Kapitel
13

»Gleich da durch die Tür.«

»Vielen Dank«, sagte McCracken zu dem Wärter, der ihn im Hauptgebäude der New Yorker Stadtbibliothek auf der Zweiundvierzigsten Straße in ein Untergeschoß des in Richtung Bryant-Park gelegenen Archivanbaus geführt hatte. Gloria Rendine war die Assistentin des Kurators für Manuskript- und Buchraritäten. Als Blaine sie unter dem Vorwand anrief, er hätte vor, der Bibliothek eine ziemlich große Sammlung historischen Materials zu schenken, hatte sie höchst erfreut einen Termin mit ihm vereinbart. Blaine fragte sich, wie es ihr wohl gefallen würde, wenn ihr aufging, daß er statt in alten Schwarten in ihrer Vergangenheit stöberte.

McCracken trat ein und traf Gloria Rendine dabei an, wie sie Seite um Seite ein kostbar gebundenes Buch übergroßen Formats durchblätterte.

»Verzeihung.«

»Entschuldigen Sie«, antwortete die alte Frau leicht verdutzt. »Ich habe Sie nicht hereinkommen gehört. Sie sind bestimmt …« Sie blickte auf einen Zettel, der rechts neben ihr lag. »… Mr. McCracken.«

»Ganz richtig.«

»Nehmen Sie bitte Platz.«

Sie stand auf und bot Blaine den Stuhl vor ihrem Schreibtisch an. Über einem schlichten Kattunkleid trug sie eine leichte Jacke. Ihr silbriges Haar war zu einem Knoten hochgesteckt. Doch beim Nähertreten sah Blaine in ihren wachsamen Augen beharrliche Vitalität. Es hatte den Anschein, als hätten weder Alter noch Umwelteinflüsse ihrer Haut etwas anhaben können. Mit anderer Haarfarbe und neuer Frisur hätte sie ohne weiteres zwanzig Jahre jünger ausgesehen.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir Ihre Großzügigkeit zu schätzen wissen.«

Blaine näherte sich dem Schreibtisch, blieb jedoch stehen. »Leider hat sie ihren Preis. Eigentlich komme ich, müssen Sie wissen, weil ich etwas Ausgefallenes suche.«

Die Frau wirkte verwirrt. »Ich wüßte nicht, wie wir …«

»Genaugenommen suche ich eine Frau. Sie war jahrelang auf gewissen Gebieten überaus aktiv, bis sie sich auf einen ruhigeren Posten zurückgezogen hat. Man kannte sie früher unter dem Namen Gloria Wilkins-Tate.«

Welche Reaktion Blaine sich auch immer vorgestellt hatte, es erfolgte gar keine. Die Bibliothekarin befeuchtete sich nur mit der Zunge die Lippen und betrachtete ihn etwas eindringlicher.

»Was wollen Sie?« fragte sie unumwunden.

»Mich über bestimmte Aktivitäten informieren, die mit der Operation Offspring zusammenhängen.«

Gloria Rendine-Wilkins-Tates bisher beherrschte Miene entgleiste. Sie wollte zur Seite schauen, doch McCrackens fester Blick bohrte sich in ihre Augen und bannte sie wie die Schlange das Kaninchen.

»Ich muß wissen, worum es da ging«, drängte Blaine. »Was abgelaufen ist.«

Die alte Frau senkte den Blick auf das Buch, das noch aufgeklappt auf dem Schreibtisch lag, als könnte sie darin Zuflucht finden.

»Ich glaube«, sagte Blaine, »in dem Wälzer steht nichts über die Operation Offspring. Vielleicht läßt sich darüber gar nichts Schriftliches finden.«

»Ich könnte abstreiten, je davon gehört zu haben.«

»Könnten Sie.«

»Und selbst wenn ich je davon gehört haben sollte, Mr. McCracken, brauchte ich einen sehr guten Grund, um mit Unbefugten darüber diskutieren zu dürfen.«

»Versuchen wir es als Grund einfach einmal mit einem alten Bekannten, Harry Lime.«

Gloria Rendine bemühte sich um ein Pokerface, aber es war zu lange her, daß für sie eine Notwendigkeit dazu bestanden hatte – sie war außer Übung. »Und angenommen, ich kenne den Mann?«

»Dann interessiert es Sie eventuell zu erfahren, daß er nicht mehr aufzutreiben ist, einfach von der Bildfläche verschwunden. Irgendwelche tüchtigen Leute haben sehr geschickt dafür gesorgt, daß alles völlig harmlos aussieht und bei den Behörden keinerlei Verdacht erregen wird.«

