Donnerstagnachmittag

Nach ein paar langweiligen Bratwürsten mit vollkommen geschmacksfreiem Kartoffelbrei in einem Gasthaus und einer kurzen Wirklichkeitsflucht während der Lektüre einer Klatschzeitschrift hatte Sjöberg sich wieder auf den Weg gemacht. Er hatte Solberga fast erreicht und befand sich jetzt in einer langen Allee, die zum Herrenhaus hinaufführte, einem mächtigen Gebäude mit gelb verputzten Wänden und weißen Tür- und Fensterrahmen, das von zwei frei stehenden Flügeln flankiert wurde. Die Anlage war auf den drei Seiten, die Sjöberg sehen konnte, von Ackerland umgeben. Er vermutete, dass der See, der in der Broschüre erwähnt worden war, auf der Rückseite des Gutshauses lag.

Er fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Bevor er am Pflegeheim eintraf, wollte er noch ein paar Worte mit Hamad wechseln und hören, wie er mit seiner Arbeit vorankam, also zog er sein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste.

»Hamad?«

»Du hast geantwortet, bevor ich überhaupt ein Signal gehört habe.«

»Es hat im Computer gesummt. Wie läuft es?«

Sjöberg lieferte einen kurzen und uninspirierten Bericht über seine nahezu sinnlose Begegnung mit Ingegärd Rydin ab.

»Sie können wir also vergessen. Jetzt stehe ich vor Solberga und werde gleich hineingehen und ein Gespräch mit Einars Frau führen. Wie läuft es bei dir?«

»Ein Einar Eriksson hat das Land jedenfalls nicht mit einem Flugzeug verlassen. Er hat auch keine Zug- oder Fährtickets auf seinen Namen gebucht, also muss er die Fahrkarte vor Ort gekauft haben, mit dem Auto gefahren sein oder falsche Papiere benutzt haben.«

»Wir gehen in unseren Ermittlungen davon aus, dass er sich im Land befindet und noch am Leben ist«, betonte Sjöberg.

Hamad murmelte eine unverständliche Antwort.

»Du hast Zweifel?«

»Ich glaube, dass er ins Ausland geflohen ist, weil der Pass verschwunden ist. Oder dass er sich möglicherweise irgendwo im Land versteckt hält, aber das erscheint mir ein bisschen weit hergeholt. Dann würden wir ihn ja früher oder später kriegen. Wir finden überall Spuren von ihm, von niemandem sonst. Und dann noch das Blut an den Schuhen ...«

»Hast du mit Sandén gesprochen?«

»Yes.«

Sjöberg spürte eine gewisse Verärgerung in sich aufsteigen, aber ohne sie sich anmerken zu lassen präsentierte er Hamad seine Überlegungen so sachlich, wie er konnte.

»Ich höre, was du sagst, aber meine Erfahrung sagt mir, dass die meisten Sachen so sind, wie sie erscheinen.«

Hamads Kommentar veranlasste Sjöberg, seine Versuche aufzugeben, die Kollegen zu überzeugen, und er beschloss, die Skepsis seiner Mitarbeiter zu akzeptieren. Immerhin leitete er die Ermittlungen und sie hatten seinen Anweisungen zu folgen. Er wechselte das Thema.

»Und der Rechner?«, fragte er.

»Bislang habe ich noch nichts Interessantes gefunden«, antwortete Hamad. »Aber ich habe noch einiges durchzuschauen.«

»Ich möchte, dass du auch die Papiere auf Einars Schreibtisch durchgehst. Und die im Bücherregal. Untersuch die Fälle, an denen er im Augenblick arbeitet, und die alten Fälle, und achte besonders darauf, ob jemand ein Motiv haben könnte, sich an Einar zu rächen.«

Hamad ließ ein lang gezogenes Seufzen hören, aber Sjöberg ignorierte es.

