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Sjöberg verließ die Polizeiwache, ohne jemandem zu sagen, wo er hinwollte. Ein nagendes Gefühl der Unlust verfolgte ihn den ganzen Weg bis zur Eriksdalsgatan. Falls Einar öffnete, wenn er klingelte, was sollte er dann sagen? Er wollte seinen Kollegen nicht umgeben von Alkoholdünsten und mit ungekämmten Haaren sehen müssen ... Er unterbrach seine Gedankenspiele. Wie kam er überhaupt darauf? Eriksson hatte auf der Arbeit noch nie eine Fahne gehabt, was bei ihm selbst durchaus das ein oder andere Mal der Fall gewesen sein konnte. Aber was war dann geschehen? Eriksson konnte doch nicht einfach so einen Tag von der Arbeit wegbleiben, nachdem er, soweit Sjöberg es beurteilen konnte, zwölf Jahre lang stets zuverlässig auf seinem Platz gesessen hatte? War er verletzt oder ernsthaft krank geworden? Dann hätte sich aber doch jemand gemeldet; Frau Eriksson hätte angerufen und gesagt, dass er krank sei. Wenn sie selbst sich nicht auch verletzt hatte. Sie konnten in einen Verkehrsunfall verwickelt worden sein ...

Ein alter Mann mit einem Zwergpudel kam aus Erikssons Haus, und Sjöberg lief die letzten Schritte, damit die Tür nicht vor ihm wieder ins Schloss fiel.

»Entschuldigen Sie«, sagte Sjöberg, und der alte Mann schaute mit wässerigem Blick zu ihm hoch. »Wohnen Sie in diesem Haus?«

»Wer möchte das wissen?«, fragte der Alte zurück.

»Ja, entschuldigen Sie ...«

Sjöberg zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche und zückte seinen Polizeiausweis.

»Conny Sjöberg. Ich bin ein Kollege von Einar Eriksson, der auch in diesem Haus wohnt.«

»Aha, ist er ein Bulle? Das wusste ich gar nicht.«

Der Alte blinzelte ihn mit einem verschmitzten Lächeln an, das Sjöberg erwiderte.

»Haben Sie ihn in der letzten Zeit gesehen?«, wollte Sjöberg wissen.

Der alte Mann überlegte einen Augenblick und antwortete dann:

»In der letzten Zeit? Nein, seit Samstag nicht mehr. Da ist er mit seinem Auto losgefahren.«

Sjöberg spürte eine wachsende Unruhe. War es so, wie er befürchtet hatte? War Eriksson ein Unfall zugestoßen?

»Am Samstagmorgen, wenn ich mit Topsy draußen bin, fährt er immer mit dem Auto los«, fuhr der Mann fort. »Und dann kommt er spätabends wieder zurück, aber da schlafe ich meistens schon.«

»Und letzten Samstag?«

»... habe ich auch nicht gesehen, wie er zurückgekommen ist«, ergänzte der alte Mann. »So war das.«

»Saß er allein im Auto, oder hatte er seine Frau dabei?«, fragte Sjöberg.

»Frau? Eriksson ist Junggeselle, soweit ich weiß. Eine Ehefrau habe ich nie gesehen und auch kein anderes Frauenzimmer, falls es Sie interessiert«, gluckste der Mann.

Der alte Knacker hat bestimmt nicht mehr alle Tassen im Schrank, dachte Sjöberg. Er hatte mehr als einmal gehört, wie Eriksson von seiner Frau gesprochen hatte. Sie hatten sich zwar niemals direkt über sie unterhalten, aber sie hatten sich ja auch sonst nie über Dinge unterhalten, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Außerdem war er sich so gut wie sicher, dass Eriksson einen Ring am Finger trug. Als wollte er Sjöbergs Vermutung widerlegen, dass er nicht mehr bei vollem Verstand war, fuhr der Mann fort:

»Aber zurückgekommen sein muss er ja, falls der Herr Kommissar sich das fragen sollte. Das Auto steht ja dahinten, und da hat es auch schon am Sonntagmorgen gestanden.«

Mit einem Nicken deutete er auf einen alten Toyota Corolla, der zu dieser Tageszeit ziemlich einsam auf dem Parkplatz stand.

»Dann danke ich Ihnen sehr für Ihre Auskünfte«, sagte Sjöberg erleichtert. Jetzt musste er auf der Suche nach seinem Kollegen wenigstens nicht alle möglichen Krankenhäuser abtelefonieren.