»Dann darf ich wohl vermuten, daß Sie für keine Behörde arbeiten.«

»Nicht im herkömmlichen Sinn, Ma'am. Manche Stellen wären wohl der Meinung, in gar keinem Sinn. Für mich geht es darum, daß Harry Lime mir neun- oder zehnmal das Leben gerettet hat, das letzte Mal erst vor zwei Tagen. Ich bin es ihm einfach schuldig, daß ich kläre, was ihm zugestoßen ist.«

Die alte Frau seufzte. »Bedauerlicherweise kann ich Ihnen nicht im geringsten behilflich sein.«

»In einer Washingtoner Datenbank werden Sie als Harry Limes Betreuerin genannt.« McCracken benutzte jeden Satz wie einen Dolch. »Möchten Sie, daß wir uns lieber über die Ergebnisse meiner Nachforschungen unterhalten? Zum Beispiel, daß Sie ebenfalls Betreuerin eines weiteren Dutzends Männer und Frauen gewesen sind. Das ist die Sammlung, die ich am Telefon erwähnt habe.«

Die Tür zum Büro wurde geöffnet, und eine junge Frau kam herein und schob einen Bücherwagen vor sich her. Schüchtern lächelte sie Blaine zu und rollte den Wagen zu dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers.

»Es gibt einige spezielle Archive am Ende des Korridors«, sagte Gloria Rendine fast im Flüsterton. »Ich glaube, wir setzen unser Gespräch dort fort.«

Krill benutzte nie den Haupteingang eines Gebäudes, am wenigsten bei hellem Tag. Im Schatten fühlte er sich wohler; die Schatten waren sein Element. Hintereingänge in engen Gassen oder entlegenen Winkeln entsprachen mehr seinem Geschmack. Die New Yorker Stadt-Bibliothek bot ihm keine solche Möglichkeit, aber es gab mehrere Türen an den Laderampen in der Einundvierzigsten Straße.

Er schlich zu einem Zugang zwischen zwei abgestellten Lieferwagen, betrat den Bau und gelangte in einen düsteren Gang. Krill war froh, die schwarze Sonnenbrille, die im Tageslicht seine empfindlichen Augen gegen die Helligkeit beschirmte, absetzen zu können.

Die Gläser verminderten die Probleme, die sein Äußeres ihm in der Öffentlichkeit verursachte. Zudem hatte er gelernt, die überlangen Arme an den Körper zu ziehen, die Lippen über den zerklüfteten Zahnreihen zusammenzupressen und gebeugt zu gehen, um seine tatsächliche Körpergröße zu kaschieren. Im allgemeinen erregte er damit nur selten Aufmerksamkeit, und wenn doch, stieß er auf Abscheu oder Mitleid. Die Blicke stellten lediglich klar, daß er eine Mißgeburt war, doch das wußte er auch ohne sie; nur wenige Menschen würdigten ihn eines zweiten Blicks.

Und bei Erfüllung seiner heutigen Aufgabe drohte kaum eine Konfrontation mit Neugierigen. In Bibliotheken war das Licht meistens trübe und die Räume waren in einem höhlenähnlichen Labyrinth schmaler, langer Gänge zwischen hohen Regalen voller ordentlich aufgereihter Bücher. Noch günstiger war der Umstand, daß die Frau, der er hier einen Besuch abstatten sollte, ihre Räumlichkeiten im Kellergeschoß hatte. Das hieß, er brauchte sich keine Sorgen um Fenster zu machen.

Krill hatte sich den Lageplan des unterirdischen Irrgartens aus Korridoren genau eingeprägt, der sich an der Rückseite des Bibliotheksgebäudes bis unter den Bryant-Park erstreckte. Er gelangte zu einer Tür mit der Beschriftung Manuskript- und Buchraritäten-Archiv. Langsam betrat er den Raum dahinter. An einem Schreibtisch war eine junge Frau mit der Katalogisierung von Büchern beschäftigt.

»Verzeihen Sie«, sagte er so wohlklingend, wie es ihm möglich war und hielt den Blick auf den Fußboden gesenkt. »Ich habe einen Termin bei Miss Rendine.«

Die junge Bibliothekarin blickte kaum auf. »Sie muß jeden Moment wiederkommen.«

Krill tat, als schaue er auf seine Armbanduhr, und hoffte, daß der Frau der Umfang seines Unterarms nicht auffiel, der ihm das Tragen einer Uhr unmöglich machte. »Ich bin zeitlich sehr knapp dran«, seufzte er. »Könnten Sie mir vielleicht verraten, wo sie ist? Es dauert bestimmt nicht lange.«

In dem Archiv roch es nach Leder. Die dunklen Bücher an den Wänden verliehen dem klimatisierten Raum eine düstere Atmosphäre.

