Kapitel
7

»Ich vermute, Sie kommen von der Regierung«, begrüßte Robert Mulgrew, der Registrator der Universität Harvard, Susan, als sie in der zweiten Etage des Universitätsgebäudes sein Büro betrat.

Susan legte ihm ihren Ausweis vor. »Ich bin vom Seuchenkontroll- und Verhütungszentrum.«

»Furchtbar, was sich in der Ladenpassage zugetragen hat. Mehrere unserer Sommersemester-Studenten sind dort umgekommen, ist mir erzählt worden. Bestätigt hat es sich aber bisher noch nicht. Die Identifizierung der Opfer ist offenbar noch nicht abgeschlossen. Ich nehme an, daß Sie diejenige sind, die sich damit beschäftigt.«

»Ich bin eine davon.«

Mulgrew nickte, als wisse er Bescheid. »Wahrscheinlich suchen Sie nach den Adressen und sonstigen Daten einiger Opfer, von denen Sie nur die Namen kennen.«

»Ich suche nur eine Person.«

»Nur eine, sagen Sie?«

Susan nickte. »Und mir fehlt der Name«, sagte sie und holte die Liste der in dem blauen Rucksack entdeckten Bücher hervor. »Diese Publikationen sind im Einkaufszentrum gefunden worden.«

Mulgrew nahm die Liste und griff nach seiner Brille. »Ach, jetzt verstehe ich«, sagte er, als wäre das tatsächlich der Fall.

»Ich wüßte gerne, in welchen Kursen diese Bücher erforderlich sind und wer dafür in Frage käme, sie alle zum Studium heranzuziehen.«

Mulgrew warf noch einen Blick auf die Liste. »Das werden nicht besonders viele sein.« Er griff nach einigen Schnellheftern, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Doch ehe er sie aufklappte, schaute er Susan noch mal an. »Wissen Sie inzwischen, was es war? Ich meine, woran die Menschen gestorben sind?«

»Die Untersuchungen dauern noch an.«

»Sehen Sie, ich habe natürlich Gerüchte gehört. Es soll eine Krankheit gewesen sein, sagen die Leute, etwas Ansteckendes. Daß sich Opfer in Quarantäne befinden. Kranke, deren Verwandten man keine Besuche gestattet.«

»Ich bedaure, aber ich darf Ihnen keine Auskunft geben.«

»Aber bedenken Sie, die Menschen haben Angst. Sie fragen sich, ob sie in Gefahr sind. Wegen dieser Panik haben wir jetzt schon zwei Drittel unserer Sommersemester-Studenten verloren. Es ist nicht ganz einfach, die Leute zu beschwichtigen.«

»Es ist keine Epidemie ausgebrochen, soviel kann ich Ihnen verraten.«

»Na, das ist doch immerhin schon beruhigend«, sagte Mulgrew in einem Ton, als meinte er es ernst.

Inzwischen hatte er das Vorlesungsverzeichnis des Sommersemesters herausgekramt. Er notierte sich die aktuellsten wissenschaftlichen Vorlesungsangebote und verglich sie mit den Buchtiteln auf Susans Liste. Danach schaltete er seinen Computer ein und startete einen Suchbefehl nach den Studenten, die sich zu den betreffenden Kursen angemeldet hatten.

»Da haben wir jemanden«, stellte Mulgrew ohne den geringsten Anklang von Zufriedenheit in seinem Tonfall fest.

Auf dem Monitor war ein einziger Name erschienen: Joshua Wolfe.

»Es ist wirklich schrecklich«, sagte Mulgrew ganz leise.

»Könnten Sie mir seine komplette Datei ausdrucken, alles was über ihn vorhanden ist?«

»Ja, selbstverständlich.«

Der Ausdruck der Angaben dauerte mehrere Minuten. Währenddessen las Mulgrew Informationen vom Bildschirm ab.

»Ist es nicht schrecklich?« meinte er ein zweites Mal so verhalten, daß man ihn durch das Rattern des Druckers kaum verstehen konnte. »Er ist einer unserer ständigen Studenten und ist inzwischen im Doktorandenförderungsprogramm, nachdem er sämtliche erforderlichen Scheine in nur …«

Plötzlich stutzte Mulgrew, stand auf und lief zum Drucker. Er nahm den Blätterstapel und betrachtete die erste Seite.