»Okay?«

»Okay. Und was mache ich mit den Befragungen?«

»Die müssen warten, bis du mit der Papierarbeit fertig bist. Es ist nicht so viel, wie es aussieht. Viel Glück.«

»Danke gleichfalls.«

Sjöberg fuhr das letzte Stück bis zu dem imponierenden Herrenhaus. Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz vor einem der Flügelgebäude ab und ging über den sorgfältig geharkten Kies zum Eingang hinüber. In den gepflegten Blumenrabatten an der Hauswand waren Teile des Schnees bereits geschmolzen, und zum ersten Mal in diesem Jahr sah er Schneeglöckchen, die in weißen Grüppchen zusammenstanden und von besseren Zeiten kündeten. Für die Krokusse, mit denen sie die Rabatten teilen sollten, war es noch zu früh. Ein paar zarte Blätter hatten sich aus der harten Erde gewagt, aber sie schienen noch zu warten, bis der Frühling seine Absichten deutlicher zu erkennen gab.

Sjöberg stieg die Treppe hinauf und drückte auf eine Klingel neben dem Eingang, aber da er kein Signal von drinnen zu hören meinte, öffnete er selbst die Tür und trat ein.

Plötzlich befand er sich in einer höchst profanen Rezeption, die schlecht zu dem klassischen Exterieur der Immobilie passte. Hinter einer zur Hälfte verglasten Wand saß eine ältere Frau in einem weißen Kittel, deren Brille an einer Kordel um ihren Hals hing. Sie schaute zu ihm auf, als er näher kam, und öffnete die Luke mit einem freundlichen Lächeln.

»Hallo«, sagte Sjöberg. »Ich möchte Solveig Eriksson besuchen.«

»Oh«, sagte die Schwester mit leicht erstaunter Miene. »Sie wohnt in Raum 230. Sie nehmen den Aufzug dort hinten in den zweiten Stock. Sie hat den Raum ganz hinten links im rechten Flur, wenn Sie aus dem Aufzug kommen.«

Sjöberg bedankte sich und ging an einer Sitzgruppe vorbei zum Aufzug, deren Design besser zu der eigentlichen Institution passte als zu der Herrenhausarchitektur. Auf dem Weg nach oben fiel ihm ein, dass er vielleicht etwas hätte mitbringen sollen, eine Blume oder eine Pralinenschachtel. Er verwarf diesen Gedanken jedoch gleich wieder, mit der Begründung, dass er schließlich aus dienstlichen Gründen hier war und wenig über Solveig Erikssons mögliche Allergien oder ihren Geschmack im Allgemeinen wusste.

Der Flur war weiß gestrichen, und das einzige Fenster befand sich ganz am Ende des Ganges. Zwischen den Türen zu den Patientenräumen hingen gerahmte Reproduktionen klassischer Kunstwerke, und an geeigneten Stellen hatte man große Fikusse in Übertöpfen platziert. Sjöberg nahm ein Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger und stellte fest, dass die Topfpflanzen nicht echt waren. Nichts Lebendes konnte so fern vom Sonnenlicht gedeihen. Er ging bis zu der letzten Tür auf der linken Seite und klopfte an. Erst leise und vorsichtig, aber als er keine Antwort bekam, klopfte er mit deutlich mehr Nachdruck. Auch jetzt war nichts aus dem Zimmer zu hören, also drückte er die Klinke herunter und die Tür glitt auf.

Wie in einem Film saß die Frau mit dem Rücken zu ihm auf einem Stuhl am Fenster und hatte eine Decke über die Beine gelegt. Mit den Unterarmen auf den Lehnen saß sie regungslos da. Der helle Raum war zu seinem Erstaunen sehr persönlich eingerichtet. Es war ein Eckzimmer, und in beiden Fenstern standen echte Pflanzen in fantasievoll gestalteten Töpfen. An den Wänden hing richtige Kunst, vielleicht nicht teuer, aber echt. Das Bett, das an der Wand zum Flur stand, war sorgfältig gemacht; eine altmodische Flickendecke diente als Bettüberwurf. Auf dem Nachttisch stand dasselbe Hochzeitsfoto, das er auch zu Hause bei Einar gesehen hatte, in einem hübschen Silberrahmen älteren Modells. An der anderen fensterlosen Wand stand eine antike Kommode, auf der ebenfalls jüngere Versionen des Paares Eriksson in gerahmten Fotografien aufgestellt waren. Mitten im Zimmer hatte man eine kleine Sitzgruppe im Rokokostil platziert, und der Tisch war mit einer Spitzendecke und einer Begonie geschmückt. Bücher und ein Fernseher waren das Einzige, was fehlte, fiel Sjöberg auf. Die Frau musste doch Bücher lesen, wenn sie schon ein Jahr nach dem anderen an diesem Ort verbrachte?

