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Es waren nur noch wenige Kinder da, als Sandén eintrat. Die Erzieherin, eine reizende Frau um die sechzig, sah aus, als würde sie an einen ganz anderen Arbeitsplatz gehören. Sie trug enge Jeans, eine gemusterte Bluse, die alles andere als billig aussah, und einen eleganten Schal. Sie war stark geschminkt und mit Klunkern behängt, mit Ringen, Halsketten, Armbändern und Ohrgehängen, aber ob diese echt waren oder nicht, konnte Sandén nicht beurteilen. Sie hatte eine fröhliche und warme Stimme, die Sandén bereits im Flur entgegenklang, und das Buch, aus dem sie vorlas, erkannte er wieder. Es war die Geschichte von dem kleinen Kaninchen Spotty. Er hatte sie selbst viele Male vorgelesen, als seine eigenen Kinder noch klein waren. Sie saß auf einem Berg aus weichen Kissen und hatte auf jedem Knie ein Kind sitzen. Ein drittes Kind lag mit dem Daumen im Mund direkt neben ihr. Als Sandén den Raum betrat, hielt sie inne und schaute mit einem erstaunten Lächeln zu ihm auf.

»Jens Sandén, Kriminalpolizei«, sagte er und wurde sich plötzlich bewusst, dass er mit seinen nassen Winterstiefeln direkt in die Kuschelecke der Kinder hineinmarschiert war. »Ich müsste mit Ihnen reden, aber lesen Sie die Geschichte ruhig zu Ende. Ich ziehe mir in der Zwischenzeit die Schuhe aus.«

Sie machte ein besorgtes Gesicht und folgte ihm mit den Blicken, als er den Raum verließ.

»Ich wische meine Spuren wieder weg!«, rief Sandén noch aus dem Flur zurück, bevor sie mit ihrer Geschichte fortfuhr.

Er stellte seine Schuhe an der Eingangstür ab, machte die Personaltoiletten ausfindig und riss einen meterlangen Streifen Toilettenpapier von der Rolle ab. Dann wischte er sorgfältig seine nassen Fußspuren auf, spülte das Papier in der Toilette hinunter und schlich auf Socken zu den Kindern und ihrer Erzieherin zurück.

»So, den Rest lesen wir morgen!«, sagte die Erzieherin und schlug das Buch mit einem Knall zu, um anzudeuten, dass die Fortsetzung der Geschichte geradezu unerträglich spannend werden würde. »Ich muss ein paar Worte mit dem netten Polizisten wechseln, der gerade zu Besuch gekommen ist. Helft mir bitte noch, die Stifte auf dem Tisch zusammenzuräumen, dann dürft ihr euch danach die letzte Banane teilen.«

Die Kinder taten bereitwillig, was sie ihnen aufgetragen hatte, was sie, so vermutete Sandén, nicht getan hätten, wenn ihre Eltern sie darum gebeten hätten.

Mit dem Anlass, den sein Besuch hatte, fühlte er sich nicht gerade wie ein besonders netter Polizist. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er nicht nur hier war, um Informationen zu sammeln, sondern dass sein Auftrag tatsächlich auch darin bestand, eine schreckliche Todesnachricht zu überbringen, und zwar einer Person, die den beiden Kindern nach der Mutter vielleicht am allernächsten stand.

»Margareta Norlander«, sagte sie und reichte ihm die eine Hand zum Gruß, während sie ihn mit der anderen Hand aus dem Raum winkte. »Wir gehen woandershin, damit wir uns ungestört unterhalten können. Worum geht es?«

Er folgte ihr durch den Flur in die Küche, ohne auf ihre Frage einzugehen.

»Setzen wir uns«, sagte Sandén und deutete auf ein paar Stühle, die um einen Tisch herumstanden.

Mit offensichtlicher Beunruhigung begegnete sie seinem Blick, setzte sich aber ihm gegenüber an den Tisch und legte die Hände vor dem Mund zusammen.

»Ich glaube nicht, dass ich das jetzt hören möchte«, sagte sie ängstlich.