»Ich dachte, ich hätte es auf dem Monitor nicht richtig gesehen. Ich dachte … habe gehofft …«

»Was denn?« fragte Susan.

Mulgrews Augen wurden trüb vor Entsetzen. »Joshua Wolfe ist erst fünfzehn Jahre alt.«

»Ich müßte mich mal in seinem Zimmer umschauen«, sagte Susan.

»Natürlich, das verstehe ich. Ich veranlasse, daß der Wachdienst Ihnen Zutritt verschafft.«

Wenig später begleiteten Mulgrew und ein uniformierter Sicherheitsbeamter Susan über das Universitätsgelände zu Apartment 21, einem Zimmer im sonst von Studienanfängern bewohnten, jetzt dem Sommersemester zur Verfügung gestellten Studentenwohnheim.

»Falls ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann«, äußerte Mulgrew, »finden Sie mich in meinem Büro.«

»Danke«, antwortete Susan und schloß die Türe hinter sich.

Der Raum bestand eigentlich aus zwei Zimmern und wäre während des Studienjahrs normalerweise von zwei oder drei Studenten bewohnt gewesen. In diesem Sommer war er jedoch offensichtlich nur von einer Person benutzt worden. In der Schlafnische standen nur ein Bett, ein Stuhl und ein Fernsehapparat, sonst nichts. An den Wänden hingen keine Poster, eine Stereoanlage mit bombastischen Lautsprechern fehlte, und auch sonst sah Susan nichts, was auf die Lebensweise eines Teenagers hingewiesen hätte. Das einzige, was eventuell auf einen Jugendlichen hindeutete, waren die halboffenen Schubladen und die überall verstreuten Kleidungsstücke. Es sah aus, als wäre Joshua überstürzt abgereist. Im Schrank stand kein Koffer. Mehrere Drahtkleiderbügel lagen auf dem stumpfen Fliesenboden.

Das zweite Zimmer bot dagegen ein völlig anderes Bild.

Dort gab es praktisch nur Computer. In einem Gerät erkannte Susan den Power Macintosh II 8100/80, den schnellsten und leistungsfähigsten aller zur Zeit erhältlichen Rechner. An einer anderen Wand standen zwei kleinere Computer, jeder ergänzt um externe Festplattenlaufwerke hoher Kapazität. Vollgestopfte Bücherregale bedeckten jedes freie Stückchen Wand.

Langsam und aufmerksam sah Susan sich in dem Raum um. Sie wußte nicht genau, was sie überhaupt suchte, und nahm erst einmal zur allgemeinen Orientierung alle möglichen Gegenstände vom Schreibtisch oder aus den Regalen, bis ihr Blick auf ein dickes, sauber in einen Plastikrücken gebundenes Heft fiel. Sie schlug es auf und las das Titelblatt.

Joshua Wolfe
Irreversible Effekte der Umweltverschmutzung und
potentielle Lösungsmöglichkeiten
Erster Entwurf der Dissertationsarbeit

Im selben Regal befanden sich zahlreiche Kladden und Notizbücher. Susan zog eines heraus und blätterte es durch; danach ein zweites und drittes Notizheft.

Die gesamten wissenschaftlichen Aufzeichnungen und theoretischen Überlegungen des Jungen drehten sich um Luftverschmutzung. Ein Notizbuch betraf ausschließlich den globalen Erwärmungsprozeß, ein anderes den Treibhauseffekt.

Bei Durchsicht der nächsten drei Regalfächer setzte sich Susan auf den mit solider Rückenlehne ausgestatteten Schreibtischstuhl. Der Inhalt anderer Kladden begründete die Notwendigkeit drastischer, einschneidender Schritte zur Behebung des Verschmutzungsproblems und beschrieb in allen Einzelheiten die Folgen für die Menschheit, sollte das Problem nicht bald mit vollem Nachdruck angegangen werden. Susan wußte, daß Genies häufig bestimmte Fragen mit wahrer Besessenheit verfolgten, und Joshua Wolfes Form der Besessenheit hatte in diesen vielen Kladden und Heften ihren Niederschlag gefunden.

