Kapitel
31

»Sagen Sie mir, daß das kein totales Fiasko gewesen ist, Doktor«, rief Fuchs und störte Haslanger bei seiner Arbeit am Computer. »Bestätigen Sie sofort, daß die Informationen auf dem Chip, den wir in der Bonbondose im Zimmer des Jungen gefunden haben, genau die waren, nach denen wir suchten.«

»Unsere Computer analysieren die Formel gerade«, antwortete Haslanger und drehte sich mit seinem Stuhl zu dem Colonel um.

»Aber das ist doch die Original-Formel von CLAIR. Soviel haben Sie bereits feststellen können.«

»Ja. Alles deutet darauf hin.«

Fuchs entspannte sich sichtlich. Sein Blick wanderte zu dem Bildschirm, vor dem Haslanger saß. »Ich nehme an, daß Sie das gerade überprüfen.«

»Nein, tue ich nicht«, erklärte Haslanger und drehte den Monitor so, daß Fuchs draufschauen konnte. »Was wir hier vor uns haben, ist das, woran Joshua Wolfe heute nachmittag im Labor gearbeitet hat. Er hat geglaubt, er hätte die Daten gelöscht, aber unsere Computer sind etwas zu schlau für ihn.«

»Doktor, ich glaube, es wäre ratsamer für Sie, sich mit der CLAIR-Formel zu befassen.«

»Das hier gehört dazu. Wolfe wollte das beheben, was mit CLAIR in Cambridge schiefgelaufen ist.«

»Wir haben das Fläschchen mit dem Zeugs gefunden, das er hergestellt hat, als wir ihn in der Garage erwischt haben«, meinte Fuchs. »Und während des Verhörs stand es vor ihm auf dem Tisch.«

»Aber nach seiner Flucht haben wir den ganzen Raum durchsucht und kein Fläschchen gefunden. Das kann nur bedeuten, daß es mit ihm von hier verschwunden ist.«

»Ich verstehe nicht …«

»Dann will ich Ihnen mal erzählen, was es hier zu verstehen gibt«, unterbrach Haslanger ihn und zeigte auf den Bildschirm. »Die Gleichungen und Theoreme hier haben absolut nichts mit der CLAIR-Formel zu tun, und erst recht nicht damit, sie zu überarbeiten, um weitere Tragödien auszuschließen …« Der Doktor legte eine kurze Pause ein, in der der Computer weiter leise vor sich hin surrte. »Oder, anders ausgedrückt, Joshua Wolfe hat gelogen. Ich weiß nicht, Colonel, was sich in dem Fläschchen befand, das er von hier mitgenommen hat, aber es war ganz bestimmt nicht das, was er uns weismachen wollte.«

Nach einem zwanzigminütigen Marsch durch den Wald fanden sich McCracken und die anderen inmitten des Straßengewirrs einer Wohngegend von Middle Island wieder. Johnny Wareagle hatte Blaine Joshua Wolfe abgenommen und ihn den Rest des Weges getragen. Als er den Jungen jetzt im Schatten eines Hinterhofzauns absetzte, atmete der Indianer nicht einmal schwer von der Anstrengung.

Zu dieser nächtlichen Stunde kam ihnen jeder Wagen, der vor einem Haus abgestellt war, gerade recht. Blaine entschied sich für einen kleinen Lieferwagen, weil in ihm ausreichend Platz für den Jungen war. Er schraubte zusätzlich an drei Autos die Nummernschilder ab, um die des Transporters während der langen Fahrt in regelmäßigen Abständen auszutauschen.

»Wie geht es ihm?« fragte er dann Susan Lyle.

»Seine lebenswichtigen Organe sind alle in Ordnung. Aber mehr kann ich wirklich nicht sagen.« Sie sah Blaine McCracken an. »Wir müssen ihn dringend in ein Krankenhaus bringen.«

Blaine schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Doc, aber unser Freund Colonel Fuchs wird bereits jedes Krankenhaus im Umkreis von fünfhundert Meilen alarmiert haben, weil er genau das von uns erwartet.«

»Wenn man Sie so reden hört, könnte man glauben, der Colonel befehlige eine ganze Armee.«

»Es ist die Landes-Armee und er hat Zugriff auf sie. Nicht das Land, das Sie kennen, sondern das, in dem der Indianer und ich zu überleben gelernt haben. Wo es so dunkel ist, daß niemand weiß, was dort wirklich vor sich geht.«

»Aber Sie wissen es.«

»Ich kenne mich auf dem Gelände aus.«

Susan warf einen Blick auf Josh. »Er wäre trotzdem besser in einem Krankenhaus aufgehoben.«

McCracken nickte. »Ich werde gleich mal irgendwo anrufen und zusehen, ob ich nicht ein paar Dinge in unserem Sinne geraderücken kann. Wenn wir ihn dann in ein Krankenhaus bringen, wird diese Armee ausnahmsweise einmal auf unserer Seite sein.«

Susan stimmte achselzuckend zu.

