Kapitel

1

Blaine McCracken hatte schon ein ungutes Gefühl, bevor er den Weißhaarigen bemerkte, der am anderen Ende der Theke saß. Sein erster Gedanke galt einem sofortigen Rückzug aus dem Lokal, bevor sich eine gefährliche Situation ergeben konnte. Man hätte denken können, der Weißhaarige hätte ihn nicht gesehen, aber McCracken wußte es besser. Die Wege der zwei Männer hatten sich bisher nur einmal gekreuzt, und das war bei einer Gelegenheit gewesen, bei der jeder der beiden den Befehl gehabt hatte, den anderen zu töten.

Aber das Lokal zu verlassen, könnte das Scheitern des Auftrags bedeuten, den er in Cárdenas zu Ende bringen sollte. Erst in der vergangenen Nacht hatte ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter der Abteilung Wet Affairs ihn kontaktiert und behauptet, er hätte Informationen über nordkoreanische Raketenanlagen. Er hatte McCracken instruiert, in der Hotelbar der Buena Vista auf einen Telefonanruf zu warten, durch den er den Treffpunkt erfahren sollte, und wenn McCracken nun von dieser Planung abwich, war es voraussichtlich unmöglich, den Kontakt wieder anzuknüpfen.

Letzten Endes gab diese Tatsache den Ausschlag für seinen Entschluß zu bleiben. Er hielt die Hände so, daß sie sichtbar blieben, und hatte gleichzeitig die 9-mm-SIG-Sauer unter dem weißen Leinenjackett leicht greifbar, während er die langgestreckte Theke umrundete.

Vor Jahren war das Buena Vista eines der modernsten Hotels in dem am Meer gelegenen Ferienort Cárdenas gewesen, bis schließlich der Zahn der Zeit und die Politik dieser Touristenregion einiges an Glanz genommen hatten. Vernagelte Fenster und rissige Mauern verunstalteten die anderen Strandhotels, so daß das Buena Vista das letzte Prunkstück aus Kubas verruchter Zeit war, in der Menschen in die Spielkasinos und Nachtklubs gedrängt waren. Die Spielhöllen und Nachtklubs existierten nicht mehr, doch im Buena Vista verwies nicht nur das auf Hochglanz polierte Mahagoni der Theke auf ein beharrliches Festhalten an einstigen Traditionen. Die Stuckfassade des Hotels war kürzlich frisch gestrichen worden, und die davor angepflanzten Palmen gediehen in prallem Grün, statt wie überall sonst in moderigem Braun vor sich hinzukränkeln. Den Fußboden des Foyers zierte ein Schachbrettmuster aus italienischem Marmor, die Wände waren mit glänzendem Mahagoni getäfelt, dem Holz, dem man auch bei der Gestaltung der Hotelbar den Vorzug gegeben hatte.

Während McCracken die Spiegelwände hinter der Theke passierte, an denen in Regalen unzählige Flaschen mit hochprozentigen Getränken aufgereiht standen, verglich er unwillkürlich sein Spiegelbild mit dem Anblick, den der Weißhaarige bot. Andrej Marokows Schultern waren gebeugt und steif und zeigten an, daß er nicht mehr die Fähigkeit hatte, die blitzschnellen Bewegungen auszuführen, die man in seiner Profession zum Überleben brauchte. Seine Augen blickten trüb, und Altersflecken übersäten die Hand, die das Glas hielt.

Der Blick, den McCracken im Spiegel auf sich selbst warf, fiel hingegen auf einen durch die Jahre im großen und ganzen unverändert gebliebenen Mann. Bei der ersten Begegnung mit Marokow war sein gewelltes, schwarzes Haar kürzer gewesen, und sein stark gestutzter Bart hatte noch keine grauen Strähnen gehabt. Die damalige Leere seiner Augen war mit Reife und Klugheit ausgefüllt worden. Sein Brustkorb war breiter als früher, die Arme hatten mehr Muskeln, ein Ergebnis des täglichen dreistündigen Trainings, das sich zum Ritual entwickelt hatte. Und die Narbe, die seine linke Braue kreuzte, hatte bis zu dem Tag seiner ersten und einzigen Begegnung mit Marokow noch gar nicht existiert.