Sie ging zu dem Tisch, auf dem der Macintosh stand, zog den einzigen Stuhl mit. Sie schaltete den Rechner ein und sah sich den Datenmanager an. Es überraschte sie nicht, daß alle nicht zum Betriebssystem zählenden Dateien gelöscht worden waren. Enttäuscht durchsuchte sie in der Hoffnung, vielleicht doch noch irgendeine Art von Hinweis zu entdecken, die Schubladen des Computertischs.

Tatsächlich stieß sie in der zweiten Schublade auf etwas, das ihre Erwartungen übertraf: eine Box aus Plastik, die unbeschriftete Disketten enthielt. Susan entnahm aufgeregt eine, schob sie ins Laufwerk und lud die einzige auf der Diskette gespeicherte Datei.

Auf dem Bildschirm erschien ein Gedicht, das erste einer ganzen Sammlung – die Datei umfaßte ausschließlich Gedichte. Sie waren in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung geordnet. Susan betätigte die Bild-Lauf-Taste, um wieder zum ersten Gedicht zurückzukommen. Über dem Titel fand sich der Vermerk: Josh, 3 Jahre.

Der Titel lautete: DIE FEUER DER MITTERNACHT. Es folgten elf Strophen.

Wir wissen, wie beim Weinen zumute ist
Und greifen doch oftmals zu Lüge und List

Viele sind es, deren Mut geschwunden
Weil nie sie des Lebens Sinn gefunden

Aber es gibt einen Weg zu beschreiten,
Den ich zu gehen gedenke beizeiten

Das eine, was die Welt bewundern muß,
Bin bald ich, dank der holden Musen Kuß

Und kurz vor Beginn der Mitternacht
Werden im Innern Feuer entfacht

Was ohn' Ahnung du hast, laß dich bekehren
Ist doch alles, was ich je könnte begehren

Doch hattest du jemals, wie ich, keine Wahl
Ersehnst du ein Ende der ewigen Qual

Groß wärst du nicht, dein Sein war bescheiden
Groß wären nur deine künftigen Leiden

Nur kurze Zeit in meiner Haut
Und vor den Feuern es dich graut

Niemals kannst du den Feuern ganz entkommen
Von der Brunst bleibt niemand ausgenommen

Um die Welt weine ich
Und ich weine um dich

Wir leben alle in dem selben Reich
Und einmal sind wir auf ewig gleich

Die Zeilen erschütterten Susan trotz ihrer Holprigkeit, denn ›Die Feuer der Mitternacht‹ waren von einem Dreijährigen geschrieben worden. Allerdings wohl von keinem gewöhnlichen Dreijährigen. Vielmehr von einem, der die Tatsache seines Andersseins schon kannte und den sie verbitterte. Ein Dreijähriger, der ein Außenseiter gewesen sein mußte und der sich verzweifelt gewünscht hatte, normal zu sein, ohne es je sein zu können.

Susans Herz hämmerte, als sie die Diskette aus dem Rechner nahm und eine andere hineinschob. Auf dieser befand sich eine Dateiliste. Susan sah sich etliche Dateien an. Joshua Wolfes nahezu manische Beschäftigung mit der Luftverschmutzung ging weit über die potentiell katastrophalen Auswirkungen hinaus und erstreckte sich auch auf die Erarbeitung grundlegender Lösungsvorschläge. Alle Dateien schilderten seine Experimente mit diversen Agens, die allesamt das Unheil auf der molekularen Ebene angehen sollten. Einige technologische Verweise deuteten eindeutig darauf hin, daß der Junge mit irgendeiner Art von gentechnisch erzeugtem Organismus hantierte, um luftverschmutzende Stoffe der Luft sozusagen direkt zu entziehen …

Susan stoppte den Bildlauf und starrte auf den Monitor. Fast hätte sie eine Datei übersprungen, wäre da nicht plötzlich ein Erinnerungsfetzen gewesen.