Die erste Etappe ihrer Fahrt war vierzig Minuten lang und endete vor einer Telefonzelle, die sich am Eingang eines geschlossenen Drogeriemarkts befand, von dem ein Riesenplakat verkündete, er habe rund um die Uhr geöffnet.

»Morgen, Sal«, grüßte Blaine Belamo.

»Wie ist es mit Gruppe Sechs gelaufen?«

»Etwas anders als erwartet. Ich habe mir soviel Mühe gegeben, aber Haslanger habe ich nicht erwischt. Dafür waren zwei andere da.«

»Schlechter Tausch?«

»Nicht unbedingt. Einer von den beiden ist Harry Limes nicht vorhandener Sohn.«

»Wow!«

»Und das ist noch nicht alles. Es gäbe noch eine Menge zu erzählen, aber es hat keinen Zweck, etwas von der wertvollen Zeit zu vergeuden, die du besser dafür nützen könntest, mich sicher nach Washington zu bringen. Man muß dieser Gruppe Sechs endlich den Stecker herausziehen, und zwar hier und jetzt.«

»Du hast sicher schon damit angefangen, was?«

»Ihre Anlage hat schon einmal besser ausgesehen, und sie haben heute nacht eine Menge Leute verloren.«

»Zu traurig.«

»Wirklich einen ganzen Haufen Leute. Söldnertypen.«

»Das riecht mir nach Komplikationen.«

»Ich sag's dir ja auch nur, damit du auf dem laufenden bist.«

»Ruf mich in einer Stunde wieder an. Bis dahin habe ich sicher ein paar Reservierungen für dich.«

»Die Reservierung ist leider rückgängig gemacht worden«, verkündete Belamo gut sechzig Minuten später.

»Du bist ein lausiger Reiseveranstalter, weißt du das, Sal«, entgegnete McCracken.

»Und du bist ein noch schlechterer Geschichtenerzähler, wenn man gewissen Leuten in Washington, D.C. Glauben schenken darf. Anscheinend wollen sie dich jetzt drankriegen, weil du ihnen eine Armee von Typen ausgeschaltet und der Gruppe Sechs Schäden in Höhe von vielen Millionen Dollar zugefügt hast. Damit bist du dort zur unerwünschten Person erklärt worden, und das drückt es noch milde aus. Die Leute hier in der Hauptstadt denken, du führst wieder einen deiner Kreuzzüge.«

»Das heißt, keine Hilfe von drinnen?«

»Scheiße, Boß, das einzige Ticket, das ich dir zur Zeit besorgen könnte, ist das zu deiner eigenen Hinrichtung. Diesmal haben sie es wirklich auf dich abgesehen. Eine Menge Leute sind schon unterwegs und suchen nach dir. Würde mich nicht überraschen, wenn bald überall Steckbriefe von dir aufgehängt werden.«

»Oder mein Foto wie das anderer vermißter Personen auf Milchtüten erscheint. Würde mich nicht wundern, so wie diese Herrschaften vorzugehen pflegen.«

»Wenn ich du wäre, würde ich die Finger von der Sache lassen.«

»Nein, würdest du nicht.«

»Hast ja recht.« Blaine konnte sich jetzt genau das Lächeln seines Freundes vorstellen. »Aber ich dachte, ich könnte es ja mal probieren.«

McCracken fiel Joshua Wolfe wieder ein. »Wie steht's mit den Krankenhäusern, Sal? Wir brauchen dringend eins.«

»Tja, das dürfte ein ziemliches Problem werden. Nur für den Fall, daß du mich eben nicht ganz richtig verstanden hast, du wirst landesweit gesucht. Sie haben auch Bilder und Beschreibungen von deiner Freundin und dem Jungen herausgegeben, und zwar an alle Krankenhäuser und an alle Kliniken, die in irgendeinem Telefonbuch aufgeführt sind. Wenn du auch nur einen Fuß in ein Spital setzt, hängen sie dich gleich an deinem Hosenboden auf.«

»Da bleiben mir nicht allzu viele Möglichkeiten.«

»Laß mich weiter dran arbeiten, Boß. Bis dahin hältst du dich besser in Bewegung. Und melde dich wieder, wenn du irgendwo angekommen bist.«

Susan war überhaupt nicht begeistert von diesen Neuigkeiten, insbesondere davon, kein Krankenhaus betreten zu können.