Er ging mit festen Schritten auf das Fenster zu, sodass sie ihn hören oder zumindest an den Erschütterungen des Fußbodens merken konnte, dass sich jemand näherte. Aber sie blieb weiterhin regungslos sitzen.

»Hallo, Solveig«, sprach Sjöberg sie an, der jetzt auch ihr Gesicht sehen konnte.

Sie starrte ausdruckslos auf den Hof hinunter, ohne seinen Gruß zu erwidern. Er legte seine Hand auf ihre Schulter, um seine Anwesenheit noch deutlicher zu markieren.

»Ich heiße Conny Sjöberg und bin ein Arbeitskollege Ihres Mannes.«

Keine Reaktion.

»Einar«, sagte Sjöberg. »Einar und ich arbeiten zusammen bei der Polizei.«

Mit keiner Miene verriet sie, ob sie verstand, was er sagte, oder ob sie ihn überhaupt hörte. Die schöne junge Frau auf dem Hochzeitsfoto war in dem gebeugten, mageren Wesen kaum wiederzuerkennen, das er jetzt vor sich hatte. Die Haare waren weiß und kurzgeschnitten, und in ihren Augen war nicht ein Hauch von Leben zu entdecken. Sjöberg fragte sich, was mit ihr passiert sein mochte. Saß sie wirklich schon seit Mitte der Siebzigerjahre so in ihrem Stuhl? Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er an Einar dachte, der sich seit so vielen Jahren die Mühe gemacht hatte, jeden Samstag hierher zu fahren und sie zu besuchen. Was tat er? Redete er mit ihr? Saß er mit ihr zusammen im Sofa, legte er den Arm um sie und erzählte ihr von seiner Woche?

Plötzlich wurde Sjöberg bewusst, was für ein großartiger Mensch Einar sein musste. Loyal. »In guten wie in schlechten Tagen« war ein Versprechen, das Einar Eriksson offensichtlich sehr ernst nahm. Das Reihenhaus hatte er natürlich nicht in der Absicht gekauft, um allein dort zu wohnen, sondern in der Hoffnung, dass Solveig gesund würde und sie gemeinsam dort leben konnten. Niemand konnte ihm Vorwürfe machen, dass er sich während der letzten zwei Jahre mit einer anderen Frau zusammengetan hatte. Er selbst hätte viel früher resigniert. Aber Einar hatte die Frau, die er einst geheiratet hatte, immer noch nicht aufgegeben, nicht einmal, als er begonnen hatte, sich mit Catherine Larsson zu treffen. Sjöberg nahm Solveig Erikssons Hand.

»Solveig«, sagte er, »kannst du mir zeigen, dass du hörst, was ich dir sage? Bewege einfach nur ein bisschen die Finger. Ich kenne Einar, Solveig. Einar.«

Die schlaffen Finger in seiner Hand rührten sich nicht, und ihr Blick war nach wie vor auf etwas Unbestimmtes draußen vor dem Fenster gerichtet.

»Glaubst du, dass Einar in der Lage wäre, einen Mord zu begehen, Solveig? Könnte Einar zwei kleine Kinder ermorden?«

Immer noch keine Reaktion. Wenn sie ihn gehört hätte, ihn verstanden hätte, wäre sie dann nicht zumindest ein bisschen neugierig geworden? Er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn er sie schlagen, ihr eine Ohrfeige verpassen würde. Aber das war nichts, was er tatsächlich ausprobieren wollte. Stattdessen versuchte er, bedrohlich zu wirken. Drohungen und Belohnungen waren bewährte Methoden im Umgang mit Kindern, aber in diesem Fall fühlte er sich unsicher. Er zog die Hand zurück und schaute zu, wie ihre Finger wieder zurück auf die Decke über ihrem Knie fielen.

»Einar ist weg, Solveig. Verschwunden. Wenn du mir nicht hilfst, kann er vielleicht nie wiederkommen und dich besuchen.«

Aber Solveig Eriksson starrte nur stumm geradeaus, sodass Sjöberg schließlich aufgab und sie verließ.

