar. Wahrscheinlich habe ich es schon die ganze Zeit gewußt. Sie mochten mich und sind auch fast ums Leben gekommen. McCracken mag mich vielleicht, aber wenn es ihm schon nicht gelungen ist, Harry zu retten, wie kann ich dann hoffen, daß ihm das bei mir gelingt?«

»Weil das sein Job ist und er sich darauf versteht.«

»Genausogut wie ich mich auf meinen Job. Ha! Deswegen haben ich mich ja auch von ihnen schnappen und zur Gruppe Sechs bringen lassen. Ich mußte einen Weg finden, auf mich selbst achtzugeben und sie von mir fernzuhalten. Ich wollte Ihnen davon erzählen, wenn wir draußen gewesen wären, aber dann …« Er atmete tief durch. »Niemand kann mich retten, außer mir selbst, und genau das werde ich jetzt tun.«

»Willst du dich vielleicht zu einem Leben verurteilen, in dem deine Besessenheit deine einzige Gesellschaft ist? Sie wird dir nämlich überallhin folgen und alle deine Entscheidungen beeinflussen. Glaub mir, ich weiß das.«

»Woher?«

»Ich habe es selbst erlebt. Erlebe es noch.«

»Sie waren niemals so wie ich. Nicht im entferntesten. Wenn man ein Zuhause hat, in das man zurückkehren kann, bleibt einem eine Wahl. Aber ich habe nichts mehr. Vor Cambridge hatte ich noch eine Wahl, aber danach – alles weg. Ich kann mich nicht stellen, weil das sofort die Typen von Gruppe Sechs auf meine Fährte bringt. Was soll ich also tun? Zu Fuchs zurückgehen und mich bei der Gruppe Sechs verstecken, ihm und Haslanger dabei helfen, noch mehr Menschen zu töten?

Ich glaube, Sie verstehen mich jetzt langsam. Und Sie hatten recht: Es existiert ein zweites Fläschchen mit CLAIR. Ich habe es in Disney World versteckt, wo niemand außer mir es jemals finden kann.«

Josh griff plötzlich in seine Hosentasche und stellte erleichtert fest, daß die Phiole mit der klaren Flüssigkeit, die er bei der Gruppe Sechs hergestellt hatte, noch dort war. »Alles führt immer wieder zurück zu dem ersten Gedicht, das ich geschrieben habe und das Ihnen so gut gefällt.«

»Die Feuer der Mitternacht?«

»Ich erkenne jetzt endlich, was es mit diesen Feuern auf sich hat und wozu sie gedacht sind. Und soll ich Ihnen noch etwas verraten?«

»Ja.«

»Die Mitternacht kommt, wann immer ich das will.«

McCracken drehte sich um, als er jemanden aus dem Tipi kommen hörte. Er erwartete, Susan Lyle zu sehen, doch statt dessen schwankte Joshua wie ein Betrunkener nach draußen.

»Ich glaube, ich muß mich bei Ihnen bedanken«, sagte der Junge und blieb anderthalb Meter vor ihm stehen.

»Nur keine Umstände.«

»Ich weiß, wer Sie sind. Harry hat mir viele Fotos von Ihnen gezeigt und gesagt, Sie seien der beste Freund, den er jemals gehabt habe. Deswegen sind Sie auch zur Gruppe Sechs gekommen, nicht wahr? Sie haben nach seinen Mördern gesucht, nicht?«

»Ja.«

Tränen rannen Joshua aus den Augen, und er wischte sie fort. »Warum haben sie das gemacht? Ausgerechnet Harry … Er hat doch niemals jemandem etwas zuleide getan …«

»Ich glaube, sie haben gedacht, er könne ihnen schaden. Harry ist nie mit dem Alleinsein zurechtgekommen. Wenn er mit anderen zusammen war, war für ihn alles bestens …« Blaine schüttelte den Kopf. »Zum Beispiel, wenn er im Krieg mit einem Team unterwegs war … oder solange er mit dir zusammen sein konnte …

Als du fort warst, hat er das irgendwie nicht richtig auf die Reihe bekommen. Am Ende hat er sogar geglaubt, man habe dich ihm gestohlen. Er ist dann zu mir gekommen, weil er Hilfe brauchte. Ich sollte dich für ihn finden. Harry sagte mir, du wärst sein Sohn, und jemand habe dich gekidnappt.«

»Wann ist er zu Ihnen gekommen?«

»Am Montag. Auf Kuba.«

»Kuba?«

»Ich hatte dort einen Auftrag zu erledigen. Harry hat mich herausgeholt, so wie er das früher schon oft gemacht hat.«

