Kapitel
35

Der Tag war heiß und trocken geworden. Staub wirbelte auf und hing wolkenartig in der Luft. Die vier Wagen bahnten sich langsam und vorsichtig ihren Weg. Alle Insassen hatten, kaum waren sie in das Reservat gelangt, ihre Pistolen entsichert oder ihre Maschinenpistolen schußbereit gemacht.

»Halt«, sagte der indianische Spurensucher, der auf den Namen Birdsong hörte und auf dem Rücksitz des ersten Wagens hockte.

Der Fahrer bremste den Crown Victoria ab und kam zum Stehen. Birdsong war schon vorher ausgestiegen, und Thurman folgte ihm auf den Fuß. Seine Stiefel knirschten über Kieselsteine, als er die Ansammlung kleiner, rustikaler Hütten im Zentrum des Reservats abschritt.

»Was ist denn?« wollte Thurman wissen, als er ihn eingeholt hatte.

Der Indianer ging in die Hocke und ließ Steine und Staub durch seine Finger rinnen. Der Stetson, den er auf dem Kopf trug, verbarg sein Gesicht fast völlig, und so war es unmöglich, die Miene oder das Alter des Spurensuchers zu erkennen. Die Stimme, die aus dem Schatten unter der Krempe drang, ließ jedoch den Schluß zu, daß der Mann die Mitte seines Lebens längst überschritten hatte.

»Sie sind fort«, verkündete Birdsong.

»Was sind sie?«

Der Indianer deutete auf eine Linie von Eindrücken im staubigen Boden, und Thurman erkannte die Spur.

»Wo sind sie hin?«

Birdsong drehte den Kopf zu ihm und blickte ihn unter der Hutkrempe an. »In zwei Richtungen.« Er zeigte nach rechts. »Eine größere Gruppe ist nach Norden über die Felder dort gezogen. Die zweite, viel kleinere Gruppe ist nach Westen ins …«

»Das sind sie!« rief Thurman und lächelte grimmig. »Hinter diesen Leuten sind wir her. Gut, wohin sind sie unterwegs?«

Der Spurensucher schaute auf den Horizont, wo flimmernde Hügel aus der Ebene aufragten. Ein Anblick wie geschaffen für ein Postkarten-Motiv. »Wie ich schon sagte, nach Westen. Ins Tal der Toten.«

»Ist daran irgendwas Besonderes?«

»Nur, wenn wir hineingehen.«

Der Spurensucher hielt den Konvoi wieder an, als die Straße anstieg und sich die Hügel hochwand, die sie vorhin aus der Ferne erblickt hatten. Die Erhebungen wirkten jetzt nicht mehr so unheilvoll, aber etwas Mysteriöses schien immer noch von ihnen auszugehen.

Birdsong suchte wieder den Boden ab.

»Wie ich befürchtet habe«, erklärte er Thurman. »Sie sind ins Tal der Toten gegangen.«

»Wie viele sind sie?«

»Ich glaube zehn.«

»Ist der Junge bei ihnen?«

»Sieht so aus.«

Thurman schritt an dem Indianer vorbei. »Was hat es mit diesem Tal der Toten auf sich?«

»Das ist ein heiliger Friedhof der Sioux«, erklärte ihm der Indianer. »Und dort wurde auch eine legendäre Schlacht geschlagen, bei der eine kleine Gruppe von Sioux eine ganze Armee von Pawnee besiegt hat.«

»Gehörst du zu den Sioux?«

»Nein, ich bin Pawnee.«

Thurman drehte sich zu der Wagenkolonne um. Seine Männer waren bereits ausgestiegen und vertraten sich ihre steifen Beine. Die meisten waren Söldner, die der fette Mann ihm zur Unterstützung geschickt hatte, um alle Aufgaben erledigen zu können. So lange unterstanden sie dem Kommando Thurmans. Um dumme Fragen nach den Hintermännern oder dem Sinn und Zweck des Unternehmens von vornherein auszuschalten, hatte der fette Mann ihm hauptsächlich Ausländer geschickt.

Der Größte unter ihnen, der Bosnier Goza, reckte gerade die Arme zum Himmel. Neben ihm stand der kleine Vietnamese Ling, der sich an seiner Seite wie ein Zwerg ausnahm. Ein Stück weiter standen die Araber Aswabi und El-Salab zusammen, wie immer schweigend. Das Paar ließ die Blicke wie hungrige Raubvögel über das Terrain wandern.

