Kapitel
2

Susan Lyle hatte schon viele Male in der Isolationsstation Laborarbeiten verrichtet. Aber nichts hatte sie auf die Autopsien vorbereiten können, die sie nach der Rückkehr aus Cambridge nach Atlanta – am frühen Montagmorgen – persönlich durchführen wollte. In einem Tiefkühlraum der SKZ-Düsenmaschine, de facto längst Susans Flugzeug, waren fünf Leichen mitbefördert worden. Normalerweise übernahm ein Spezialist diese Aufgabe, ein Pathologe, nachdem Susan die Vorarbeiten abgewickelt hatte, und den Rest erledigte ein Medizinerteam der Sonderabteilung Brandwacht. Diesmal jedoch stand Susan unter dem Bann von einer Art Hauptverantwortlichkeitswahn. So lange und so gründlich hatte sie sich für den Krisenfall geschult, daß es ihr jetzt widerstrebte – zumal in einer dermaßen heiklen Angelegenheit –, Verantwortung zu delegieren. Zudem mußte der Risikofaktor berücksichtigt werden. Beide Pathologen der Sonderabteilung Brandwacht hatten Familie, und nach Susans Auffassung verbot es sich daher, sie der Ansteckungsgefahr durch Leichen von Cambridge auszusetzen.

Die Katastrophe vermittelte ihr eine gewisse Vertrautheit mit Risiken. Das Geschöpf, das sie im Einkaufszentrum angesprungen und ihr die Helmplatte zerschlagen hatte, war ein Hund gewesen: ein von Angst geschüttelter, schreckerfüllter, aber quicklebendiger Hund. Susan hatte vor Panik der Atem in der Kehle gestockt, als die potentiell verseuchte Luft durch das zerbrochene Plastik in den Schutzhelm drang.

Jetzt ist es passiert, hatte sie gedacht. Mein Gott, es hat mich erwischt!

Als der Hund ihr mit der Zunge das Gesicht leckte, hatte sie gemerkt, daß sie noch lebte. Sie schaffte es, sich so weit zusammenzunehmen, um das Tier zu beruhigen. Anschließend war sie noch eine halbe Stunde lang in der Passage geblieben, bis von einem der sechs regionalen SKZ-Krisenmanagementzentren – aus Connecticut – eine Dekontaminationsmannschaft eingetroffen war. Mit einer an Irrsinn grenzenden Ruhe hatte sie ihre qualvolle Besichtigung der Einkaufspassage fortgesetzt. Dem Tod ins Auge geblickt zu haben gab ihr das Gefühl, dem noch unbekannten Biotyp-4-Agens, das dieses Gebäude heimgesucht hatte, überlegen zu sein. Es versteckte sich vor ihr; das Agens hatte Furcht. Die erste Runde hatte sie gewonnen.

Sie betrachtete die erforderlichen Autopsien als die zweite Runde. Vor dem Betreten des Isolationstrakts, wo die Leichen lagen, mußte sie sich zur Vorbereitung mehreren Sicherheitsvorkehrungen unterziehen, die ihr maximalen Schutz garantieren sollten. Susan wurde mit Wasser und Chemikalien geduscht, per Gebläse heißluftgetrocknet, eingepudert und in mehrere Monturen Schutzkleidung gehüllt, die man nach Abschluß ihrer Arbeit vollständig verbrennen würde.

Susan war der Meinung gewesen, sich innerlich genug für die Herausforderung gesammelt zu haben, doch als der Zeitpunkt kam, an dem sie den Trakt betrat, litt sie unter einer derartigen Anspannung, daß sich die schweren Handschuhe noch klobiger anfühlten und ihr in der Schutzkleidung zumute wurde wie in einem Ofen. Der Anzug hatte keinen eigenen Sauerstofftank, sondern bezog Atemluft durch einen Schlauch an der Wand, dessen Düse in seinen Einfüllstutzen paßte. Wohin sie sich auch wandte, der Schlauch hing an ihr wie eine Kette. Jeder Atemzug war eine Anstrengung, und die Helmscheibe beschlug sich, bis es ihr zu guter Letzt gelang, sich zu beruhigen.

Als sie die erste Autopsie begann, konnte sie durch die Scheibe wieder deutlich genug sehen. Ihr Skalpell zertrennte das tote Fleisch in der Oberkörpermitte des Leichnams wie zerknitterten Karton. In früheren Jahren war bei Vorliegen eines Biotyp-4-Agens der Gebrauch von Skalpellen oder sonstigen scharfen Schneidinstrumenten untersagt gewesen, weil ein Aufschlitzen eines Handschuhs oder Ärmels eine eventuelle Infektion und vielleicht den Tod bedeutet hätte. Doch inzwischen wiesen die von der Sonderabteilung Brandwacht verwendeten Schutzanzüge in Handschuhen und Ärmeln zur Verstärkung eine dünne Schicht aus Kevlar auf, dem Material, aus dem man kugelsichere Westen herstellte.