Der Russe hockte an der Theke und rührte mit einem Strohhalm in seinem Drink, der weitgehend aus Eis bestand, während er nach dem Barkeeper Ausschau hielt. Marokow saß allein an dieser Seite der Theke, bis McCracken sich zwei Barhocker neben ihn setzte, gefaßt auf alles, was da kommen möge.

»Tag, Kumpel«, sagte Marokow und wechselte über auf den freien Barhocker.

Halb rechnete McCracken damit, ein Schießeisen in Marokows Faust zu sehen, doch der Russe hatte nichts als das fast leere Glas in den Fingern. »Lang, lang ist's her, würde ich sagen, aber …«

»Nun ja, wir sind uns ja nie offiziell vorgestellt worden.«

»Wir waren mal im selben Dschungel in ein und demselben brennenden Dorf. Das verbindet.«

Marokow schmunzelte knapp und nickte. »Dann wollen wir auf die alten Zeiten einen heben, was?«

Er hob das Glas und schlürfte den Rest des Getränks aus dem Eis. Die Eiswürfel sammelten sich an seinen Lippen, und nun erst fühlte sich McCracken sicher: Hätte der Russe feindselige Absichten gehabt, wäre er auf keinen Fall so lang in einer derart schutzlosen Position geblieben. Marokow setzte das Glas ab, die Eiswürfel schlugen klirrend gegeneinander.

»Ich würde Ihnen 'nen Drink spendieren, Kumpel, aber es ist allgemein bekannt, daß der große McCracken keinen Alkohol trinkt.«

»Damals habe ich welchen getrunken.«

»Wir beide haben damals drüben Sachen getan, über die wir am besten nicht mehr reden. Da wir gerade beim Thema sind, ich muß Ihnen wohl gratulieren. Immerhin haben Sie ja gesiegt.«

Marokow hob nochmals das Glas, als wollte er McCracken zuprosten, stellte es jedoch auf die hölzerne Theke zurück, ohne es an den Mund zu setzen. Erneut schaute er sich nach dem Barkeeper um und schien verärgert, daß der Mann sich nicht blicken ließ.

»Ich meine, Kumpel, darum hat's sich ja gedreht während unserer Jahre im Dschungel, um die Frage, wer siegt. Es konnte nur eine Seite als Gewinner hervorgehen. Es kann immer nur einen Sieger geben.«

Blaine musterte ihn. Seit beinahe fünf Jahren hatten ihm keine aktuellen Informationen über Marokow vorgelegen, und offensichtlich war der Russe noch stärker gealtert, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Seine Augen sagten alles. Sie waren blutunterlaufen, bewegten sich langsam und hatten jeden Ausdruck von Lebendigkeit oder Gefühl verloren – als sähen sie nichts mehr außer dem, was sich dicht vor ihnen befand.

»Nicht unbedingt«, widersprach McCracken.

»Was uns beide betraf, sehr wohl. Sie mit Ihrer Operation Phönix, ich mit meinen Spetsnatz-Einsatzgruppen. Wir waren nun einmal Gegner, stimmt's, Kumpel?«

»So ungefähr.«

»Wenn Ihre Kommandeure wüßten, was für einen Ärger sie uns mit ihren Killerteams verursacht haben … Schade, daß sie damit nicht 'n paar Jährchen früher angefangen haben. Dann wäre mir die Zeit bei den Wilden erspart worden.«

»Die Wilden gab's auf beiden Seiten.«

»Und trotzdem haben wir gemeinsam mit ihnen gekämpft.«

»Da waren wir noch jünger.«

»Und die Zeit, Kumpel …«

»Sie war eben völlig anders.«

»Ja, alles war einfacher und klarer. Das vermisse ich heute oft. Vor allem im Moment. Ich hänge hier rum, weil ich nicht nach Hause kann. Ach, natürlich könnte ich nach Rußland zurückkehren, nur ist es für mich keine Heimat mehr. Schätzen Sie sich glücklich, weil Sie noch etwas haben, für das Sie kämpfen können.«

Marokow warf dem Barkeeper, der sich inzwischen wieder hinter der Theke eingefunden hatte, einen ungeduldigen Blick zu und deutete auf sein Glas. Der Barkeeper goß neuen Scotch über die Reste der Eiswürfel. Als der Mann Blaine anblickte, winkte der ab.