Noch ein Stück weiter bei dem Südamerikaner Guillermo Rijas standen drei der Russen, die von der Wet-Affairs-Abteilung des KGB zu Thurman gestoßen waren.

Den Rest der Truppe bildeten sieben kampferprobte amerikanische Söldner, die erst in der letzten Minute angeheuert worden waren. Der fette Mann hatte auch dafür gesorgt, daß ihnen alles zur Verfügung gestellt worden war, was sie sich an Waffen und sonstiger Ausrüstung gewünscht hatten; viel schweres Gerät, darunter Granatwerfer und großkalibrige Maschinengewehre.

»Worauf warten wir?« fragte Thurman jetzt den Spurensucher.

»Wir sind Außenseiter, die nicht hierhin gehören«, antwortete Birdsong. »Uns wird man keinen Zutritt gewähren, vor allem nicht, wenn wir …« Seine Stimme erstarb, und er blickte zu den Kämpfern zurück.

»Wenn wir was?« wollte Thurman wissen.

»Diejenigen, die das Tal der Toten betreten, dürfen kein Gerät aus der heutigen Zeit mitbringen. Maschinen und moderne Waffen entweihen den heiligen Boden. Wer auf den Friedhof will, darf nur Vergangenes mit sich führen.«

»Quatsch!« entgegnete Thurman. »Zurück in den Wagen, Spurensucher. Führ uns!«

Birdsong drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. »Sie machen einen großen Fehler.«

»Das ist meine Sache.«

Der Weg die Hügel hinauf war kaum mehr als ein Trampelpfad und schlecht befahrbar. Die Wagen rumpelten und schaukelten im ersten Gang über den felsigen Boden und mühten sich Meter für Meter voran. Die Fahrzeuge fuhren in einer Reihe hintereinander, was den Windschutzscheiben, mit Ausnahme der der ersten Wagen, gar nicht gut bekam. Immer wieder wurden von den durchdrehenden Reifen Steine und Staub hochgeschleudert, und bald zogen sich feine Sprünge durch das Glas. Als die Wagen die Hügelkuppe erreichten, konnte man kaum noch durch die Scheiben sehen.

»Ich kann hier nichts Geheimnisvolles entdecken«, bemerkte Thurman, als der erste Wagen hinunter ins Tal fuhr.

Birdsong zuckte die Achseln und drückte den Hut fester auf den Kopf. Seine Augen schienen in alle Richtungen gleichzeitig zu blicken. Die markierten Gräber und Warn-Totempfähle, die sich früher einmal hier befunden haben mußten, existierten längst nicht mehr. Das Tal der Toten war ein wogendes, hügeliges Gelände, das im Osten und Westen von steil aufragenden Höhen begrenzt wurde. Im Norden befand sich ein schmaler Durchgang, der der Grund dafür war, daß vor vielen Jahren eine Handvoll Sioux eine ganze Armee von Pawnee hatten vernichten können.

Der Boden war erstaunlich dicht bewachsen mit Brombeersträuchern, wildem Wein und Unkraut. Hier und da ragten schmale Bäume wie Skelette aus dem Boden.

Die Hügel im Westen waren von Höhlen und Löchern übersät. Birdsong wußte, daß hier die Sioux-Krieger während der legendären Schlacht ihre Verteidigungspositionen bezogen hatten. Davon hatte er Thurman allerdings nichts erzählt.

Der Spurensucher konnte nicht ausmachen, wie man zu diesen Höhlen hochkommen sollte. Wie hatten es die Sioux vor hundertfünfzig Jahren geschafft, sich dort hinauf zurückzuziehen?

Die Bremsen kreischten, während der vorderste Wagen den Hang hinunterrollte. Wieder flogen Staubfontänen hoch und bedeckten die Windschutzscheibe mit einer dicken Schicht. Der Fahrer betätigte die Sprühdüsen, und die Scheibenwischer entfernten den braunen Dreck. Doch wenig später war das Glas wieder blind. Der Fahrer versuchte aufs neue, sie klarzubekommen, aber als das bald immer schwieriger wurde, kurbelte Thurman sein Seitenfenster herunter, um wenigstens für sich bessere Sicht zu bekommen.