Der alte Mann ruckte leicht an der Leine, und der kleine Hund zog zielstrebig mit ihm davon. Sjöberg fragte sich, ob das Tier vor Lottens und Mickes Augen Gnade finden würde. Die Rezeptionistin und einer der Hausmeister auf ihrer Polizeistation waren hundeverrückt, im wahrsten Sinne des Wortes; ihre Köter schickten einander Weihnachtskarten und tauschten Glückwünsche und Geschenke zu ihren Geburtstagen aus. Und jetzt hatte auch Jenny, Sandéns leicht beeinflussbare Tochter, sich von dieser Hysterie anstecken lassen.

Er ging ins Treppenhaus und stieg ein halbes Stockwerk nach oben. Vor der Tür mit dem Namen Eriksson auf dem Briefschlitz blieb er stehen und drückte auf die Klingel. Er hörte, wie es in der Wohnung läutete, aber dann blieb es still. Nach zwei weiteren Versuchen schaute er sich vorsichtig um, bevor er sein Pickset aus der Jackentasche zog. Eriksson hatte Gott sei Dank ein ganz normales Schloss in der Tür, und Sjöberg brauchte nur wenige Minuten, um sich Einlass zu verschaffen.

Er rief Einars Namen, erntete aber nur Schweigen. Das Erste, was er sah, war eine Golftasche. Sjöberg hatte keine Ahnung von Golf, aber nach seinem ersten spontanen Eindruck war sie ziemlich alt. Er hatte sich Eriksson nie als Golfer vorgestellt. An der Wand im Flur hing eine gerahmte Schwarzweißfotografie, auf der eine bedeutend jüngere Ausgabe von Einar und eine junge, hübsche Frau zu sehen waren. Einen jungen Eriksson hatte Sjöberg sich noch nie vorgestellt. Oder einen glücklichen. Aber auf dem Bild sah er zweifellos glücklich aus. Keine Sorgen hatten ihre Spuren in dem lächelnden Gesicht hinterlassen, und die Offenheit, die sich darin widerspiegelte, hatte er noch nicht einmal ansatzweise erlebt.

Einar Eriksson lebte in einer Einzimmerwohnung, die aus einem kleinen Flur, einem ziemlich großen Zimmer mit Bett, Sofa und Sessel, einem Badezimmer sowie einer Küche mit einem Esstisch für eine Person bestand. Er nahm zur Kenntnis, dass es sich um ein Einzelbett handelte. Sjöberg seufzte erleichtert, nachdem er die Wohnung hastig durchsucht hatte, ohne seinen Arbeitskollegen betrunken, verletzt oder gar tot aufgefunden zu haben. Aus beruflicher Gewohnheit schaute er die Post durch, die sich auf dem Fußboden angesammelt hatte, und stellte fest, dass Eriksson seit Samstag nicht mehr die Zeitung gelesen oder sie auch nur vom Boden aufgehoben hatte. Wo zum Teufel konnte er bloß stecken? Er rief sich ins Gedächtnis, welche Kleidung Eriksson zu dieser Jahreszeit immer trug. Weder die robusten Schuhe noch die schwarze Winterjacke waren irgendwo in der Wohnung zu finden. Eriksson musste also am Samstagabend mit dem Auto nach Hause gekommen sein, wie er es nach den Worten seines Nachbarn immer tat, um dann vor dem Frühstück am Sonntagmorgen wieder zu verschwinden. Es war vollkommen unbegreiflich.

Was Sjöberg allerdings am meisten bekümmerte, war die Tatsache, dass niemand Einar Eriksson zu vermissen schien. Weder die Nachbarn noch die Arbeitskollegen – abgesehen von ihm selbst natürlich, was allerdings vor allem daran lag, dass er gezwungen war, die Tätigkeiten auszuführen, für die ansonsten Einar zuständig war, und ihm die ganze Situation sauer aufzustoßen begann. Und Frau Eriksson – wo war sie geblieben?

Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, Sandén anzurufen, aber er hielt sich zurück. Vielleicht war es trotz allem ja doch etwas übereilt gewesen, in Einar Eriksson Wohnung einzudringen; der Mann hatte zwei, drei Tage lang unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt, mehr nicht. Ihn selbst ging diese Angelegenheit eigentlich nichts an, er war nur ein Arbeitskollege. Und auf diese Weise in das Privatleben eines Kollegen einzudringen, war im Grunde unverzeihlich. So ermahnte er sich selbst, während er zum Bücherregal ging und einen Ordner mit weinrotem Aluminiumrücken herauszog, der mit »Wichtige Papiere« beschriftet war.