»Auf die einfacheren Zeiten«, sagte Marokow, hob nochmals das Glas an, als hätte er vor, McCracken zuzuprosten.

In Wahrheit, erinnerte sich Blaine, waren die alten Zeiten keineswegs so einfach gewesen. Der Russe hatte nicht erwähnt, daß erst McCrackens Anwesenheit in Vietnam Marokows dortigen Einsatz zur Folge gehabt hatte. Die Killerteams der Operation Phönix hatten die Kommandostruktur des Vietkong so erheblich beeinträchtigt, daß die sowjetischen Militärberater keine andere Wahl sahen, als ihrerseits ähnlich effiziente Spetsnatz-Einsatzgruppen zu schicken. Zur gleichen Zeit, als man McCracken über Marokows Ankunft unterrichtete, hatte der Russe eine über McCracken angelegte Geheimdienstakte sowie den Befehl erhalten, ihn zu liquidieren. Keiner von beiden hatte über die Instruktionen des anderen Bescheid gewußt, aber beide waren in für sie typischer, professioneller Weise an die Erfüllung der Aufgabe gegangen, den anderen zu beseitigen.

Dabei standen sie nicht allein. Jeden von ihnen hatte ein Team begleitet. In McCrackens Fall waren es Südvietnamesen gewesen, die ihn zu der nördlich der Fernstraße 9 gelegenen Region um Khe Sanh eskortierten. Marokows Spetsnatz-Männer sprachen perfekt Englisch und waren als amerikanische Soldaten getarnt, wie US-Landser uniformiert und ausgerüstet. Allem Anschein nach war diese Tarnung zu perfekt, denn die Gruppe wurde das Opfer eines Überfalls junger Vietkong-Guerillas, die auf eigene Faust operierten. Marokow und zwei weitere Überlebende suchten Zuflucht in einem kleinen Dorf, dem sich zu der Zeit auch Blaine mit seinem Team näherte.

Selbstverständlich wußte niemand etwas über McCrackens Gegenwart; kein Militärkommandeur war je darüber informiert, wo er sich eigentlich aufhielt. Deshalb ordnete man, nachdem mit den USA kollaborierende Nachbarn aus der Umgebung des Dörfchens den Überfall auf sowjetische Spezialisten in US-Uniformen gemeldet hatten, einen Luftangriff auf die an der Fernstraße 9 gelegene Ortschaft an, in deren Richtung die Überlebenden sich abgesetzt hatten. So kam es, daß plötzlich, Sekunden nachdem Blaine das Dorf betreten hatte, riesige orangerote Feuerbälle die Bambushütten und Holzbauten verschlangen. Kurz hintereinander dröhnten ohrenbetäubende Detonationen, fraßen den Sauerstoff und hinterließen wie Pockennarben Trichter in der Dschungelerde.

Gerade hatte McCracken Deckung gefunden, da hasteten vor ihm drei Gestalten durch den Qualm, die wie US-Soldaten aussahen, zwei von ihnen schleiften zwischen sich den verwundeten dritten Mann mit. Als Blaine ihnen zu Hilfe eilen wollte, raste die zweite Welle Jagdbomber heran, und weitere Teile der Ortschaft verglühten in orangeroter Feuersbrunst. Blaine ging zurück in Deckung, und ehe er Gelegenheit hatte, zum zweitenmal aufzuspringen, hörte er das Trio ›amerikanischer‹ Soldaten verzweifelt Worte in russischer Sprache wechseln. Er duckte sich, um sie näher herankommen zu lassen. Der Rauch verbarg ihn vor ihren Blicken. Die erste Jabo-Welle kehrte zurück, und das Heulen der Triebwerke durchdrang die Luft, während die Maschinen heranbrausten; doch da hörte McCracken noch etwas anderes.

Nicht weit entfernt weinten Kinder.

Blaine drehte sich um und erspähte sie durch die Rauchschwaden. Es waren zwei, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Sie kletterten aus einem Erdturmel, dem schwarzer Qualm entquoll. Die Gesichtchen der Kleinen waren verrußt und blutig. Das eine stützte das andere Kind.

Die Jagdbomber flogen rasend schnell an.