»Erzählen Sie mir, was es mit diesen Leuten, zu denen auch Harry Lime gehörte, auf sich hatte«, forderte Blaine, während Gloria Rendine sich an das hinterste Regal lehnte. »Erklären Sie mir, um was es sich bei der Operation Offspring gehandelt hat.«

»Dafür muß ich sehr weit ausholen«, gab sie zur Antwort.

»Sicherlich bis zu Ihrer Rekrutierung von Nazi-Wissenschaftlern für die sogenannte Fabrik. Das war wohl Ihre erste Sammlung, nehme ich an.«

»Stören Sie sich daran? Wer von sich behauptet, etwas von Geschichte zu verstehen, sollte sich darüber nicht wundern. Sie waren uns weit voraus. Unter diesen Umständen wäre es Dummheit gewesen, sie und ihre herausragenden Fähigkeiten nicht zu unserem Vorteil zu nutzen.«

»Zumal sie sicher dafür dankbar waren, nicht eingesperrt oder hingerichtet zu werden.«

»So haben wir ihre Loyalität gewonnen. Wir haben sie gerettet.«

»Und umgekehrt dachten Sie, könnten Sie von ihnen gerettet werden.«

»Nicht wir, die Nation.« Gloria Rendine trat zu dem einzigen Schreibtisch in dem Raum und stützte die Hände auf die Tischplatte. »Es kommt immer auf die Perspektive an.« Sie zögerte. »Reden wir doch ein bißchen über Ihren Anteil an der Geschichte dieses Jahrhunderts, über die Kämpfe, an denen Sie teilgenommen haben. Sie waren in Vietnam.«

»Man sieht es mir an, was?«

»Ich jedenfalls bemerke so etwas gleich. Sie haben geglaubt, daß Sie dort drüben das Richtige tun. Andernfalls wäre es Ihnen unmöglich gewesen, die Pflichten, die Sie hatten, zu erfüllen.«

»Völlig klar.«

»Na, und wir haben damals auch geglaubt, das Richtige zu tun. Wir standen einem anderen Feind gegenüber, in einem anderen Konflikt. Aber auch wir meinten, es läge die dringende Notwendigkeit vor, den Gegner zu schlagen oder wenigstens daran zu hindern, daß er siegt. Denken Sie daran, was in den fünfziger Jahren hier los war, an die McCarthy-Paranoia oder an die Kommunistenpanik. Die Kommunisten, hieß es, landen nicht eines Tages in Flugzeugen, sie beziehen die Nachbarwohnung. Solchen Unfug haben wir damals ernstgenommen. Nackte Hysterie, das war es doch?«

McCracken nickte.

»Dann müßten Sie doch verstehen, daß wir sämtliche Maßnahmen für angebracht hielten, daß uns jedes Mittel recht war, um die Gefahr abzuwenden. Und wenn das hieß, deutsche Wissenschaftler für uns zu verpflichten, die uns mit bedeutendem Fachwissen auf Gebieten helfen konnten, auf denen wir noch im dunkeln tappten, dann mußte es eben so sein.«

»Und so hat man den deutschen Wissenschaftlern die Fabrik gebaut.«

»Sie machen sich davon eine völlig falsche Vorstellung«, entgegnete die Frau. Sie sprach schnell und mit brüchiger Stimme, der man inzwischen die Jahre anhörte. »Es gab nie eine einzige, bestimmte Fabrik. Vorwiegend arbeiteten die Wissenschaftler voneinander unabhängig, und sie merkten in den seltensten Fällen, wie sehr wir uns bald auf ihre Gesamtheit verließen. Jeder hielt sich für eine besondere Ausnahme, nicht für den Mitwirkenden an etwas Größerem, sondern für ein einsames Genie.«

»Ich denke mir, daß Sie sogar darauf Wert gelegt haben, sie voneinander zu isolieren. Gemeinsam hätten sie ganz schön schwierige Gegenspieler abgegeben.«

»Natürlich wußten wir, was wir taten. Ich war Chefkoordinatorin und habe in dieser Eigenschaft entschieden, welche Projekte die Weiterverfolgung lohnten und welche man einstellen sollte.«

»Und dazu zählte auch die Operation Offspring.«

»Es war das letzte Projekt, das von mir genehmigt wurde«, erklärte Gloria Rendine. »Ich hätte ihm meinen Segen nicht erteilt, wäre der Wissenschaftler, von dem der Vorschlag stammte, nicht gleichzeitig der Urheber unserer wichtigsten wissenschaftlichen Fortschritte gewesen. Dieser Mann hatte uns schon vorher den Weg zu unbegrenzten Aussichten und Möglichkeiten gewiesen. Ich spreche von Dr. Erich Haslanger.«