»In Vietnam?«

»Ja.«

Joshua sah ihn jetzt direkt an. »Er hat viel von Vietnam gesprochen und mir erzählt, wie sehr er es vermisse. Harry meinte, das sei die einzige Zeit in seinem Leben gewesen, in der er glücklich gewesen wäre.«

»Hm, ich weiß nicht, ich glaube, er hat sich auch ziemlich gut gefühlt, als du bei ihm warst.«

Der Junge ließ sich nicht anmerken, ob ihn dieses Lob freute. »Tja, wahrscheinlich deshalb, weil er so tun konnte, als wäre unser Zusammensein echt.«

»War es das denn nicht?«

»Es … sollte nicht so sein …«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, vielleicht irgendwie doch. Er hat mich zum Angeln mitgenommen, und wir haben auch ein Menge anderer Dinge zusammen unternommen …« Joshua schwieg für einen Moment. »Harry hat immer wieder von Ihnen erzählt. Haufenweise alte Geschichten. Er sagte, Sie seien der zäheste Bursche, den er je kennengelernt habe.«

»Nur der zweitzäheste. Schließlich kannte er auch Johnny Wareagle. Hat er dir auch gesagt, daß ich gerne viele Fragen stelle?«

»Nein.«

»Hier kommt gleich die erste: Hast du, bevor du bei Gruppe Sechs gelandet bist, jemals von unserem Freund Dr. Haslanger gehört?«

»Seinen Namen kannte ich nicht. Ich wußte zwar, daß jemand hinter dem Ganzen steckte und die Fäden zog, aber irgendwie hat er mich nie richtig interessiert.«

»Hinter was hat er gesteckt?«

»Hinter mir, würde ich mal sagen. Dahinter, daß ich von einem Ort zum anderen verfrachtet wurde; daß ich ständig auf neue, spezielle Schulen mußte; daß ich mein Äußeres häufiger verändert habe, damit niemand auf die Idee käme, Nachforschungen über mich anzustellen …« Die Miene des Jungen veränderte sich. »Das Komische daran ist nur, daß sie bei Gruppe Sechs bestritten, etwas damit zu tun zu haben.«

»Haslanger hat das abgestritten?«

Der Junge nickte. »Aber wenn er es nicht war, wer dann? Ich meine, irgendwer mußte doch hinter den Machern stehen und ihnen ihre Befehle geben.«

»Macher?«

»Ja. So habe ich die Männer genannt, die ständig um mich herum waren. Die mich beobachteten, Dinge für mich arrangierten. Ich habe sie nie nach ihren Namen gefragt, und ihre Gesichter wechselten regelmäßig. Sie waren mir im Grunde egal. Wenn Harry oder ich irgend etwas gebraucht haben, haben sie es besorgt.« Joshua lächelte. »Wir haben uns oft einen Spaß daraus gemacht, uns wegzuschleichen.«

»Zum Beispiel, wenn ihr Angeln gehen wolltet.«

»Ich habe nie auch nur einen einzigen verdammten Fisch gefangen!«

»Und Harry?«

»Auch nicht. Trotzdem war es schön, mit ihm am Bach zu sitzen.« Kurz verzogen sich seine Lippen zu einem Strahlen. »Einmal haben wir auf dem Weg zurück bei einer Fischhandlung angehalten. Als wir dann nach Hause kamen, warteten da schon ganze Wagenladungen von Machern auf uns. Harry hat ihrem Anführer den Fisch, den wir vorher gekauft haben, einfach in die Hand gedrückt …« Der Junge seufzte. »Sie waren Harrys bester Freund.«

»Das bedeutet mir sehr viel.«

»Ihm würde es sicher viel bedeuten, wenn er wüßte, was Sie gerade tun. Daß Sie hinter den Leuten her sind, die …« Joshua suchte nach Worten, ließ den Satz unbeendet und begann einen neuen. »Sie wollten Rache, nicht wahr? Deswegen waren Sie hinter Haslanger her.«

»Manchmal, mein Junge, ist Rache das einzige, das uns bleibt.«

»Fühlt man sich danach besser?«

»Eine gute Frage. Ich glaube, ›besser‹ ist nicht das richtige Wort. Man fühlt sich danach würdiger. Ja, ›würdiger‹ trifft es eher. Man muß für die Menschen eintreten, die für einen selbst eingetreten sind. Ohne Harry wäre ich schon mindestens ein dutzendmal tot. Ich war ihm etwas schuldig. Und wenn man es ganz grundsätzlich betrachtet, basieren die meisten guten Freundschaften darauf, daß der eine dem anderen etwas schuldet.«