Genau wie während der Ortsbesichtigung in der Citypassage von Cambridge war Susans Schutzhelm mit Funk ausgestattet und wurden ihre Beobachtungen aufgezeichnet. Sie brauchte nur ins Mikrofon zu sprechen.

»Leichnam Nummer eins, männlich, Alter einunddreißig Jahre, Körpergewicht laut geborgener Ausweispapiere einundachtzig Kilogramm, Körpergewicht bei Anlieferung ins Labor fünfunddreißig Kilogramm. Körpergröße laut Ausweispapiere ein Meter zweiundsechzig, Körpergröße bei Anlieferung ein Meter neunundzwanzig …«

Susan betastete die Rippen und bemerkte, daß die Knochen die Konsistenz von Knetmasse hatten. Sie konnte den Brustkorb ohne Schwierigkeiten mit den Händen öffnen und die inneren Organe freilegen, indem sie die Rippen beiseiteklappte und festklemmte.

»Die inneren Organe sind ausnahmslos unversehrt, aber im selben Zustand der Dehydration wie die Haut. Ich fahre mit der genaueren Untersuchung fort.«

Als erstes schnitt Susan das Herz heraus. Sie konnte es ohne weiteres mit einer Hand umfassen; es war in Umfang und Aussehen auf etwas geschrumpft, das einer tennisballgroßen Pflaume ähnelte, und so trocken wie ein zusammengeknülltes Stück Papier. Sie legte es in die in Augenhöhe aufgestellte Digitalwaage.

»Gewicht des Herzens ein Fünftel des durchschnittlichen Normalgewichts. Anzeichen für Hämoglobinverlust nicht nur im Gewebe, sondern auch in den Muskeln und Organen. Das Knochengerüst ist in vergleichbar geschrumpftem Zustand.«

Susan nahm vom nebenstehenden Tisch einen Objektträger – ein ausreichender Stapel lag bereit – und plazierte darauf ein Knochenstückchen. Dann ging sie damit ans Elektronenmikroskop und fand bald heraus, was sie interessierte.

»Gesamtes Kapillarsystem des Brustbeins zusammengebrochen. Keinerlei lebendes Gewebe mehr vorhanden, weder Stammzellen noch vermehrungsfähige Blutzellen. Als Folgen sind Entkalkung und Zersetzung des Knochengerüsts eingetreten.«

Susan wandte sich vom Elektronenmikroskop ab und kehrte zu der Leiche auf dem Untersuchungstisch zurück. Es war seltsam, wie sehr das Fehlen sämtlicher Gerüche, vom antiseptischen Aroma des Schutzanzugs abgesehen, ihrer Tätigkeit eine traumähnliche Aura gab. Im Laufe der Zeit hatte sie sich angewöhnt, Autopsien mit mancherlei zu assoziieren, vor allem mit Gerüchen. Dieses Mal dagegen konnte sie sich auf nichts anderes als auf die Verrichtungen selbst konzentrieren, und darum hatte sie, als sie schließlich auch mit dem fünften Leichnam fertig war, bereits eine gewisse Routine. Irgendwann fiel ihr auf, daß sie zu spät zu der von ihr selbst beantragten Leitungskonferenz der Sonderabteilung Brandwacht zu kommen drohte. Sie hatte nicht bedacht, daß die anschließende Wiederholung der Dekontaminationsprozeduren ebenfalls Zeit beanspruchte, und obwohl sie sich den unumgänglichen Verfahren in äußerster Eile unterzog, mußte sie doch das letzte Stück zur Kommunikationszentrale im Laufschritt zurücklegen.

Die Kommunikationszentrale hatte keine Fenster, und die Türen ohne Klinken schlossen sich, sobald Susan hineingeeilt war, automatisch hinter ihr. Auf einem einzelnen, schmalen Tisch in der Mitte des Raumes befanden sich ein Monitor und eine Computertastatur. Dahinter war ordentlich ein Stuhl an den Tisch geschoben. Zwölf Fernsehmonitore füllten die ganze Wand gegenüber dem Tisch aus; jeder war dem Computer angeschlossen, so daß Susan anhand der Tastatur jeden Monitor kontrollieren konnte. Sie hatte die Möglichkeit, damit die Auswahl der Aufnahmen zu bestimmen, die die Konferenzteilnehmer sehen sollten, ihre Bildschirme in vier Segmente zu unterteilen und sogar ein Bild über das andere zu projizieren.