McCracken zögerte nicht. Er schulterte sein Gewehr, rannte zu dem Erdtunnel und hob beide Kinder gleichzeitig hoch. Der weitgestreute Bordwaffenbeschuß zwang ihn zu einem Dauerlauf, bis er schließlich den Rand des Dschungels erreichte – genau in dem Moment, als das Trio der Russen in US-Uniformen aus den Rauchwolken zum Vorschein kam.

Die Russen, die den verletzten dritten stützten, hatten ihre M-16-Gewehre schußbereit, bevor McCracken die Kinder absetzen und zur Waffe greifen konnte. Doch da riß der Mann in der Mitte mit raubkatzenhafter Geschmeidigkeit, als wäre er unverletzt, dem einen die Waffe aus den Fäusten und stieß den anderen mit einem derart schnellen Hieb beiseite, daß Blaine ihn wegen des Qualms kaum wahrnehmen konnte. Aus der Waffe des zweiten Mannes löste sich ein Schuß, die Kugel streifte schmerzhaft McCrackens linke Braue. Sofort sickerte ihm Blut ins Auge, und während der darauffolgenden Sekunden konnte er nur mit dem rechten Auge flüchtig den Mann sehen, der ihn gerettet hatte: Andrej Marokow. McCracken hatte den stahlharten Blick kurz erwidert, ehe er sich wieder die Kinder griff und mit ihnen in den Wald lief.

Damals hatte er in die härtesten Augen geblickt, die er je gesehen hatte; jetzt jedoch, eine Generation später, hatten sie alles verloren, hatten sie ihre Entschlossenheit gegen einen Scotch-Schleier ausgetauscht. Falls Augen wirklich Fenster der Seele waren, mußte der Russe auch sie verloren haben. Das Land, dem er sein Leben verschworen hatte, war zerfallen, und Marokow dadurch zur beklagenswertesten Art von Entwurzeltem geworden: ein Mensch, der nicht nur seine Vergangenheit verloren hatte, sondern auch noch seine Zukunft.

»Etwas wollte ich Sie schon immer mal fragen«, sagte Blaine. »Haben Sie je gemeldet, daß Sie mich gesehen haben?«

Der Russe ließ das Glas auf der Theke stehen. »Dazu hatte ich keine Lust.«

»Und Ihre Untergebenen?«

»Leider haben sie den für unseren Rückzug vereinbarten Treffpunkt nicht lebend erreicht«, antwortete Marokow. Für einen Sekundenbruchteil flimmerte alte Kraft in seinen Augen. »Ich habe mir eine Meldung zurechtgesponnen. Es stand irgendein ungeheuerlicher Unfug drin, und von da an waren Sie bei den Verantwortlichen noch gefürchteter als vorher.«

»Sicher haben Sie ihnen angekündigt, Sie würden sich unerbittlich an meine Fersen heften.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil ich das gleiche getan habe.«

»Um die Angelegenheit unter uns zu belassen, was, Kumpel?«

»Unsereins hat auch ohne zusätzliche Anforderungen reichlich zu tun, Andrej.«

Bei der vertraulichen Verwendung seines Vornamens drehte Marokow den Barhocker in McCrackens Richtung. »Vorhin habe ich noch gehofft, Sie fragen mich etwas anderes, Kumpel.«

»Sie meinen, warum Sie mich nicht haben erschießen lassen? Ich mußte nicht fragen, weil ich die Antwort kenne. Wäre die Situation umgekehrt gewesen, hätte ich genauso wie Sie gehandelt.«

»Aus Gründen der Ehre?«

»Und aus Respekt. Unsere Anstandsregeln machen uns zu dem, was wir sind. Außenstehende können das nicht nachvollziehen und halten uns wahrscheinlich für verrückt, aber es ist eine Tatsache, daß wir noch leben. Nach fünfundzwanzig Jahren Dienst sind wir immer noch am Leben.«

Marokow schenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Scotch. »Manche mehr, manche weniger.«

»Sie hatten nie die gleichen Chancen, Andrej.«

Der Russe drehte sich wieder in Blaines Richtung. »Die Wahrheit ist, daß ich heutzutage gelegentlich sogar Aufträge für die Amerikaner übernehme. Für einen Ihrer vielen Geheimdienste, ich glaube, die CIA, aber ich will nichts gesagt haben. Ich warte hier gerade auf einen Anruf.«

McCracken knickte einen Strohhalm, mit dem er gespielt hatte. Gedanken durchströmten seinen Kopf wie Fluten einen geborstenen Damm.