Als er wieder an die Rezeption im Erdgeschoss trat, war die Frau hinter der Glasluke verschwunden. Er klopfte an das Fenster, und aus einem Hinterzimmer kam ein etwa dreißigjähriger Mann.

»Ich möchte mit jemandem sprechen, der Solveig Eriksson kennt«, sagte Sjöberg.

»Das tun wir alle«, antwortete der Mann mit einem freundlichen Lächeln.

»Am liebsten jemand, der hier schon gearbeitet hat, als sie hierhergekommen ist. Sagen wir derjenige, der am längsten auf Solberga gearbeitet hat.«

»Mal sehen, das müsste Ann-Britt sein. Ich werde sie anrufen. Wie war noch Ihr Name?«

»Conny Sjöberg. Ich bin Kommissar bei der Mordkommission in Stockholm«, fügte er hinzu, und der Pfleger zog neugierig eine Augenbraue hoch, bevor er den Hörer abnahm.

Nach ein paar Versuchen hatte er Glück. Er deutete auf die Sitzgruppe und schlug vor, dass Sjöberg dort auf Ann-Britt warten könne.

»Es kann eine Weile dauern. Sie kümmert sich im Augenblick um einen unserer Bewohner, aber sie kommt sofort, wenn sie damit fertig ist.«

Sjöberg nahm auf einem kleinen, irritierend harten Wartezimmersessel Platz und blätterte ironischerweise in einer Einrichtungszeitschrift, während er wartete. Nach zehn Minuten tauchte der Mann vom Empfang mit einem Glas Orangensaft auf, das er vor ihm auf den Tisch stellte.

»Es dauert leider noch ein bisschen länger«, entschuldigte er sich. »Ann-Britt kommt so schnell wie möglich.«

Sjöberg schenkte dem Pfleger, der einen Duft nach Seife im Wartezimmer hinterließ, ein dankbares Lächeln. Er musste an Margit denken. Ungefragte Fürsorge. Behaglich. Behaglichkeit. Weiches Klappern von fußgerechten Pantoffeln. Aber dann: lange Korridore, Bahren, Desinfektionsmittel und silberglänzende Schalen. Wie aus dem Nichts kam plötzlich das Gefühl, er würde sich auf einem OP-Tisch befinden. Mit Margits Gesicht über sich, forschenden Augen, Mundschutz. Er hilflos und abhängig, sie mit rostfreien Instrumenten und behandschuhten Händen. Steril. Bedrohlich.

Das Bild kam so unerwartet, so überwältigend, dass er zitterte, als er nach dem Glas griff. Erschrocken stellte er fest, dass sein Unterbewusstsein mit dazu beitrug, dieser ... Affäre den Garaus zu machen. Dieser Frau.

Nach weiteren zwanzig Minuten und zwei Einrichtungszeitschriften tauchte Ann-Britt endlich auf. Es stellte sich heraus, dass sie die Frau war, mit der er bei seiner Ankunft gesprochen hatte. Ihrem Aussehen nach konnte sie sechzig sein, sodass sie im besten Fall tatsächlich schon hier gearbeitet hatte, als Solveig hierherkam.

»Ann-Britt Berg«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Entschuldigen Sie bitte, dass es so lange gedauert hat. Ich habe einem Kollegen geholfen, einen unserer Bewohner zu duschen, der ein wenig schwierig ist, sodass man die Aufgabe nicht allein bewältigen kann.«

Sjöberg erwiderte ihren Gruß und stellte sich ebenfalls vor.

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen. Sind Sie ein Verwandter von Solveig?«, fragte die Schwester.

»Nein, ich bin dienstlich hier. Ich muss mit jemandem sprechen, der Solveig schon lange kennt, und soweit ich verstanden habe, sind Sie schon eine ganze Weile hier beschäftigt. Waren Sie schon hier, als sie eingeliefert wurde?«

»So nennen wir das hier nicht«, sagte Ann-Britt mit einem Lächeln. »Wir betrachten es als besondere Form des Wohnens. Solveig ist ja auch nicht bettlägerig. Aber es stimmt. Ich arbeite seit 1972 hier, seit fast sechsunddreißig Jahren.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Die Frage kann ich leider nicht beantworten. Diese Information unterliegt der Schweigepflicht.«