Die Lautsprecherboxen, die jeweils einem Konferenzteilnehmer zugeordnet waren, standen links und rechts von Susans Platz auf ganz normal aussehenden, schiefergrauen Digitalverstärkern aufgereiht, sechs an jeder Wand. Über jedem Lautsprecher glomm auf einer kleinen Leuchtdiodenanzeige eine Identifikationsnummer. Die Stimmen, die gleich aus den Lautsprechern dringen sollten, gehörten Mitgliedern der für die Leitung der Sonderabteilung Brandwacht zuständigen Kontrollkommission, die die Aufgabe hatten, Susans Bericht zu beurteilen und entsprechende Maßnahmen zu veranlassen. Noch nie war sie einem Kommissionsmitglied persönlich begegnet, kannte allerdings vier oder fünf der Stimmen. Die Identität der Personen, denen sie sie zuordnen zu können glaubte, flößten ihr wahre Ehrfurcht vor der eigenen Position ein. Tatsächlich genoß Susan für die Dauer der bevorstehenden Sitzung das Gehör der gesamten Regierung.

Nie hätte sie mit so etwas gerechnet, als sie in die Dienste des SKZ trat. Nachdem sie im Anschluß an ihr Medizinstudium an der Duke University ein dreijähriges Praktikum in Innerer Medizin an der Brown University Rhode Islands absolviert hatte, war sie zum Seuchenkontroll- und Verhütungszentrum in Atlanta, kurz SKZ, übergewechselt und hatte dort freudig eine Tätigkeit aufgenommen, die ihre Kollegen und Kolleginnen als elend langweilig abwerteten. Beim Bewerbungsgespräch hatte sie auf diesbezügliche Fragen geantwortet, für sie sei Forschung eine ebenso spannende wie aufregende Sache. Dächten die Leute denn gar nicht daran, daß die Diagnosefähigkeit eines Arztes überhaupt nichts bedeutete, würden keine wirksamen Behandlungsmethoden und Medikamente entwickelt? Die Laborarbeit würde es ihr möglicherweise eines Tages erlauben, argumentierte sie, in einer Woche mehr Menschen zu retten, als ihre Kolleginnen und Kollegen während ihres ganzen Lebens. Und die SKZ-Verantwortlichen schenkten ihr Glauben. Susan konnte sehr überzeugend auftreten.

Dennoch war alles erlogen. Ihre wirkliche Motivation war von zu geheimer, schmerzlicher Natur, als daß sie sich leicht hätte darlegen lassen. Susan wollte nicht den Eindruck erwecken, sich in einen privaten Kreuzzug verrannt zu haben, der die Klarheit ihres Urteilsvermögens trüben könnte. Dennoch war ›Kreuzzug‹ genau die richtige Bezeichnung.

Dank ihres Fachgebiets Infektionskrankheiten hatte das SKZ allemal für sie Verwendung und folglich eine Stellung. Aber es war vielmehr ihre Begabung, sowohl in einer Führungsposition wie auch in Verwaltungsfragen mit anderen Mitarbeitern reibungslos zusammenzuarbeiten, die dazu geführt hatte, daß man sie in das Brandwacht-Programm einbezog. Die Sonderabteilung Brandwacht war aus der auf unbekannte Viren spezialisierten SKZ-Spezialpathologie hervorgegangen. Der Pathologie hatte es an der Fähigkeit zu schnellem Handeln gemangelt, einer Eigenschaft, die die SKZ-Verantwortlichen jedoch als zunehmend wichtiger erachteten; denn heutzutage traten in rascher Folge immer neue Viren und Bakterien auf, die der Welt wenig bis gar nicht bekannt waren, so daß zu ihrer Bekämpfung schlechte bis miserable Voraussetzungen herrschten. Die Sonderabteilung Brandwacht kam zum Einsatz, wenn es um Minuten ging, möglichst in der Anfangsphase einer Krise.

Deshalb mußte eine Brandwacht-Feldexpertin zur Teamarbeit fähig sein und das Talent haben, im Krisenfall in ihrer Führungsfunktion die Übersicht über die Lage zu behalten, ganz gleich wie viele Anforderungen auch zu bewältigen sein mochten. Susan hatte die Position hauptsächlich deshalb angenommen, weil sie ihr die Aussicht auf möglichst zügige Fortschritte auf dem Gebiet bot, dem ihr wahres Interesse – ihre Besessenheit – galt. Und wenn sie sich hinsichtlich der Cambridge-Katastrophe gut bewährte, konnte sie vielleicht schneller als erwartet ihr Ziel erreichen.