»Hätten Sie Haslanger getötet? Haben Sie das immer noch vor?«

»Ich weiß es nicht, ganz ehrlich.«

»Aber Sie haben ihn doch gefunden. Durch mich. Stimmt es, was Colonel Fuchs gesagt hat? Daß er mich geschafften hat, so wie dieses Ungeheuer, das Susan töten wollte?«

»Du hast ihr das Leben gerettet.«

»Sie weichen meiner Frage aus.«

»Das ist eigentlich nicht mein Stil. Ich wollte dir nur zeigen, daß das, was du getan hast, viel wert ist.«

»Schön. Dann beantworten Sie mir jetzt meine Frage.«

»Ja.«

Blaines Ehrlichkeit schien den Jungen zu verblüffen. »Die meisten anderen hätten drum herum geredet.«

»Das ist ebenfalls nicht mein Stil.«

»Wußten Sie, daß er niemals schläft?«

»Wer?«

»Haslanger. Er schläft nicht, hat das seit Jahren nicht mehr getan, seit es ihn einmal beinahe umgebracht hätte. Mir hat er gesagt, er käme mit seinen Geistern nicht mehr zurecht. Also legt er sich nicht mehr hin; denn er weiß genau, wenn er das nächste Mal einschläft, kriegen ihn die Geister, und dann wacht er nie mehr auf. Ich fürchte, ich werde genau so wie er. Die ganze Zeit nach dem Elektroschock habe ich nicht geträumt. Aber ich weiß genau, wenn ich jetzt einschlafe, gehen die Alpträume wieder von vorne los.«

»Jeder fürchtet sich vor etwas.«

»Sie auch?«

McCracken nickte. »Ich fürchte mich vor vielen Dingen. Man kann der Furcht nicht entgehen, aber man kann dafür sorgen, daß sie einem nutzt.«

»Und wie soll das gehen?«

»Indem man sie in bestimmte Bahnen lenkt. Sie in etwas verwandelt, das man einsetzen kann. Verstehst du das?«

Joshuas Hand in der Jeanstasche umschloß das Fläschchen. »Ja, ich glaube schon.«

Sal Belamo erreichte das Reservat eine Stunde nach Sonnenaufgang. Er sah genauso mitgenommen und staubig aus wie der alte Mietwagen, mit dem er gekommen war.

»War 'ne echte Höllenfahrt, Boß«, rief er beim Aussteigen. Er marschierte sofort zum Kofferraum, als Blaine und Wareagle auf ihn zukamen. Bei seinem letzten Anruf hatte McCracken ihm eine umfangreiche Einkaufsliste durchgegeben. »Hab' alles besorgt, Boß. War gar nicht so einfach, alles zu kriegen und auch noch hierher zu befördern. Wenn du das nächste Mal was brauchst, wende dich doch lieber an die Expreßgutzustellung bei der Post.«

»Wir brauchen das alles nicht mehr«, sagte Blaine mit einem Seitenblick auf Wareagle.

Belamo hatte gerade den Schlüssel in das Schloß gesteckt und hielt jetzt verblüfft inne. »Habe ich das gerade richtig gehört?«

»Hier hat sich inzwischen einiges geändert. Unter anderem auch die Rolle, die du bei uns übernehmen wirst.«

»Dann hör dir lieber erst mal an, was ich zu sagen habe, Boß, bevor du irgendwas abänderst. Zwei ziemlich finstere Typen waren am Flughafen, als ich dort ankam. Sie haben auf irgendeine Maschine gewartet. Der eine von ihnen kam mir ziemlich bekannt vor. So ein vietnamesischer Zwerg, den sie früher einmal Oberst Ling genannt haben. Zur Zeit arbeitet er mit einem Mann zusammen, dem du zu einer Behandlung in plastischer Chirurgie verholfen hast. Unser alter Freund Thurman.«

»Er hatte die Abreibung damals verdient.«

»Warum hast du ihn nicht gleich umgelegt?«

»Das ging nicht. Er war zu wichtig für das Netzwerk. Und die zweitbeste Lösung war, ihm die Visage zu verbiegen.«

»Was ist das denn für eine Geschichte, Blainey?«

»Eine, die ich dir noch nicht erzählt habe, Indianer. Thurman hat bei der Operation White Star mitgemacht. Damals, als wir aus Kambodscha abgezogen sind. Er hatte sich mit den einheimischen Drogenbaronen angefreundet. Alles lief bestens, bis er Special-Forces-Truppen eingesetzt hat, die Dörfer zu terrorisieren, in denen das Zeugs geerntet wurde. Einige von unseren vietnamesischen Verbündeten sind zu mir gekommen und haben gefragt, ob ich nicht etwas dagegen unternehmen könnte.