»Sagen wir mal so«, versuchte Sjöberg es andersherum. »Ich habe sie besucht und mir dabei ein ungefähres Bild machen können, was bei ihr nicht stimmt. Sie ist ganz offensichtlich apathisch, sodass ich auf posttraumatische Belastung oder etwas Ähnliches tippen würde. War sie schon so, als sie hierherkam, oder hat es sich erst später so entwickelt?«

»Ich muss Sie um Verständnis bitten«, sagte sie. »Außer mit den Angehörigen dürfen wir wirklich mit niemandem über unsere Bewohner sprechen. Ich kann mir eine Abmahnung einhandeln, wenn ich zu viel sage. Ich könnte sogar angezeigt werden.«

Sjöberg setzte seine strengste Polizistenmiene auf und fuhr freundlich, aber bestimmt fort:

»Nun ist es aber so, dass ihr einziger Angehöriger, ihr Mann Einar, seit fünf Tagen verschwunden ist. Ich leite in diesem Fall die Ermittlungen und kann mir vorstellen, dass es in Solveigs Interesse liegt, dass wir ihn wiederfinden. Deshalb brauche ich Antworten auf bestimmte Fragen.«

»Aber Solveig kann keine Auskünfte geben. Sie spricht mit niemandem, nicht einmal mit Einar, obwohl er jeden Samstag bei ihr sitzt.«

»Deswegen spreche ich ja auch mit Ihnen. Sie könnten doch einfach nicken oder den Kopf schütteln, dann kann Ihnen niemand vorwerfen, dass Sie zu viel gesagt hätten?«

Sie antwortete nicht, betrachtete ihn aber mit einer besorgten Miene.

»War sie schon so, als sie hierhergekommen ist?«, wiederholte Sjöberg seine Frage.

Ann-Britts Blicke flatterten nervös, bevor sie vorsichtig nickte.

Sjöberg verspürte eine gewisse Erleichterung darüber, dass er, nachdem er an diesem Tag bereits drei Personen befragt hatte, die die Zähne nicht auseinanderbekamen (seine Mutter eingerechnet), aus der vierten möglicherweise etwas Vernünftiges herausbekommen konnte. Er warf einen Blick auf die Glasluke und stellte fest, dass sie geschlossen war und sie im Augenblick niemand hören konnte.

»War das der Grund dafür, dass sie nach Solberga gekommen ist?«, fuhr er fort.

Die Schwester nickte erneut.

»Es gibt keine weitere Krankheit, wegen der sie hier ist?«

Sie schüttelte den Kopf und schien allmählich entspannter mit der Situation umzugehen.

»Hat sie medizinische Probleme?«

Nein.

»Hat sich ihr Zustand in all den Jahren verändert?«

Nein, das hatte er nicht.

»Funktioniert sie rein physisch? Kann sie gehen?«

Nicken.

»Kümmert sie sich selbst um ihre körperliche Hygiene?«

Nachdem sie eine Weile überlegt hatte – Sjöberg vermutete, eher aus menschlicher Rücksichtnahme als im Hinblick auf die medizinische Schweigepflicht –, bekam er ein Kopfschütteln als Antwort.

»Isst sie selbst?«

Nein.

»Leidet sie unter posttraumatischer Belastung?«

Sie antwortete mit einem leichten Achselzucken und schaute sich misstrauisch um, bevor sie es wagte, in Worten zu antworten.

»Möglicherweise. Es ist schwer, in einem solchen Fall eine Diagnose zu stellen. Einige Ärzte nennen es totalen Mutismus.«

»Und wie bekommt man das? Ist es ansteckend?«, fragte Sjöberg im Scherz, um die gedrückte Stimmung etwas aufzulockern.

Ann-Britt lächelte dankbar.

»Das ist es natürlich nicht. Wahrscheinlich wird es durch Stress verursacht. Man hatte ein traumatisches Erlebnis oder man ist so unglücklich, dass man die Welt aussperren möchte.«

»Man wählt es also selbst?«, sagte Sjöberg mit einem durchaus beabsichtigten Schuss Provokation.