Hinter dem ersten Trennblatt war eine Klarsichthülle abgeheftet, auf der ein Etikett mit der Aufschrift »Solveig« klebte. Vorsichtig zog er ein Bund Papiere heraus und schaute sich das oberste von ihnen an. Es war eine Rechnung ganz aktuellen Datums. Das unterste der Papiere, die er in der Hand hielt, war eine fast identische Rechnung, nur zehn Jahre früher datiert. Die Rechnungen waren von einem Pflegeheim ausgestellt worden, das sich »Solberga« nannte und sich laut der Adresse, die in das Firmenlogo gedruckt worden war, in Fellingsbro befand. Ganz hinten in der Klarsichthülle fand er noch eine Broschüre, die das Pflegeheim als eine Perle in Bergslagen beschrieb, in naturschöner Umgebung und nahe am Wasser gelegen. Außerdem garantierte sie Rund-um-die-Uhr-Service durch das Pflegepersonal und bei Bedarf tägliche ärztliche Betreuung.

Sjöberg konnte sich nicht erinnern, dass Eriksson seine Frau jemals beim Namen genannt hatte, aber er konstatierte, dass eine Frau aus seiner Generation durchaus Solveig heißen konnte. Es war ganz offensichtlich, dass eine mutmaßliche Frau Eriksson nicht in dieser kleinen Wohnung lebte. Wohnte sie möglicherweise im Pflegeheim »Solberga«, und wenn ja, warum? Sjöberg verfluchte sich selbst, dass er sich im Laufe der vergangenen Jahre stets mit Erikssons Brummeln als Antwort begnügt hatte, wenn er ihm neugierige Fragen über den Urlaub oder das vergangene Weihnachtsfest gestellt hatte. Aber die abweisende Miene des Kollegen und seine barsche Art sorgten effektiv dafür, dass seine Umgebung Abstand zu ihm hielt. Es war ganz offensichtlich, dass er andere nicht an seinem Privatleben teilhaben lassen wollte, und vielleicht lag der Grund dafür ganz einfach darin, dass er kein Leben zu haben glaubte, das andere interessieren könnte. Einars Verschwiegenheit und seine Sturheit rührten vielleicht nur von der Enttäuschung her, dass sein Leben nicht so verlaufen war, wie er es sich möglicherweise vorgestellt hatte, als die Fotografie aus dem Flur aufgenommen worden war.

Er klappte den Ordner wieder zu, ohne seinen Inhalt weiter zu untersuchen. Ihm war nach dem kleinen Einblick, den er in das Privatleben seines Kollegen genommen hatte, schon unangenehm genug zumute. Bevor er Einar Erikssons Wohnung verließ, erlaubte er sich allerdings noch einen Blick in die Küche. Er blieb vor dem Herd stehen, der wie die Spüle und der kleine Küchentisch blitzblank geputzt war, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es tatsächlich Einar selbst sein musste, der sich an diesem Herd seine Wurst à la Stroganoff zubereitete. Eben noch hatte er bei der Vorstellung lachen müssen, dass Eriksson mit umgebundener Schürze selbst vor den Töpfen stehen könnte, aber jetzt war ihm gar nicht mehr zum Lachen zumute. Die Tatsache, dass Einar um sich herum alles sauber und ordentlich hielt und auch seine persönliche Hygiene nicht vernachlässigte – was ganz offensichtlich war, obwohl er stets in derselben langweiligen, billigen Kleidung herumlief –, sprach dafür, dass er nicht aufgegeben hatte. Obwohl – »aufgeben«, dachte er –, wer war er denn, dass er sich anmaßen konnte, Einar Erikssons Leben als lebenswert oder nicht zu beurteilen? Aber irgendetwas war mit Eriksson – und da war schon immer etwas mit Eriksson gewesen –, der mit seiner griesgrämigen Miene einen Eindruck von Schwermut und Resignation hinterließ. Es war nichts, was ihm unmittelbar aufgefallen wäre, sondern es war mit den Jahren gewachsen, ohne dass er jemals richtig den Finger darauf hätte legen können. Aber es war der Grund dafür, dass Sjöberg sich nicht desselben etwas groben Jargons bediente wie seine Kollegen, wenn er mit Einar sprach, und keine sarkastischen Kommentare hinter seinem Rücken fallen ließ.

Auf der kleinen Arbeitsfläche rechts vom Herd standen ein paar Kochbücher. Eines davon erkannte er aus der Küche seiner Mutter wieder. Es musste mindestens vierzig Jahre alt sein, dachte er, während er es vorsichtig herauszog, um die anderen Bücher nicht umzuwerfen. Er schlug die erste Seite auf, um herauszufinden, in welchem Jahr es gedruckt worden war. Stattdessen fand er eine handschriftliche Widmung ganz oben auf der Innenseite des Einbands: »Wir gratulieren unserer fleißigen kleinen Solveig zum erfolgreichen Bestehen des Abiturs. Großmutter und Großvater, Mai 1968.«

Wo wir Frau Eriksson finden, wissen wir jetzt, dachte Sjöberg, aber wo zum Teufel steckt Einar?