Susan hob den Blick zu der Kamera, die in der rechten Ecke der Kommunikationszentrale unter der Decke hing. Das rote Licht darunter wurde grün und zeigte an, daß man die Verbindung geschaltet hatte.

»Fangen wir an.«

»Ich sehe gerade Ihr Gesicht, Doktor«, konstatierte aus Lautsprecherbox 5 eine Männerstimme, zu der ihr kein Name einfiel. »Der schriftliche Bericht, den Sie uns gestern gefaxt haben, enthält zu den Umständen Ihrer Verletzung nur vage Angaben.«

»Durchaus absichtlich, Sir. Ein Hund hat mich angesprungen und umgeworfen, und dann ist er auf meinen Schutzhelm geprallt. Dabei ist die Helmscheibe zu Bruch gegangen. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

»Ein Hund, sagen Sie?« fragte die Stimme aus Lautsprecher 2. Die Stimme, wie Susan wußte, von FBI-Chef Ben Samuelson.

»Was für ein Tier es war«, ertönte die Stimme aus Lautsprecherbox 1, »ist wohl unerheblich. Meine Frage lautet, wieso hat der Hund überlebt?«

»Da bin ich mir noch nicht sicher. Es dürfte das Beste für Sie – und auch für mich – sein, die Ereignisse des gestrigen Tages in der Reihenfolge ihres Ablaufs durchzugehen. Selbstverständlich beantworte ich alle Ihre Fragen, aber viele Antworten wird Ihnen bereits mein Bericht geben.«

Im Stehen tippte Susan auf der Computertastatur Befehle ein und schickte den Konferenzteilnehmern die am Vortag mit der Helmkamera angefertigte Aufzeichnung auf die Bildschirme. »Sie schauen sich nun auf Ihren Monitoren genau das an, was ich gestern nachmittag während meines Gangs durch die Cambridge-Citypassage zu sehen bekommen habe.«

Susan erlebte jeden Schritt, den sie dort getan hatte, noch einmal, und die Bilder verursachten ihr nicht weniger Grausen als bei den vorangegangenen Sichtungen. Nur die Episode mit dem Hund hatte sie gelöscht. Das Resultat war ein surrealer Spaziergang durch einen Friedhof des Irrsinns.

»Mein Gott«, drang die Stimme aus Lautsprecher Nummer 9, als die Aufnahmen erschienen, die entstanden waren, während sich Susan über eines der Opfer gebeugt hatte, um es näher in Augenschein zu nehmen.

»Das möchte ich noch mal sehen«, meldete sich Lautsprecher Nummer 6.

»In Zeitlupe bitte«, fügte eine Stimme hinzu, von der Susan wußte, daß sie Clara Benedict gehörte, der Stellvertretenden Nationalen Sicherheitsberaterin des Präsidenten.

In rascher Folge tippte Susan vier Tasten. Sofort spulte sich das Band zurück und zeigte die Szene in Zeitlupe ein zweites Mal. Mittlerweile hatte Susan die Aufnahmen schon hundertmal gesehen, aber sie erschreckten sie noch immer. Der Leichnam ähnelte keinem normalen Toten, sondern einem Strunk verdorrten, buchstäblich versteinerten Fleischs. Die Zeitlupenaufnahme fing vom Kopf abwärts an. Der Mund war in der verhutzelten Haut völlig zusammengeschrumpft, die Nase fast in den Schädel gesunken, während die Augen infolge der starken Schrumpfung der Lider, Brauen und Wangenknochen schaurig hervorquollen. Die Haut war von geisterhaftem Weiß, beinahe wie Kalk, und hatte die Beschaffenheit rissigen Leders.

Hals und Oberkörper mußten vor der Versteinerung zu formlosen Massen abgesackt sein. Arme und Beine, die vorher aus Fleisch und Blut bestanden hatten, glichen länglichen Streifen aus geschmolzenem Wachs.

»Wir müssen also davon ausgehen, Doktor«, erklang eine Frage aus Lautsprecher 4, »daß alle Toten, die Sie in dem Einkaufszentrum gefunden haben, in diesem Zustand sind?«

»Ja, das stimmt.«

»Wie hoch ist die Zahl der Opfer?« erkundigte sich die Stimme aus Lautsprecher 6.