»In gewisser Weise könnte man es natürlich so ausdrücken, aber vor allen Dingen geht es wohl darum, dass man mit dem Leben nicht mehr zurechtkommt.«

»Eine Art Alternative zum Selbstmord?«

»Ich habe das Gefühl, dass wir uns jetzt auf sehr dünnem Eis bewegen«, sagte sie aufrichtig. »Ich habe schließlich nicht Psychologie studiert. Ich bin Krankenschwester. Über diese Dinge sollten Sie mit einem Arzt oder Psychologen sprechen.«

»Und in Solveigs Fall?«

»Was meinen Sie jetzt?«

»Was ist der Grund dafür, dass Solveig Eriksson unter einer posttraumatischen Belastung leidet?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete die Schwester. »Ich meine mich erinnern zu können, dass ich Einar vor langer Zeit einmal danach gefragt habe, aber ich habe nie eine Antwort bekommen. Der eine oder andere wird es gewusst haben, aber ich war damals noch ein junges Mädchen und sie haben mich ein bisschen außen vorgelassen. Aber ich kann mich erinnern, dass es eine ziemliche Heimlichtuerei gab.«

»Und wie ist Einar so? Kennen Sie ihn?«

»Natürlich kenne ich Einar. Er ist ein zurückhaltender Mensch, könnte man vielleicht sagen. Und was Solveig betrifft, ist er absolut fantastisch, er lässt sie niemals im Stich. Nimmt sie mit auf lange Spaziergänge. Er lässt sie das erste Stück immer selber gehen, damit sie Bewegung bekommt, dann fährt er sie im Rollstuhl weiter. Ich höre manchmal, wie er bei ihr im Zimmer sitzt und mit ihr spricht, aber niemals eine Antwort bekommt. Er bekommt noch nicht einmal einen Blick von ihr, und trotzdem ist er in all den Jahren immer bei ihr geblieben.«

»Wissen Sie etwas von Einar?«, wollte Sjöberg wissen. »In diesem Fall können Sie jedenfalls nicht auf das Patientengeheimnis verweisen«, fügte er mit einem neckischen Augenzwinkern hinzu.

»Doch, doch, das Schweigegebot gilt auch für die Angehörigen«, antwortete Ann-Britt Berg. »Ich weiß auch nicht viel. Ich weiß, dass er Polizist ist. Die ersten zwei, drei Jahre hat er noch in Arboga gewohnt, aber dann ist er nach Stockholm gezogen. Er hat wohl eingesehen, dass sich Solveigs Zustand nicht verändern würde, und hat einen neuen Anfang gemacht. Also, beruflich meine ich natürlich.«

»Hatte er keine neue Frau?«

»Woher sollte ich so etwas wissen? Er war, wie gesagt, nicht besonders gesprächig. Aber ich habe schon das Gefühl, dass er in den vergangenen Jahren etwas fröhlicher wirkte.«

»Wirklich?«

Auf der Arbeit hatte Sjöberg nichts davon bemerkt, aber wahrscheinlich war Einars Image als sauertöpfischer Griesgram dort schon so zementiert, dass er aus reiner Gewohnheit als solcher gesehen wurde. Was wiederum dazu beitrug, dass er einer blieb.

»Ich muss zugeben, dass ich einmal gehört habe, wie er etwas zu Solveig sagte«, sagte Schwester Ann-Britt etwas verlegen. »Er sprach mit Wärme von einer Frau und ein paar kleinen Kindern. Er kümmere sich um sie, während die Frau arbeite, sagte er. Hole sie aus dem Kindergarten ab und spiele mit ihnen. Er sagte, dass sie ganz wunderbar seien, und ich habe das so gedeutet, dass sie ein mehr als freundschaftliches Verhältnis hatten. Aber es wäre natürlich etwas seltsam, wenn er seine neue Familie ausgerechnet seiner Frau gegenüber so poetisch beschreiben würde, selbst wenn sie seinen Worten keine Beachtung schenkt. Wahrscheinlich habe ich die ganze Sache falsch verstanden.«

Sjöberg dachte einen Moment über das nach, was er gehört hatte. Vielleicht war es immer noch seine Frau, an die Einar sich wandte, wenn er reden musste, so wie er es einst gewohnt war. Der verschlossene Einar Eriksson, der seine alltäglichen Sorgen und die freudigen Themen des Lebens gegenüber der Frau offenlegte, mit der er sie zu teilen vor langer Zeit gelobt hatte. Weil er glaubte, dass sie ihn hörte? Weil sie ein Mensch war, der niemals missbrauchen würde, was er ihr erzählte? Weil er den leeren Raum mit seiner Stimme füllen und feine Gefühle und Gedanken formulieren wollte, die sonst nie einen Ausdruck gefunden hätten? Oder glaubte er vielleicht, dass sie auf genau diese Informationen reagieren würde? Hatte er eine positive oder negative Reaktion erwartet? Vielleicht wollte er sie verletzen. Vermutlich wollte er sie nur aus diesem ewigen mentalen Dämmerzustand reißen.