Thurman hat es nicht so gern gesehen, daß ich mich eingemischt habe, und hat mir ein paar von seinen Schlägern auf den Hals geschickt. Nachdem ich mit ihnen fertig war, habe ich ihm einen Besuch abgestattet. Der Bursche konnte ziemlich gut mit seinem Messer umgehen. Verdammt gut sogar.«

Belamo übernahm wieder: »Ich bin nicht lange genug am Flughafen geblieben, um auch Freund Thurman zu sehen. Aber solange ich da war, tauchte noch einer auf. In einem Laster.« Sal sah Johnny an. »Ein Indianer.«

»Ein Spurensucher, Blainey.«

»Silver Clouds Vision …«

»… trifft ein.«

»He, Auszeit, Jungs«, unterbrach Belamo die beiden. »Wäre einer von euch wohl so freundlich, mir zu erklären, was zum Himmeldonnerwetter hier eigentlich los ist?«

»Gut, dich wieder auf den Beinen zu sehen, Junges«, sagte Will Darkfeather, nachdem er Joshua gründlich untersucht hatte.

»Die Pampe war von Ihnen, nicht wahr?«

»Sie gehört den Geistern, Junges. Sie borgen sie mir manchmal für eine Weile. Sieht wirklich ordentlich aus. In ein paar Tagen bist du wieder so gut wie neu.«

»Das trifft sich ausgezeichnet«, meinte Blaine, der am Zelteingang auftauchte, »weil er nämlich von hier fort muß.«

Joshua sah ihn mit einem kalten Blick an. »Sie sind wieder hinter mir her, was?«

»Irgendwer sucht dich, und ich möchte nicht, daß du oder Susan in der Nähe sind, wenn sie hier auftauchen.«

»Sie können sie nicht stoppen. Sie können sie höchstens für eine Weile aufhalten, aber sie kommen immer wieder.«

»Hör mal, Junge …«

»Nennen Sie mich nicht mehr so! Weder Junge noch Sohn noch sonst was.« Er zeigte auf den Medizinmann. »Der da nennt mich Junges. Wissen Sie nicht, daß ich einen Namen habe?«

»Tut mir leid, Josh«, lenkte McCracken ein. »Und jetzt laß mich bitte zu Ende reden. Ich kann es mir nicht leisten, weiter als heute in die Zukunft zu blicken. Vielleicht hast du recht, und wir können sie nie stoppen. Aber eines darfst du nicht vergessen: Ich kenne das Spiel und seine Regeln. Also spiel bitte mit.«

»Und eines sollten Sie nicht vergessen: Es ist auch mein Kampf.«

»Und du solltest auch nicht vergessen, um wen es hier geht: um Harry.«

Der Junge warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Ich habe dich durch Harry gefunden, und ich werde das tun, von dem ich annehme, daß er es von mir gewünscht hätte.«

Joshua senkte den Blick. Leise sagte er dann: »Ich hätte gern, daß die ganze Geschichte damit zu Ende ist.«

»Da kann ich dir zustimmen.«

»Aber so wird es nicht kommen. Es ist niemals vorbei.«

»Das werden wir ja sehen«, entgegnete McCracken mit soviel Überzeugungskraft, wie er nur aufbieten konnte.

»Der Indianer hat in diesem Punkt recht, Boß«, erklärte Belamo, als Susan und Joshua zu seinem Wagen gingen.

»Entscheiden wir neuerdings per Handzeichen, wie vorgegangen wird?«

»Du weißt, was ich meine. Ich weiß, wie du aufgewachsen bist und was aus dir geworden ist.« Seine narbigen Gesichtszüge lockerten sich etwas auf, aber sein Blick blieb fest und entschlossen. »Aber es gibt ein paar Dinge, die ich vielleicht besser erledigen kann als du.«

»Was soll das bedeuten, Sal?«

»Das weißt du längst, Boß. Und dir ist auch klar, daß das der einzig sichere Weg ist, hier rauszukommen.«

McCracken warf einen Blick auf den Jungen. »Ich kann es trotzdem nicht akzeptieren.«

»Er ist nicht wie du.«

»Nicht wie ich? Mann, da ist genau das Problem. Du bist wie ich«, er drehte sich kurz zu Wareagle um, »und der Indianer ist wie ich. Wir leben für unsere Arbeit, und wenn sie getan ist, denken wir schon an den nächsten Auftrag. Wenn das einmal aufhört, höre ich auch zu existieren auf, denn meine Arbeit ist mein Selbst. Sie ist das einzige, an dem ich mich festklammern kann, und hinter mir kommt nichts mehr, das ich dagegen eintauschen könnte.