»Ohne richtige Diagnoseausrüstung kann ich für den Jungen nichts mehr tun.«

»Sie werden noch viel weniger für ihn tun können, wenn Gruppe Sechs Josh wieder in die Finger bekommt, Doc. Bei gewissen Stellen genieße ich einen schlechten Ruf, und Colonel Fuchs und die Leute, die hinter ihm stehen, nutzen das gerade zu ihrem Vorteil aus. Sie haben die eine Hälfte des Landes dazu gebracht zu glauben, ich könne Gruppe Sechs nicht leiden und führe einen Kreuzzug gegen sie. Und die andere Hälfte denkt, jemand hätte den Indianer und mich dafür bezahlt, Kleinholz aus der Anlage zu machen.

Mit anderen Worten, es gibt für uns keinen sicheren Zufluchtsort, solange sich die Lage nicht wieder beruhigt hat. Und das heißt, daß wir weiterhin nach meinen Regeln spielen.«

»Ich hätte da eine Idee, Blainey«, sagte Johnny Wareagle.

Der fette Mann saß bereits auf der gewohnten Bank, als Thurman in den Park kam. Für die Taubenschwärme war es noch zu früh am Morgen. Nur ein paar Unentwegte versammelten sich vor der Bank und hofften, daß ein paar Brocken oder auch mehr vom Schoß des Dicken fallen würden.

Als Thurman näher kam, sah er, daß der Fette sich mit einem Picknickkorb bewaffnet hatte, aus dem er sich reichlich bediente. Er hatte sich eine große Serviette umgebunden, die die ganze Vorderseite seines Jacketts bedeckte.

»Ich wußte, daß Sie zu spät kommen würden«, grüßte der Fette, »und da dachte ich mir, pack dir ein paar leckere Sandwiches ein, damit dir die Zeit nicht zu lang wird.« Er griff in den Korb und hielt Thurman ein eingewickeltes Brot hin. »Kann ich Sie zu einem überreden?«

»Nein, danke.«

»Schade, ich habe nämlich eine ziemliche Auswahl dabei. Im Grunde genommen sind es gar keine Sandwiches, sondern eher Smörrebröds. Die haben nur eine Scheibe Brot und keine zweite obendrauf, sind aber toll belegt, das kann ich Ihnen versichern. Ursprünglich stammen sie aus Dänemark. Wir können eine Menge von den Menschen jenseits der Grenzen lernen, die wir so wild entschlossen verteidigen.«

Er kramte wieder im Korb. »Mal sehen, ich habe hier noch Hähnchen, dänischen Käse und Kaviar …« der Fette sah Thurman mit fast traurigem Gesicht an. »Ich vermute, Schinken mit Ei wäre wohl mehr Ihr Fall gewesen.«

»Sie haben sicher die Nachricht gehört.«

»In ganz Washington redet man nur noch von dem Pech, das über Gruppe Sechs gekommen ist«, antwortete der Dicke fröhlich und schob sich ein neues Smörrebröd in den Mund. »Deswegen veranstalte ich ja hier auch meine kleine Feier. Vielleicht hat sich McCracken endlich einen Bonus für seine Bemühungen verdient.«

»Fuchs gibt nicht so schnell auf«, erklärte Thurman ihm. »Ich habe gerade einen Anruf erhalten. Er sucht nach Spezialisten, die die Verfolgung aufnehmen können. Deswegen habe ich mich auch verspätet.«

»Und was haben Sie ihm gesagt?«

»Daß ich an einem anderen Fall sitze.«

Der Dicke biß ein großes Stück aus dem belegten Brot, kaute rasch und schluckte es hinunter. »Zu schade, daß ich Sie nicht für die Vorzüge des Außendienstes begeistern kann.«

»McCracken ist isoliert. Mehr hätten wir uns kaum wünschen können.«

»Etwas mehr schon.« Der Fette wischte sich mit seiner Serviette die Mundwinkel ab. »Er muß nämlich erst noch gefunden werden.«