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Hamad war auf eigene Faust mehrere Stunden lang durch die Stadt gejagt. Die Besuche bei Vida und Göran Johansson an ihren jeweiligen Arbeitsstätten, wo er ihnen ein Foto von Einar Eriksson gezeigt hatte, waren ergebnislos geblieben. Keiner von beiden hatte Eriksson jemals gesehen oder war ihm begegnet. Dagegen erkannten viele von Catherine Larssons Nachbarn im Trålgränd Eriksson als den Mann wieder, dem sie gelegentlich im Treppenhaus begegnet waren, mal allein, mal zusammen mit den Kindern. Allerdings war er in den Tagen vor dem Mord oder während der Tatnacht nicht gesehen worden.

Jetzt sollte Hamad zum ersten Mal Christer Larsson begegnen, mit dabei hatte er eine übellaunige Westman, die Sandén mit dem letzten Punkt ihrer Aufgabenliste allein gelassen hatte: Erikssons Auto. Nachdem er vor Larssons Haustür kühl von Westman begrüßt worden war, beschloss Hamad, das Private für eine Weile auszublenden und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Auch Westman war dem Vater der ermordeten Kinder, Catherine Larssons Mann, noch nicht begegnet, und mit gespannter Erwartung ließen sie sich hereinbitten.

»Schöne Wohnung«, sagte Westman mit einem Versuch, das Gespräch in Gang zu bringen.

Christer Larsson murmelte eine unhörbare Antwort, ohne ihrem Blick zu begegnen. Er saß in seinem Sessel, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien herunterbaumeln und starrte auf den Teppich. Seine Hände waren ungewöhnlich kräftig, aber mit gepflegten Nägeln. Sein ergrautes Haar war frisch gewaschen und erst kürzlich geschnitten worden, allerdings schien er sich schon eine ganze Weile nicht mehr rasiert zu haben. Die kleine Wohnung war sauber, und die Topfpflanzen im Wohnzimmerfenster schienen bestens zu gedeihen.

»Sind Sie Segler?«, fragte Hamad, als er eine gerahmte Fotografie an der Wand entdeckte, die ein Segelboot eines ihm unbekannten Typs darstellte, das mit geblähtem Spinnaker in strahlendem Sonnenschein durch ein azurblaues Meer pflügte.

»Früher bin ich gesegelt«, antwortete Larsson mit leiser Stimme, ohne den Blick zu heben.

Er sprach sehr langsam, und die beiden Polizisten wechselten einen Blick, bevor Hamad wieder das Wort ergriff.

»Es tut uns wirklich leid, was passiert ist. Das muss sehr schwer für Sie sein.«

Ein Achselzucken, mehr nicht.

»Das ist gerade bestimmt sehr belastend für Sie?«, hakte Westman nach, um ihn zum Reden zu bringen.

»Jeder kriegt, was er verdient.«

Seine Blicke waren nach wie vor auf den Teppich gerichtet. Er spreizte die Finger einer Hand und drückte mit der anderen zu, bis es knackte.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Hamad.

Er wollte die Frage noch präzisieren, aber er hielt sich zurück und versuchte, geduldig zu sein. Nach einer Weile antwortete Larsson.

»Eine alte Trantüte wie ich. Sie hatten es besser ohne mich.«

»Und Sie selbst? Haben sie Ihnen nicht gefehlt?«

»Tja ...«

Schweigen.

»Nicht genug.«

»Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie nicht mehr für Ihre Familie getan haben?«, fragte West m an.

Plötzlich schaute Christer Larsson auf und begegnete ihrem Blick. Mit schleppender Stimme, aber stechenden Augen antwortete er:

»Die Schuld ist eine schwere Kette, die hinter einem herrasselt, egal wohin man geht. Sie wird zu einem Teil des eigenen Körpers. Am Ende bemerkt man sie gar nicht mehr ...«

»Was meinen Sie damit?«

»Genau das, was ich gesagt habe.«

Hamad unternahm einen Versuch, Larssons Worte zu deuten:

»Sie fühlen sich schuldig, weil Sie ein schlechter Vater gewesen sind?«

Christer Larssons Blick löste sich von Westman und wanderte zum Fenster.

»Ich bin ein sehr schlechter Vater gewesen.«

Hamad erwartete, dass darauf noch irgendetwas folgte, aber es kam nichts. Das langsame Tempo der Unterhaltung machte ihn nervös, und er wollte den Takt erhöhen.

»Ein so schlechter Vater, dass Sie die Kinder umgebracht haben?«

»Nicht im juristischen Sinne.«

»Haben Sie Ihre Frau und Ihre Kinder umgebracht oder nicht?«, fragte Hamad mit frischer Schärfe in der Stimme.

»Ich habe niemanden ermordet«, antwortete Christer Larsson.

Westman versuchte es auf einem anderen Wege.

»Wir wissen jetzt, dass es einen neuen Mann in Catherines Leben gab. Er hat ihr auch die Wohnung gekauft.«

Larsson reagierte nicht, sondern starrte weiterhin traurig aus dem Fenster.

»Er nannte sich Erik. Klingt das bekannt?«

Die Andeutung eines Kopfschüttelns.

»Ihnen gegenüber hat Catherine nie einen Mann namens Erik erwähnt?«, versuchte sie es noch einmal.