Wenn ich Joshua Wolfe ansehe, erkenne ich etwas Ähnliches. Er hat mit der Geschichte genausoviel zu tun wie du, Johnny und ich. Der Junge hat nicht darum gebeten, in die Sache verwickelt zu werden, aber jetzt steckt er trotzdem drin und muß versuchen, heil wieder rauszukommen.«

»Er ist verzweifelt, Blainey«, wandte Wareagle ein. »Er möchte unbedingt Verständnis und respektiert werden. Joshua verfolgt seine Interessen genauso wie wir die unseren. Aber ihm ist es vorherbestimmt, sie nie zu verwirklichen. Deswegen wächst seine Verzweiflung immer weiter, und Verzweiflung ist ein Gefühl, das uns bei unseren Taten noch nie genützt hat.«

Blaine betrachtete die Silhouette des Jungen, die durch ein Wagenfenster zu erkennen war. »Er hat aber niemanden getötet.«

»Jedenfalls nicht absichtlich«, bemerkte Belamo.

»Er ist trotzdem kein Killer«, sagte McCracken. »Und ich kann ihn nicht im Stich lassen. Wenn ich ihn hängenlasse, gebe ich damit auch mich auf. So einfach ist das. Ich habe das noch nie getan und weiß gar nicht, wie das ist.«

»Er ist also wie wir, wie du und ich, Blainey?«

»Ja.«

»So wie wir sind, oder so wie wir waren?«

»Wo ist denn da der Unterschied, Indianer?«

»Es ist ein großer Unterschied. Ich hatte mich damals in den Wäldern verirrt, bevor du gekommen bist und mich wieder herausgeholt hat. Du selbst hast dich damals ins Exil zurückgezogen und dich aus eigener Kraft wieder zurückgebracht. Was uns damals möglich war, ist uns heute vielleicht nicht mehr möglich. Die Wut, die wir damals unterdrückt haben, ist jetzt besiegt. Davon ist der Junge aber noch weit entfernt.«

Blaine blickte immer noch auf den Wagen. »Und ich sage dir, er ist kein Killer, Indianer. Das sagt mir mein Gefühl.«

»Wir nehmen eine große Verantwortung auf uns, Blainey.«

»Gibt's noch andere Neuigkeiten?«

Killebrew sah sich auf dem Video-Monitor im Mount Jackson-Kommunikationszentrum wieder dem Gesicht von Dr. Furgon Gage gegenüber, dem Direktor der SKZ. Killebrew wurde auf beiden Seiten von einem Paar Sicherheitsmännern flankiert. Einer der Männer hatte Killebrew tatsächlich Handschellen anlegen wollen, ehe ihm bewußt geworden war, daß in diesem Fall eine Fluchtgefahr auszuschließen war. Das war vor einigen Stunden im Isolationslabor gewesen, und seitdem wurde er verhört, und zwar mit immer denselben Fragen.

»Tut mir leid, Dr. Killebrew, aber Ihr beharrliches Schweigen ist mir einfach unbegreiflich«, erklärte Gage mit angestrengter und müder Stimme. »Ich will von Ihnen doch nur wissen, ob Sie mir Ihr Verhalten irgendwie erklären können.«

Killebrew blieb stumm.

»Haben Sie mit Dr. Lyle gemeinsame Sache gemacht? Können Sie uns sagen, wo sie sich aufhält?«

Killebrew schluckte nur.

»Sie haben Ihre Daten gelöscht, Doktor«, fuhr der Leiter fort. »Ich möchte, daß Sie sie rekonstruieren. Es ist von größter Wichtigkeit, daß Sie uns alles, was Sie wissen, mitteilen, damit wir …«

Im SKZ-Hauptquartier in Atlanta, Georgia, hielt Gage abrupt inne, als Dr. Killebrews Gesicht mit einem blendenden Lichtblitz verschwand. Im ersten Moment glaubte er, es gäbe Übertragungsprobleme, bis kurz darauf das Getöse einer schweren Explosion aus den Lautsprechern dröhnte.

»Killebrew, können Sie mich hören?«

Aber die Verbindung brach endgültig zusammen, als die SKZ-Einrichtungen zu nichts zersprengt wurden und die Trümmer in einer gigantischen Hitzewelle aus einer Seite des Mount Jackson geblasen wurden.