»Nein, aber es hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun«, versuchte Sandén sie zu beruhigen. »Es hat mit Ihrer Arbeit zu tun.«

Er hörte selbst, wie bürokratisch das klang, fuhr aber mit demselben Ernst fort:

»Tom und Linn – stimmt es, dass sie in diese Gruppe gehen?«

»Ja, aber sie sind diese Woche nicht da gewesen und wir haben nichts von ihnen gehört.«

Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, und Tränen traten ihr in die Augen, bevor er fortfahren konnte.

»Kate passt doch immer so gut auf ...«

»Mit Kate meinen Sie Catherine?«

Sie antwortete mit einem Nicken.

»Alle drei wurden heute Vormittag tot aufgefunden«, sagte Sandén so neutral er konnte. »Sie lagen nebeneinander zu Hause in ihrem Bett. Sie sind zusammen gestorben, und die Kinder haben wahrscheinlich gar nicht gemerkt, was mit ihnen geschah.«

»Und was ist mit ihnen geschehen?«

Margareta Norlander konnte ihr Weinen nicht unterdrücken, die Tränen rannen in einem steten Strom ihre Wangen hinunter, und ihre Stimme versagte.

»Für mich ist es auch sehr schwer«, entschuldigte sich Sandén, der selbst Schwierigkeiten hatte, seine Tränen zurückzuhalten.

Er nahm ihre Hände und fuhr fort:

»Sie wurden ermordet. Jemand hat ihnen die Kehle durchgeschnitten.«

»Haben Sie sie gesehen?«, fragte sie schluchzend.

»Ja«, antwortete Sandén. »Aber ich kann Ihnen versprechen, dass die Kinder nichts gemerkt haben, und es hat friedlich ausgesehen, wie sie alle drei zusammen auf dem Bett lagen.«

»Und die arme Kate?«

»Die Untersuchung des Tatorts ist noch nicht abgeschlossen, aber das meiste deutet darauf hin, dass sie bei Bewusstsein war, als es passierte. Aber mit größter Wahrscheinlichkeit musste sie nicht mit ansehen, wie ihre Kinder starben.«

Sandén blieb eine Weile schweigend sitzen und ließ Margareta Norlander verarbeiten, was er ihr gerade erzählt hatte. Ihre Hände lösten sich aus seinen, und sie streckte einen Arm über den Tisch nach einer Rolle Küchenpapier aus. Er kam ihr zuvor und riss ein Stück Papier los, um es ihr zu reichen.

»Wie um alles in der Welt soll ich das den Kindern erklären?«, fragte sie sich, während sie sich die Wangen abtupfte.

Die Außentür wurde geöffnet, und sie unternahm einen halbherzigen Versuch, von ihrem Stuhl aufzustehen. Sandén hielt sie mit einer Geste zurück, stand auf und fragte:

»Sind das Eltern, die zum Abholen kommen?«

Sie nickte.

»Ich kümmere mich um sie«, sagte er. »Bleiben Sie ruhig hier sitzen. Ich werde sie bitten, eine Weile auf die Kinder aufzupassen. Ich muss mich noch ein bisschen mit Ihnen unterhalten.«

Er verließ die Küche und trat in den Flur, wo die drei übrigen Kinder bereits eine regennasse Mutter in Empfang genommen hatten. Er zog seinen Polizeiausweis aus der Jackentasche und zeigte ihn der Mutter, die ihr eigenes Kind in den Armen hielt.

»Tut mir leid, aber ich bin mit schlechten Nachrichten gekommen, darf ich Sie daher bitten, eine Weile hierzubleiben und auf die Kinder aufzupassen, die noch da sind? Margareta und ich sitzen in der Küche und reden miteinander, und es wäre schön, wenn wir dabei nicht gestört würden. Wie ist Ihr Name?«

»Ich heiße Anna«, antwortete sie mit ernster Miene. »Anna Åkesson. Ich bin die Mutter von Isa hier.«

»Gut, Anna«, sagte Sandén resolut und steckte den Ausweis in seine Tasche zurück. »Dann machen wir es so. Margareta wird sich dann bei Ihnen melden. Okay?«

»Okay«, antwortete sie verblüfft, stellte aber keine Fragen.