Baupläne, Blaupausen …

Vor nur wenigen Stunden hatte sie diese Konstruktionszeichnungen schon einmal gesehen. Und zwar in der mobilen Leitstelle der Sonderabteilung Brandwacht.

Es waren die Konstruktionspläne der Citypassage von Cambridge.

Susan versuchte Ruhe zu bewahren, aber ihre Gedanken überschlugen sich. Sie dachte an die Luftmeßinstrumente, die im Einkaufszentrum gefunden worden waren. Ein Zusammenhang mit Joshua Wolfes Forschungen lag unweigerlich nahe.

Was weiß ich? Was kann ich beweisen?

Zunächst die Hypothese. Angenommen, Joshua Wolfe ist im Heizungskeller gewesen, dann konnte das Vorhandensein der Meßgeräte in der Passage darauf hindeuten, daß er dort ein Experiment durchgeführt hatte. Angenommen, er hat einen Organismus oder ein Enzym eigener Schöpfung freigesetzt, um die lokale Luftverschmutzung zu bekämpfen.

Aber es lief nicht wie geplant, und das Ergebnis war …

Und kurz vor Beginn der Mitternacht
Werden im Innern Feuer entfacht

Die Feuer der Mitternacht, dachte Susan. War es das, was Joshua Wolfe vor zwei Tagen in der Cambridger Citypassage unbeabsichtigt auf die Menschheit losgelassen hatte?

In den nächsten Dateien stieß Susan auf eine vorläufige Antwort. Obwohl sie überwiegend mathematische Formeln und Gleichungen enthielten, mit denen Susan wenig anfangen konnte, entdeckte sie schließlich in einer Datei einen Hinweis auf die Substanz, die der Junge anscheinend im Rahmen seines Tests in der Einkaufspassage hatte erproben wollen: Clear Air – saubere Luft.

Diese Schreibweise erschien ausschließlich in der Überschrift, danach hatte Joshua Wolfe nur noch die Zusammenziehung CLAIR verwendet. Susan ging noch mal ein paar Dateien zurück und stellte fest, daß er allen seinen experimentellen Formeln Frauennamen gegeben hatte. Allem Anschein nach war er ebenso ein Meister des Worts wie auch des Reagenzglases – ein wahrer Poet.

Im Moment jedoch interessierten Susan seine Experimente mit dem Reagenzglas mehr. Falls sie Joshua Wolfes Gleichungen richtig interpretierte, mußten für die Räume der Einkaufspassage zwei Ampullen mit CLAIR erforderlich gewesen sein. Diese Angabe wurde später auf eine Ampulle reduziert, offenbar in letzter Minute, vielleicht erst am Sonntagvormittag.

Dieses Faktum lenkte Susans Überlegungen in eine andere Richtung. Was, wenn nun …

Sie griff nach dem Telefon, schloß die Lider, um sich auf die von Mulgrew genannte Rufnummer zu besinnen.

»Ich muß noch etwas wissen«, erklärte Susan ihm. »Hat Joshua Wolfe in den Forschungslabors, zu denen er Zugang hatte, den Empfang von Substanzen quittieren müssen? Ich meine, kann man nachprüfen, was er entnommen hat?«

»Darüber weiß ich nicht genau Bescheid«, antwortete Mulgrew und schwieg kurz, als erwartete er, daß Susan ihre Frage näher begründete. »Aber ich kann nachfragen.«

»Falls darüber Unterlagen existieren, brauchte ich eine Kopie.«

»Gerne.«

»So schnell wie möglich.«

Susan legte den Telefonhörer auf, lehnte sich zurück und bemühte sich darum, ihre Gedanken zu ordnen und sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. Sämtliche Studien- und Forschungsmaterialien in diesem Zimmer mußten beschlagnahmt und zur gründlichen Untersuchung durch die Sonderabteilung Brandwacht nach Atlanta gebracht werden. Und dort …

Susan spürte einen schwachen Luftzug im Rücken, drehte den Kopf und sah, wie sich die Tür zu Joshua Wolfes Unterkunft öffnete. Ein breitschultriger, bärtiger Mann trat ein und schloß die Tür, während Susan vom Stuhl aufsprang.

»Wer sind Sie?«

»Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte Blaine McCracken.