»Rund eintausendsiebenhundert.«

»Wie kommt die Identifizierung voran?« fragte Clara Benedict.

»Vorerst müssen wir uns auf den Inhalt der Brieftaschen und Geldbörsen verlassen. Wegen der nötigen Sicherheitsmaßnahmen verlaufen die Ermittlungen langsam.«

»Bitte stoppen Sie das Band«, sagte Clara Benedict. »Dr. Lyle«, fügte sie hinzu, nachdem Susan die Anweisung befolgt hatte, »was ist von dem, das Sie uns da zeigen, zu halten? Was ist passiert?«

Susan räusperte sich. »Den Betroffenen ist das Hämoglobin entzogen worden.« Kurz zögerte sie. »Mit anderen Worten: das Blut.«

»Ich hoffe, Sie werden uns nicht gleich etwas über Vampire erzählen«, ertönte eine andere Stimme, die Susan kannte: Sie gehörte Daniel Starr, dem Vorsitzenden der Vereinten Stabschefs aller Waffengattungen.

»Nein, unsere bisherige Untersuchung der Leichen hat bei keinem Toten eine äußere Verletzung festgestellt, durch die das Blut hätte abgesaugt werden können. Beachtet man zudem die Tatsache, daß am Katastrophenort nicht ein Tropfen Blut gefunden worden ist, wird deutlich, daß wir mit einem völlig anderen Phänomen konfrontiert sind.«

»Und was käme als Ursache in Frage?«

»Einwirkung eines fremden Organismus, der sämtliches im Einkaufszentrum vorhandene Blut aufgezehrt hat.«

»In Ihren ersten Meldungen ist von einem fremden Agens die Rede«, sagte General Starr. »Inwiefern besteht da ein Unterschied?«

»Kein anorganisches Agens könnte so selektiv wirken.«

»Sie meinen, wir haben es mit einem Virus oder einer Bakterienart zu tun?«

»Höchstwahrscheinlich, allerdings mit einem Typus, dessen Verhalten von allen wissenschaftlich erfaßten Erregern abweicht.«

»Also einer der alles Blut angreift«, resümierte General Starr, »und es vollständig auffrißt.«

»Nicht alles Blut«, berichtigte Clara Benedict. »Denken Sie an den Hund, der in der Zoohandlung überlebt und Dr. Lyle angesprungen hat. Wie erklären Sie in Anbetracht der Tatsache, daß die übrigen Tiere der Zoohandlung samt und sonders tot aufgefunden wurden, diese Ausnahme, Dr. Lyle?«

»Dafür habe ich keine Erklärung, wenigstens bis jetzt nicht.«

»Mich interessiert mehr dieser Organismus, Doktor«, äußerte General Starr. »Ist er schon entdeckt worden?«

»Nur so weit, wie ihn seine erstaunlichen Verhaltenseigenschaften beschreiben. In den Toten ist keine Spur festzustellen, das heißt, wahrscheinlich geht der Organismus zugrunde, wenn ihm die Nahrung fehlt, in diesem Fall Blut. Er zeichnet sich durch eine bemerkenswert kurze, wenn auch für sein Umfeld tödliche Lebensspanne aus. Dafür spricht auch, daß die Gefahr schon wieder aufgehoben beziehungsweise der Ort ungefährlich war, als ich mit der Besichtigung angefangen habe.«

»Aber Sie haben trotzdem eine begrenzte Quarantäne verhängt«, stellte Clara Benedict fest.

»Das ist beim Auftreten eines virulenten Biotyp-vier-Agens die vorschriftsmäßige Standardprozedur. Wir kennen nur Teilaspekte seines Verhaltens, und bis wir genug über ihn wissen, gehen wir lieber auf Nummer Sicher.«

»Dann läßt sich ein terroristischer Anschlag nicht vollkommen ausschließen«, meinte General Starr.

»Ebensowenig kann man von vornherein so etwas unterstellen«, gab Susan zu bedenken. »Gegenwärtig bleibt ein Anschlag nur eine von vielen vorstellbaren Möglichkeiten. Momentan ist es genauso wahrscheinlich, daß es sich bei der Katastrophe um eine lokale Masseninfektion mit bislang beispiellosen Konsequenzen handelt.«

»Terroranschlag, lokale Masseninfektion oder was auch immer«, entgegnete Starr, »wie ist dieser Agens, dieser Organismus, oder wie Sie ihn nennen wollen, in die Einkaufspassage gelangt? Und was hat ihn daran gehindert, sich darüber hinaus auszubreiten?«

»Genau das sind die Fragen, die ich als nächstes klären muß, Sir.«