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Bevor Sjöberg ins Wochenende gehen konnte, hatte er noch eine Sache zu erledigen. Während des Gesprächs mit seiner Mutter war ihm langsam aufgegangen, was er während des vergangenen halben Jahres eigentlich getrieben hatte. Er fühlte sich gleichzeitig angewidert und erleichtert, als ihm klar wurde, dass die Frau, die er in Margit Olofssons lebhaften Augen und in ihrem wogenden, rot gelockten Haar gesehen hatte, niemand anderes war als seine Schwester.

Bei Alice hatte er Trost gesucht, wenn ihm das Leben übel mitgespielt hatte, und in Alices Armen hat er geruht, wenn die Sehnsucht nach etwas Unbekanntem, etwas, das er nicht beim Namen nennen konnte, zu groß geworden war. Der ständig wiederkehrende Traum von der Frau im Fenster war nichts als die schreckliche letzte Erinnerung an seine Schwester, und das Bild selbst war zusammen mit ihm gealtert. Eigentlich war es ein fast sechsjähriges Mädchen, das dort oben im Fenster stand und schwankte, während die Flammen es von hinten auffraßen, aber im Traum hatte sein Unterbewusstsein das Unfassbare in etwas leichter Begreifliches umgedeutet. Das kleine Mädchen hatte die Proportionen einer Frau angenommen, und die Frau hatte mit der Zeit die Gestalt von jemandem angenommen, den er kannte und den er mochte. Die geduldige, warme, fürsorgliche Margit Olofsson hatte, ohne dass sie es wusste, die fast fünfzig Jahre alte Lücke füllen müssen, die seine große Schwester hinterlassen hatte, und das auf eine Weise, die vollkommen verkehrt war. Die grenzenlose Liebe des kleinen Jungen zu seiner großen Schwester hatte sich in das schmachtende Verlangen des reifen Mannes nach dem weiblichen Körper verwandelt. Jetzt war die Zeit gekommen zu beenden, was niemals hätte beginnen dürfen.

»Ich werde dir die Wahrheit sagen, Margit. Die Wahrheit darüber, wer ich bin. Sie ist nicht besonders schmeichelhaft für dich und noch weniger schmeichelhaft für mich, aber ich glaube trotzdem, dass die Wahrheit der beste Weg ist, den ich gehen kann.«

Sie schaute ihn mit ihren großen, grünen Augen an, und er sah, dass sie der Ernst in seiner Stimme erschreckte. Ein kleines, besorgtes Lächeln flog über ihre Lippen, und Sjöberg versuchte seine eigene Deutung:

»Ich will es nicht hören, ich will es nicht wissen. Aber ich muss es sagen, damit ich weitergehen kann. Meine Neugier stillen kann.«

»Nach dem, was ich dir jetzt sage, wirst du mich nie wieder sehen wollen, und das ist gut so. Gut für dich und gut für mich. Vielleicht wirst du mir eines Tages verzeihen, aber dann solltest du es um deinetwillen tun.«

Sie legte ihre Hand auf seine, und er ergriff sie. Jetzt war sie nur noch ein Mensch für ihn. Ein guter und liebevoller Mensch, vor dem er tiefsten Respekt empfand. Nie wieder würde er sich in ihren Armen ausweinen, nie wieder würde er sie nach seiner Pfeife tanzen lassen.

Sie saßen in seinem Wagen in der Auffahrt zu ihrem Haus. Margits Mann war nicht zu Hause. Sie hatte Sjöberg hineingebeten, aber das wäre falsch gewesen. Dieses Haus war ihr Zuhause, es sollte nicht ihr Treffpunkt sein.

»Ich habe geträumt«, sagte Sjöberg. »Denselben Traum, immer und immer wieder.«

Dann erzählte er von der Frau im Fenster, von taunassem Gras und wallenden roten Haaren. Schweiß und Verzweiflung.

Margit sagte nichts. Sie betrachtete ihn forschend, aber sie wollte ihn nicht mit Fragen unterbrechen, deren Antworten sie ohnehin erfahren würde. Er drückte fest ihre Hand und fuhr fort.

»Ich wusste nicht, was dieser Traum bedeutete. Aber ich weiß, dass du, als ich dich letzten Herbst im Krankenhaus kennenlernte, für mich ganz offensichtlich diese Frau im Fenster warst. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich wollte die Frau aus diesem Traum so gern kennenlernen.«

Margit machte noch keine Anstalten, ihre Hand zurückzuziehen. Er streichelte sie vorsichtig mit seiner freien Hand, nicht um sie in Sicherheit zu wiegen, sondern als ein letztes Zeichen der Zuneigung, die er noch immer für sie empfand.

»Ich habe heute meine Mutter besucht«, fuhr er fort.

Dann erzählte er von dem Feuer, von der Nacht, in der Eivor Sjöbergs Leben zerstört worden war und sein eigenes eine ganz neue Wendung genommen hatte. Ohne dass er davon gewusst hatte.

»Ich stand unten auf dem Hof und schaute zu, wie meine Schwester hinter dem Fenster verbrannte. Wie ihr schönes rotes Haar Feuer fing.«

Margit entzog sich seinem Griff und legte beide Hände vor den Mund.

»Ich habe dich mit meiner Schwester verwechselt, Margit. Es tut mir so leid. Irgendetwas an dir hat mir etwas gegeben, nach dem ich mich viele Jahre gesehnt hatte. Etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Es war keine körperliche Liebe, die ich brauchte. Das war alles nur ein schreckliches Missverständnis. Mein Leben war eine verwirrte Suche nach meiner verlorenen Schwester. Ich bin ein alter Lüstling, der ein kleines Mädchen, noch dazu meine Schwester, in einer fantastischen Frau sieht. In dir. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich es nie getan hätte, wenn ich vorher von dieser Geschichte gewusst hätte. Auch für mich gibt es Grenzen.«

Sie nahm die Hände vom Mund, und zu seiner Verwunderung sah er sie lächeln. Ein freundliches, mitfühlendes Lächeln, und sie streichelte ihm vorsichtig mit dem Handrücken über die Wange.

»Es tut mir leid«, sagte sie mit ehrlicher Wärme in der Stimme. »Nicht weil es vorbei ist, sondern weil deiner Familie so etwas zugestoßen ist. Ich hoffe, du wirst nie wieder davon träumen. Ich werde jetzt gehen.«

Sie öffnete die Autotür und stieg in die kühle Nacht hinaus. Ihr Atem stand wie Rauch vor ihrem Mund, als sie sich hinunterbeugte und ihn mit ihren grünen Augen betrachtete, die im Licht der Autobeleuchtung glitzerten.

»Es gibt nichts zu verzeihen, Conny«, sagte sie mit einer kleinen Furche zwischen den Augenbrauen, die Sjöberg als Zeichen dafür kannte, dass sie aufrichtig war. »Und an deinem schlechten Gewissen musst du selber arbeiten. Ich habe mich mit meinem vor vielen Jahren schon versöhnt.«