Der Pfad wurde wieder eben, und der Konvoi rollte durch das Tal. Von einer Straße oder einem Weg war hier beim besten Willen nichts mehr zu erkennen, und die Wagen schwankten und holperten hin und her. Die Stoßdämpfer wurden bis an ihre Grenzen belastet und die Insassen völlig durchgeschüttelt. Immer wieder krachten die Männer mit den Köpfen an die Decke, um im nächsten Moment auf den Sitz zurückzuprallen. Der schwere Goza preßte schließlich die Hände an die Decke, um seinen Schädel vor weiteren Beulen zu bewahren.

Der Führungswagen rollte über ein Stück weichen Boden, und sofort sanken seine Räder ein. Der Fahrer drückte aufs Gas, schaltete vom ersten in den Rückwärtsgang und von dort wieder in den ersten, bis er spürte, daß die Reifen wieder festen Grund unter sich hatten und die Reise weitergehen konnte. Ein großer Teil des Tals lag unter Staubwolken begraben.

Zwanzig Meter weiter sank der ganze Wagen ein, als alle vier Reifen gleichzeitig keinen Boden mehr unter sich fanden.

»Verdammte Scheiße …«

Der Rest von Thurmans Fluch ging unter, als der Wagen vom Boden verschluckt wurde, bis nur noch das Oberteil herausschaute.

»Die Türen gehen nicht mehr auf!«

»Dann klettert durch die Fenster. Los, durch die Fenster!«

Der Motor stotterte und lieferte kaum genug Energie für die elektrischen Fensterheber. Sehr, sehr langsam sanken die Scheiben, bis sie endlich unterhalb der Gummidichtung angekommen waren.

Thurman war der erste, der sich hindurchzwängte und die Oberfläche erreichte.

»Scheiße!« rief er. »Elende Scheiße!«

Als der Fahrer des zweiten Wagens bemerkte, daß sein Vordermann im Boden versank, trat er so abrupt auf die Bremse, daß der dritte Wagen ihm nicht mehr ausweichen konnte. Ein metallisches Krachen schüttelte die Passagiere von beiden Fahrzeugen durch, die sofort ausstiegen, um sich den Schaden anzusehen. Aus dem Kühler des dritten Wagens zischte grauer Dampf. Das Heck des zweiten Wagens war eingedrückt, der Wagen selbst in eine Senke geschlittert, aus der sein Vorderteil wie ein Ertrinkender aufragte. Der vierte Wagen hatte ebenfalls ausweichen wollen, war dabei ins Schleudern geraten und schließlich in einem Loch ähnlich dem gelandet, in dem das Führungsfahrzeug eingesunken war.

»Holt die Waffen raus!« brüllte Thurman, als seine Männer aus ihren Wagen krochen. »Holt die Waffen!«

Die Kofferraumdeckel mußten teilweise mit roher Gewalt geöffnet werden, während Rijas und die beiden Araber auf Posten standen und das Gelände nach einem möglichen Hinterhalt absuchten. Die anderen machten sich daran, ihr Gerät aus den unbrauchbaren Fahrzeugen zu bergen.

»Birdsong!« rief Thurman und spähte durch den Staub nach dem Spurensucher. »BIRDSONG!« Er schirmte die Augen mit einer Hand ab, konnte den Indianer aber nicht finden.

»Er ist verschwunden«, meldete Ling.

»Der Scheißkerl!« knurrte Thurman.

Er hörte ein Schwirren in der Luft, so, als würde ein Wind einen anderen durchschneiden. Instinktiv ließ er sich in einen Graben neben dem Loch fallen, in das sein Wagen gesunken war, und machte sein M-16 schußbereit. Vorsichtig hob er dann den Kopf und blickte durch das Visier seiner Waffe.

Von rechts ertönten Schreie. Thurman sah hinüber zu den Männern, die gerade am dritten Wagen Gerät entluden. Ein Pfeil war Goza in die Schulter gefahren, ein anderer hatte den Russen Perochin ins Bein getroffen.

Ein dritter Mann, der eine Munitionskiste trug, duckte sich, aber zu spät. Ein Pfeil fuhr ihm seitlich ins Knie. Er brach zusammen, die Kiste fiel zu Boden und flog auf. Eine Handgranate rollte heraus, deren Sicherungsstift beim Aufprall abgebrochen war.

»Alle Mann runter!« schrie Thurman.