»Bekommt sie auch anderen Besuch?«, fragte Sjöberg.

»Nein, nie. Früher kamen ihre Eltern, aber die sind beide schon vor vielen Jahren gestorben. Jetzt kommt nur noch Einar zu Besuch. Was, glauben Sie, könnte mit ihm passiert sein?«

»Keine Ahnung«, log Sjöberg.

Er sah keinen Grund, Einar beim Personal von Solberga in schlechtem Licht erscheinen zu lassen. Die Tatsache, dass er verschwunden war, musste reichen.

»Er hat Solberga also am Samstagabend gegen neun Uhr verlassen?«, fragte er stattdessen.

»Ja, so war es«, antwortete Ann-Britt Berg. »Er kommt um neun und er fährt um neun. Jeden Samstag dasselbe.«

»Bringt er ihr irgendetwas mit?«

»Das kommt vor. Etwas Nützliches; neue Kleider, wenn es nötig ist.«

»Und letzten Samstag?«

»Letzten Samstag hatte er nichts dabei. Da habe ich ihn in Empfang genommen.«

»Kein Abschiedsgeschenk also. Nichts, was darauf hindeuten könnte, dass er vorhatte zu verschwinden«, dachte Sjöberg laut.

Schwester Ann-Britt schüttelte besorgt den Kopf. Sjöberg wechselte das Thema.

»Sie liest nicht? Ich habe weder Bücher oder Zeitungen noch einen Fernseher in ihrem Zimmer gesehen.«

»Nein, das tut sie nicht. Solveig interessiert sich überhaupt nicht für ihre Umwelt. Wir haben einen Fernseher im Gemeinschaftsraum, und manchmal setzen wir sie dorthin, aber sie schaut niemals auf den Fernseher, sondern hat den Blick immer auf etwas anderes im Zimmer gerichtet. Sie nimmt auch keine Notiz von den anderen, die hier wohnen, und vom Personal natürlich auch nicht. Sie schirmt sich vor allem und jedermann ab.«

»Das klingt wie die reinste Folter. Hat sie sich nie selbst verletzt? Oder versucht, sich umzubringen?«

»Nichts dergleichen, aber sie zeigt im Großen und Ganzen nur wenige menschliche Reaktionen, wenn man es so ausdrücken kann. Diejenigen, die sich selbst verletzen, tun es meistens, um zu spüren, dass sie noch leben. Ich habe das Gefühl, dass Solveig ... vielleicht nicht spüren möchte, dass sie lebt.«

»Trotzdem hält sie sich selbst lieber in ihrem Körper gefangen«, überlegte Sjöberg weiter. »Verbietet sich jede Art von Annehmlichkeit. Vielleicht meint sie, dass sie es nicht verdient hat, zu sterben.«

Ann-Britt Berg hob die Hände, um zu signalisieren, dass sie zu diesem Thema nichts zu sagen wusste. Sjöberg fiel keine weitere Frage mehr ein, und er erhob sich steif aus dem unbequemen Sessel.

»Danke für das Plauderstündchen«, sagte er und streckte der Krankenschwester die Hand entgegen.

Sie erwiderte seinen Abschiedsgruß mit einem leicht verlegenen Blick, aber ob es daran lag, dass sie gegen die Schweigepflicht verstoßen hatte, oder an der Tatsache, dass sie nichts Brauchbares beizutragen gehabt hatte, konnte er nicht entscheiden.

Er ließ sie zu ihrer Arbeit zurückkehren, und während das dumpfe Schlagen der schweren Gutshoftür noch in seinen Ohren klang, ließ er Solveig Eriksson und ihr Solberga hinter sich zurück.