»Ich soll eine Kleinigkeit erledigen«, sagte Marokow, zog ein gefaltetes Foto aus der Tasche. »Ich glaube, Sie kennen diesen Mann.«

Zerstreut betrachtete Blaine das Foto, registrierte es, aber seine Gedanken waren bei etwas anderem. Ausgerechnet sie beide trafen sich zur selben Zeit im selben Lokal. Beide in Cárdenas. Und beide … warteten sie.

»Was ist, Kumpel?«

McCrackens Blick fiel auf den Barkeeper, den Mann, der für etliche Minuten von seinem Arbeitsplatz verschwunden war, nachdem Blaine die Hotelbar betreten hatte. Er unterhielt sich jetzt mit zwei Männern, die ungefähr in der Thekenmitte saßen, gegenüber den Spiegelwänden. Sie waren eben hereingekommen, hatten die Barhocker auf größeren Abstand von der Theke geschoben, um Bewegungsfreiheit zu haben; zweifellos aus dem Foyer geholte Verstärkung, da die Sache nicht nach Plan ablief. Diese Leute wußten nichts über McCrackens und Marokows Vorgeschichte, und nun mußten sie wohl oder übel die Folgen ihrer Unwissenheit tragen.

Blaine stieß Marokow vom Barhocker auf den Fußboden neben der Theke und zog im selben Augenblick die SIG-Sauer. Er schoß, während die zwei Männer sich noch umdrehten, um auf ihn anzulegen. Blaine war es nicht möglich gewesen, genau zu zielen, und so mußte er mit den Schultertreffern zufrieden sein, die die zwei Revolvermänner von der Theke zurücktaumeln ließen, bevor sie abdrücken konnten. Als Blaine die Waffe neu auf sie richtete, hörte er das vertraute Klick-Klack, das beim Spannen einer Flinte entstand. Er sah noch rechtzeitig, daß der Barkeeper eine abgesägte Mossberg-Flinte hochriß, um sich an Marokows Seite vor der Bar niederzuducken. Mit zittriger Hand versuchte Marokow eine alte Greysa-Pistole in Anschlag zu bringen. Der erste Gewehrschuß sprengte ein großes Stück Holz aus der Theke, das zweite Ballern überschüttete Blaine und Marokow mit einem Hagel von Holzsplittern. McCracken lugte über den Thekenrand und sah, daß die zwei angeschossenen Revolvermänner heranwankten. Ihre Kanonen spien Feuer. Es brauchte vier weitere Schüsse, um sie endgültig zu fällen. Allerdings geriet er, während er die beiden umnietete, ins schönste Schußfeld, das sich der Barkeeper wünschen konnte. Der Kerl hatte ihn mit der Mossberg aufs Korn genommen, aber da stolperte Marokow dazwischen. Das Geschoß der Flinte zerfetzte dem Russen in derselben Sekunde die Brust, in der er aus seiner altbewährten Zimmerflak einen Schuß abfeuerte. Der Treffer warf dem Barkellner den Kopf in den Nacken. Marokow prallte gegen McCracken, und sie schlugen beide wuchtig auf den Fußboden.

Blaine kroch unter dem Russen hervor, beugte sich über ihn. »Andrej …!«

Zu spät. Im Tode standen die Augen des Russen offen, ihr Ausdruck ähnelte an seinem Ende auf seltsame Weise dem, den sie damals, an dem Tag im Dschungel nahe der vietnamesischen Fernstraße 9, hatten.

Blaine rappelte sich gerade auf, als drei Burschen mit Ingram-Maschinenpistolen in die Hotelbar gepoltert kamen. Er entleerte den restlichen Inhalt des Pistolenmagazins in ihre Richtung, hastete währenddessen zu der Schwingtür, die in die Küche führte. Er jagte hindurch und hörte, daß Leute ihn auf Spanisch anschrien, doch das Gezeter verstummte, als die Hotelangestellten sein Schießeisen sahen. Er rannte an ihnen vorbei, ohne auf das Durcheinander der Herdplatten und Arbeitstische zu achten, an denen Chefköche Mahlzeiten zubereiteten. Der Fluchtweg führte ihn durch einen weitläufigen Lagerraum voller reichlich gefüllter Regale. In den unteren Fächern standen mehrere Propangasflaschen.