Die Explosion zerfetzte den dritten Wagen. Er verwandelte sich in ein fauchendes Ungeheuer, das Glas- und Metallsplitter spuckte und dann Feuer vom Himmel regnen ließ, als der Benzintank sich entzündete.

Weitere Schreie waren zu hören.

Thurman sprang aus dem Graben und hechtete zu Ling und Rijas, die hinter ein paar Felsen Deckung gesucht hatten.

»Die Höhlen da!« Er zeigte auf die Hügelkette im Westen. »Von dort sind die Pfeile gekommen. Ling!«

Der kleine Vietnamese sauste schon im Zickzackkurs auf die Stelle zu, wo sich die meisten Männer befanden. Thurman verfolgte, wie er wenig später im Staub verschwand. Nach ein paar Sekunden fing eines der schweren Maschinengewehre an zu bellen. Sein Donnern hallte durch das ganze Tal wider, während es die Höhlenöffnungen beharkte. Im Schutz seines Schußhagels feuerten die Araber immer wieder die Granatwerfer in Richtung des Höhenzugs ab. Viermal fuhren ihre Ladungen direkt in die Löcher, vier weitere Male detonierten sie neben den Eingängen. Staub, Steine und Erde spritzten hoch und rollten lawinenartig die Hänge hinab.

Als die Wolken sich gelegt hatten, waren einige der Öffnungen buchstäblich verschwunden, während andere sich deutlich verbreitert hatten und wie offenen Wunden wirkten.

Thurman kroch weiter, um festzustellen, welche Verluste sie erlitten hatten. Der pfeifende Wind schien ihn zu verspotten und rief ihm immer wieder Birdsongs mysteriöse Warnungen vor der Entweihung dieses heiligen Landes ins Gedächtnis.

Er blieb für einen Moment in einer Senke liegen und zwang sich, wieder vernünftiger zu denken. Der Spurensucher hatte gesagt, daß zehn Gegner vor ihnen in dieses Tal gelangt waren. Die Bogenschützen unter ihnen, die sich in den Höhlen verborgen hatten, waren zweifelsohne in dem Maschinengewehr- und Granatwerferbeschuß umgekommen. Thurman rechnete sich aus, daß die Gegner mindestens drei Mann verloren haben mußten.

Als er seine Truppe durchzählte, kam er auf zehn Kämpfer. Zu ihnen gehörte auch Goza, der sich den Pfeil aus der Schulter gerissen hatte. Die Handgranate hatte zwei Söldnern das Leben gekostet und die Anzahl der Verwundeten auf drei erhöht. Glücklicherweise waren die Waffen und das schwere Gerät unbeschädigt geblieben. McCracken hatte seinen Überraschungsvorteil gehabt, doch damit war es nun vorbei. Das Blatt würde sich jetzt wenden.

Thurman lief geduckt weiter und half einem der Russen, sich in Sicherheit zu bringen. Dabei behielt er die ganze Zeit über die westlichen Hügel im Auge.

Alles in allem hatte McCrackens Angriff ihnen nur mäßigen Schaden zugefügt. Thurman hätte ohnehin Männer bei den Wagen zurückgelassen, während er mit dem Rest der Truppe vorrückte. Diese Aufgabe konnten nun die Verwundeten übernehmen. Er stellte sicher, daß die drei ausreichend bewaffnet und strategisch günstig positioniert waren. Ling sammelte derweil die verbliebenen Kämpfer zum Stoßtrupp.

»Ihr gebt uns Deckung«, befahl Thurman den Verwundeten, ehe er zu den anderen stieß.

Häuptling Silver Cloud hockte in seinem Tipi und rauchte eine lange Holzpfeife, als der Eingang sich teilte und Birdsong eintrat.

»Setz dich, mein Freund«, forderte der Häuptling ihn auf.

Der Spurensucher nahm den breiten Hut ab. Dichtes graues Haar kam darunter zum Vorschein. »Ich habe alles genauestens erledigt.«

»Sie sind also im Tal?«

»Sie konnten gar nicht schnell genug dorthin kommen.«

»Natürlich … Und, sind sie schwer bewaffnet?«

»Sehr schwer.«

»Bedauerlich.« Der alte Mann blies eine Rauchwolke aus.

»Ich habe ihnen gesagt, ich sei ein Pawnee.«

»Und das haben sie dir geglaubt?«

»Ich schätze«, antwortete Birdsong, »für sie sehen wir alle gleich aus.«