Sandén kehrte in die Küche zurück, wo Margareta Norlander immer noch genauso dasaß, wie er sie verlassen hatte. Sie weinte immer noch und starrte teilnahmslos an die Kühlschranktür. Er ließ sich wieder auf den Stuhl ihr gegenüber nieder.

»Und Erik?«, fragte sie leise.

»Erik?«, fragte Sandén zurück. »Wer ist Erik?«

»Er hat ihr manchmal beim Bringen und Holen geholfen.«

»Ich muss Sie bitten, mir alles über Erik zu erzählen, was Sie wissen«, sagte Sandén. »Kennen Sie seinen Nachnamen?«

»Nein, danach habe ich ihn tatsächlich nie gefragt. Er ist ungefähr in meinem Alter. Wir haben nie so richtig erfahren, in welchem Verhältnis er zu Kate stand. Sie können natürlich ein Paar gewesen sein, und das ist im Grunde ja auch das Wahrscheinlichste, aber es gab nie irgendeine körperliche Nähe zwischen den beiden, jedenfalls nicht, wenn wir dabei waren. Er muss ja mindestens zwanzig Jahre älter gewesen sein als sie ... Er hat sich fantastisch um die Kinder gekümmert, und sie waren ganz verrückt nach ihm. Aber er ist nicht ihr Vater, soviel weiß ich.«

»Sind Sie dem Vater jemals begegnet?«

»Nein, er ist nie hier gewesen. Kate hat gesagt, dass sie geschieden seien.«

»Sie lebten zumindest getrennt«, warf Sandén ein.

»Ja, schon möglich. Haben Sie ihm schon ...?«

»Ja, aber er hat ausgesagt, dass er Catherine und die Kinder schon lange nicht mehr gesehen habe. Von diesem Erik schien er nichts zu wissen. Wir sind sehr daran interessiert, in Kontakt mit ihm zu kommen.«

Erneut wurde die Außentür geöffnet, und kurz darauf waren mehrere Erwachsenenstimmen aus dem Flur zu hören.

»Vielleicht haben wir ja seine Telefonnummer im Büro«, sagte Margareta Norlander. »Die Eltern müssen eine Telefonnummer von jemandem hinterlassen, der zur Not an ihrer Stelle einspringen kann, wenn sie selbst nicht zu erreichen sind. Aber ich möchte nicht ...«

Sie deutete in Richtung der Stimmen, und Sandén beruhigte sie:

»Wir machen das später, wenn alle gegangen sind. Anna Åkesson kümmert sich da draußen so lange um alles. Sie müssen heute Abend vielleicht die Eltern und Ihre Kollegen anrufen ...«

»Ja, natürlich.«

Die Erzieherin brach erneut in Tränen aus.

»Wer kann denn so etwas Schreckliches getan haben ...?«

»Das wollte ich Sie fragen«, sagte Sandén. »Hier im Kindergarten kennen Sie die Familie vielleicht besser als alle anderen. Mit wem hatte Catherine Kontakt? Trafen die Kinder jemanden außerhalb des Kindergartens? Ich möchte alles wissen, was Sie mir über Catherine Larsson sagen können. Könnte sie Feinde gehabt haben?«

»Sie war die Freundlichkeit in Person. Immer positiv und gut gelaunt. Und Erik genauso. Er war nicht so oft hier. Ein, zwei Mal die Woche vielleicht.«

»Seit wann?«

»Ja, seit die Kinder hier angefangen haben. Das muss im August 2006 gewesen sein. Sie waren damals noch so klein; die kleine Linn hatte gerade erst Laufen gelernt. Ob Kate Umgang mit einigen der anderen Eltern hatte, kann ich nicht sagen. Und die Kinder in dieser Gruppe sind ja so klein, dass sie in der Regel nicht mit einem anderen Kind nach Hause gegangen sind, um zu spielen. Tom und Linn haben es jedenfalls nicht getan, soweit ich weiß. Es waren immer nur Kate oder Erik, die sie abgeholt haben.«

»Wie war Catherine als Person?«

Margareta Norlander überlegte eine Weile, bevor sie antwortete.