Zwei davon stellte Blaine vor die Tür des Lagers, wo die Verfolger, wenn sie ihm hinterher kamen, sie bestimmt umwerfen mußten. Er lief durch den Flur zum Hinterausgang, lud unterwegs seine Waffe neu; dann wartete er ab, bis die Tür aufflog. In diesem Augenblick schoß McCracken zweimal, einen Schuß für jede der beiden umgekippten Propangasflaschen.

Die doppelte Explosion erschütterte den ganzen Korridor. Mauerwerk krachte aus beiden Wänden herab, und die Decke stürzte ein. Blaine war nahe genug, um noch die Hitze der Detonationen zu spüren, ehe er durch die Hintertür aus dem Buena Vista floh.

Mittlerweile waren drei Jeeps mit kubanischen Milizionären vorgefahren, und soeben stürmten die letzten Uniformierten zum Hoteleingang. McCracken wartete, bis alle im Gebäude verschwunden waren, dann stieg er in einen der mit Maschinengewehren ausgestatteten Jeeps. Mit der SIG-Sauer durchlöcherte er den anderen Fahrzeugen je zwei Reifen, ehe er rasant abfuhr.

Er hatte vor, schleunigst von der Hauptstraße zu verschwinden und Nebenstraßen zu benutzen, um den Treffpunkt auf einem fünfundzwanzig Fahrtminuten entfernten Flugplatz zu erreichen. Aber da alles ein abgekartetes Spiel war, stand zu befürchten, daß kubanische Miliz vor ihm auf dem Flugplatz eintraf, und kein Pilot, der bei klarem Verstand war, würde unter solchen Umständen landen.

Doch Blaine hatte keine Wahl. Der Flugplatz war seine einzige Chance.

Er brachte den Jeep auf Höchstgeschwindigkeit. Noch schneller kreisten seine Gedanken um die Ereignisse im Buena Vista. Man hatte ihn und Marokow getäuscht, sie waren von Leuten in das Hotel gelockt worden, die unterstellt hatten, daß zwei scheinbar unversöhnliche Feinde der Versuchung nicht widerstehen könnten, endlich die so lang aufgeschobene Abrechnung vorzunehmen. Hätten sie nur die Wahrheit geahnt …

Jetzt zählte nur noch die Tatsache, daß McCracken nach Kuba gelockt worden war, um einen Job zu tun, den irgend jemand erledigt haben wollte. Marokow hatte erwähnt, er sei für eine CIA-Abteilung tätig. Vielleicht hatte er keinen Wert mehr für die dortigen Kissenfurzer gehabt, und das war ihre Weise gewesen, ihm ihren Dank zu zeigen. Blaine in diese Sauerei hineinzuziehen, war ein Fehler gewesen, den sie noch bereuen sollten.

McCracken bog von der Hauptstraße ab, und das Fahrzeug holperte durch eine Reihe von Gassen. Er hoffte, daß er der Verstärkung, die die Milizionäre bestimmt vom Hotel aus alarmiert hatten, zuvorkommen konnte. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, und Blaine wurde ruhiger, als die schlecht asphaltierte Ausfallstraße schließlich auf den letzten Streckenabschnitt zum Flugplatz mündete.

Plötzlich trat er brutal auf die Bremse, die Reifen quietschten, der Wagen kam am Straßenrand zum Stehen.

Genau vor ihm versperrte auf einer kleinen Anhöhe ein quer geparkter Schützenpanzer den Weg. Blaine sah Uniformierte im Gelände in Deckung gehen und die Waffen feuerbereit machen. Er wendete das Fahrzeug und sah in einem halben Kilometer Entfernung zwei mit Soldaten bemannte LKWs heranrasen.

Schon hatte er sich damit abgefunden, sich mit Hilfe der im Jeep montierten MGs durchschlagen zu müssen, da drang von fern ein Surr- und Brummgeräusch an seine Ohren. Es war ein altbekannter, halb vergessener Klang, so unwahrscheinlich wie der Anblick, der sich ihm nun vom Westen her bot.