»Nein.«

Hamad übernahm:

»In Wirklichkeit heißt er auch nicht Erik. Er heißt Eriksson. Einar Eriksson.«

Christer Larsson wandte ihm langsam den Kopf zu, und in seinem Blick lag jetzt etwas Neues, das keiner der beiden Polizisten so recht zu deuten wusste. Hamad meinte Verwunderung, vielleicht sogar Nervosität in seinen Augen zu sehen, während Westman es eher als ein kurzes Glühen bezeichnet hätte. Aber es verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war, und die braunen Augen sahen wieder so müde und traurig aus wie zuvor. Aber während dieses kurzen Momentes, den seine Reaktion dauerte, offenbarte sich für Hamad ein anderer Christer Larsson. Nach wie vor ein groß gewachsener, muskulöser Mann mit kräftigen Händen, aber jetzt auch mit einer Flamme, die hinter der gleichgültigen Fassade loderte. Und diese Kombination konnte, so stellte sich Hamad vor, verhängnisvoll sein, wenn bestimmte Umstände zusammenkamen.

»Ich habe ein Foto von ihm, das ich Ihnen zeigen möchte«, sagte Westman. »Vielleicht haben Sie ihn ja schon einmal gesehen.«

Sie erhob sich vom Bettsofa, auf dem sie und Hamad sich niedergelassen hatten, und ging zum Sessel hinüber.

»Verdächtigen Sie ihn, der Mörder zu sein?«, fragte Christer Larsson.

»Wir können keine Möglichkeit ausschließen«, antwortete Westman.

Larsson streckte den Rücken, während er vornübergebeugt im Sessel sitzen blieb, und blickte auf das Foto, das Westman ihm hinhielt. Hamad beobachtete von seinem Platz auf dem Sofa, wie er die Augen zusammenkniff und wie die meisten Weitsichtigen ein bisschen zurückwich, um das Bild besser sehen zu können. Ein paar Sekunden war es ganz still. Danach passierte etwas vollkommen Unerwartetes. Christer Larsson schoss aus einem Sessel hoch, und Westman sprang zur Seite, blieb wie angewurzelt mit der Fotografie in der Hand stehen und betrachtete den plötzlich aufflammenden Gefühlsausbruch des zuvor so phlegmatischen Mannes.

»Du Schwein! Hast du es wieder getan, du krankes Arschloch! Jetzt bist du wohl endgültig ausgerastet! Als ob es nicht schon genug gewesen wäre! Was zum Teufel geht in deinem verdammten kranken Kopf denn vor ...!? Aaaaah ...«

Seine Worte gingen unvermittelt in lautes Gebrüll und Wehgeschrei über. Er rannte zur Wand neben dem Fenster und schlug immer wieder seinen Kopf mit voller Kraft dagegen. Das Bild mit dem Segelboot fiel zu Boden, und das Glas zersprang in tausend Stücke, aber Christer Larsson scherte sich nicht darum, er trat mit dem Fuß in den Scherbenhaufen, als er an das andere Ende des Zimmers rannte und mit beiden Fäusten gegen die Wand schlug, immer wieder.

Hamad stemmte sich aus dem Sofa hoch und ging entschlossen auf den Mann zu, der jegliche Kontrolle über sich verloren hatte. Er versuchte den Lärm mit beruhigenden Worten zu übertönen, aber sie hatten nicht die geringste Wirkung. Westman erwachte aus ihrer Erstarrung und lief zu Christer Larsson, um ihn von hinten mit einem Griff um die Taille zu packen. Aber ohne überhaupt Notiz davon zu nehmen riss Christer Larsson sich wieder los und lief ziellos durch das Zimmer, unfähig, den überwältigenden Gedanken Ausdruck zu verleihen, die in seinem Kopf herumwirbelten. Dann kippte er plötzlich zur Seite, ohne auch nur im Geringsten zu versuchen, den Sturz mit den Händen abzufangen. Sein Kopf traf mit einem hässlichen Knall auf den Boden, die Polizisten konnten zusehen, wie mit einem Schlag jegliche Spannung aus seinen Gliedern wich. Er blieb still auf der Seite liegen, den einen Arm in einem so unnatürlichen Winkel zur Seite gestreckt, dass er nur gebrochen sein konnte. Seine Augen waren weit geöffnet, und er atmete nach wie vor heftig. Hamad hockte sich erschrocken neben ihn und strich ihm mit der Hand über die Stirn.

»Wir müssen ihn umdrehen«, sagte er. »Nimm du die Füße.«

Während Hamad seine Arme um Christer Larssons Oberkörper legte, packte Westman seine Knöchel. Der groß gewachsene Mann leistete keinen Widerstand, und es gelang ihnen, ihn auf den Rücken zu legen, ohne dem verletzten Arm weiteren Schaden zuzufügen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Hamad und legte eine Hand auf die Seite des Gesichts, die den Sturz aufgefangen hatte, aber Christer Larsson zeigte abgesehen von den geöffneten Augen und seiner Atmung keine Anzeichen von Bewusstsein.

Er reagierte nicht einmal, als Hamad vorsichtig den verletzten Arm anhob.

»Wir müssen ... etwas tun. Leg ein Kissen unter seinen Nacken und hol ein Handtuch und kaltes Wasser. Ich rufe einen Rettungswagen«, sagte Westman.

Als der Rettungswagen eintraf, schien Christer Larsson noch immer nicht bei Bewusstsein, doch er strahlte einen geradezu friedvollen Eindruck aus, wie er da in seinem Wohnzimmer auf dem Boden lag.