Ein alter Transporthubschrauber des Typs Helio-Courier, den er seit der Zeit in Vietnam nicht mehr gesehen hatte, orgelte von der Bergkette herab und senkte sich zur Landstraße. Das war keineswegs die zu seiner Abholung bestellte Maschine und genausowenig der richtige Pilot. Helio-Courier-Hubschrauber waren in Vietnam verwendet worden, um Operation Phönix-Kämpfer an unmögliche Einsatzorte zu befördern, und ebenso, um sie wieder herauszubringen. Dabei war ihr Tiefflugvermögen und die Fähigkeit, praktisch keine Landefläche zu brauchen, ausschlaggebend gewesen; sie hatten viele Leben gerettet, und ihre Piloten – wie der berühmte Harry Lime – galten damals als so wahnsinnig wie die Männer, die sie transportierten.

Der Helio-Courier schien in der Höhe zu verharren, dann schwebte er senkrecht nach unten. Mit lautem Heulen zerteilten die Rotorblätter die Luft. Die Maschinengewehre in den seitlichen Stummeltragflächen knatterten, schossen dicht vor den LKWs, die auf Blaine zurollten, Asphaltbrocken aus der Straße. Der vordere Laster schwenkte zur Seite, um dem Kugelhagel auszuweichen, und wurde vom nachfolgenden Transporter gerammt. Blaine sah beide LKWs in den Straßengraben rauschen, während hinter ihm die Milizionäre zurück zu ihrem Schützenpanzer liefen, um die Verfolgung aufzunehmen.

Aber der Helio-Courier sank rasch abwärts und landete nur zwei Meter neben McCrackens Wagen auf der Straße, als käme überraschend ein alter Freund zu Besuch. Die Cockpit-Luke öffnete sich und gab den Blick auf einen Mann frei, der ein Polyester-Hawaiihemd mitsamt Blütenkette trug.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Und doch sah Blaine es mit eigenen Augen.

»Zur Stelle, Captain!« brüllte Harry Lime zu McCracken heraus, mimte spaßhaft einen zackigen Gruß. »Jetzt aber flott an Bord.«

Blaine zwängte sich ins Cockpit und auf den Copilotensitz und fügte sich in die Zuschauerrolle. Der Wind kräuselte leicht Harrys Blütenkette, fuhr unter sein bauschiges Hawaiihemd und blähte es, bis Blaine die Luke zuknallte. Anschließend schaute er zu, wie Harry die alte Mühle routiniert durchstartete und über die verunglückten LKWs hinwegsteuerte, während das MG des Schützenpanzers den Helikopter unter Beschuß nahm. Falls die Kugeln Harry Lime beunruhigten, ließ er sich nichts anmerken. Abgebrüht flog er so dicht über den Baumwipfeln, daß Zweige den Lack an der Rumpfunterseite des Helio-Couriers zerkratzten, und steuerte ihn im Zickzackkurs, bis er zur Atlantikküste gelangte. Dort beschleunigte er den Helikopter auf maximale Geschwindigkeit und überquerte das Meer so tief über dem Wasserspiegel, daß Gischt gegen die Cockpitscheiben spritzte.

»Du fliegst besser denn je, Harry.«

Lime bemühte sich zu lächeln, wurde beinahe rot, schob eine unangezündete Zigarette vom einen in den anderen Mundwinkel. »Schön zu erfahren, daß jemand wie du noch immer einen wie mich gebrauchen kann, Captain.«

»Ohne dich würde Castro mich jetzt in der Pfeife rauchen, wäre er kein Zigarrenraucher.«

»Offen gestanden, es gibt einen bestimmten Grund für mein Aufkreuzen.«

Jetzt erst bemerkte Blaine die sorgenvolle Miene Harry Limes. »Dann mal raus mit der Sprache.«

»Du mußt mir helfen. Deshalb habe ich diesen Flug übernommen. Darum habe ich dich rausgeholt. Hätte Castro dich eingelocht, wäre ich genauso aufgeschmissen, wie du.«

»Das ist schwer zu glauben, Harry.«

»Durchaus nicht, verlaß dich drauf. Es ist da nämlich etwas vorgefallen, Captain …«