»Nett und freundlich, wie schon gesagt. Ein bisschen schüchtern, könnte man vielleicht sagen. Machte nicht viel Aufhebens um sich. Ihr Schwedisch war nicht besonders gut.«

»Was hat sie gearbeitet, wissen Sie etwas darüber?«

»Sie hat geputzt«, sagte sie. »Mehr weiß ich auch nicht.«

Sie riss ein weiteres Stück Küchenpapier von der Rolle und versuchte ohne größeren Erfolg, ein wenig verlaufenes Mascara abzuwischen.

»Wie ging es den Kindern?«, fragte Sandén.

»Sie waren sehr fröhlich und ausgeglichen, und man hatte nie Sorgen mit ihnen. Gesund und sauber. Kate hatte alles gut im Griff und legte Wert auf Pünktlichkeit und solche Dinge.«

»Haben die Kinder jemals von ihrem Vater gesprochen?«

»Ich habe ein paarmal gehört, wie Tom damit angegeben hat, wie stark sein Papa sei und so, aber das machen Kinder eben. Ich habe nie gehört, dass sie etwas über ihren Vater erzählt haben.«

»Und dieser Erik, wie sieht er aus, was arbeitet er?«

»Mittelgroß, aschblondes Haar, Brille. Sieht schwedisch aus, ein ganz normaler Typ in ganz normalen Kleidern. Lange Hose und Pulli.«

»Also kein Anzug und auch keine Arbeitskleidung«, ergänzte Sandén. »Ein Angestellter?«

»Ja, etwas in dieser Richtung. Ich weiß nicht, was er arbeitet.«

»Ein grüner Pulli?«, fiel Sandén plötzlich ein.

»Ja, jetzt, wo Sie es sagen ... Er trug ziemlich oft einen dunkelgrünen Pulli. Er war unheimlich kinderlieb«, fuhr sie fort. »Nicht nur Tom und Linn waren ganz verrückt nach ihm, er hatte auch immer ein Wort für die anderen Kinder übrig. Er spielte Ball mit ihnen, warf sie in die Luft, Sie wissen schon, was kleine Kinder eben so mögen.«

Die Stimmen aus dem Flur wurden lauter, bevor sie ganz verschwanden. Die Außentür fiel mit einem Knall ins Schloss. Margareta Norlander warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach fünf.

»Da sind wohl die Letzten gegangen«, konstatierte sie mit einem Seufzen.

»Können Sie mir helfen und nach diesen Telefonnummern schauen?«, bat Sandén.

»Natürlich«, antwortete sie müde.

Mühsam erhob sie sich von ihrem Stuhl und sah plötzlich wesentlich älter aus. Die Erschöpfung, die aus ihren Schritten sprach, als sie vor ihm herging, hatte er vorher nicht bemerkt. Von einer Kindergartenerzieherin war sie in eine Frau verwandelt worden, die zwei Kinder verloren hatte.

Ein junger Mann in ausgewaschenen Jeans und einem verfärbten Hemd, das seine beeindruckenden Oberarme betonte, stützte sich hinter der Glastür zur Nachbargruppe auf den Stiel seines Schrubbers. Sandén grüßte ihn mit einem Nicken, aber Margareta Norlander nahm keine Notiz von der lustlosen Reinigungskraft, sondern zog einen Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche, suchte den passenden Schlüssel heraus und öffnete die Tür zum Büro. Aus einer Reihe von Ordnern, die auf dem Schreibtisch standen, zog sie einen mit grauem Rücken heraus und blätterte sich zu den Papieren der Larsson-Kinder durch. Dort waren zwei Telefonnummern angegeben, davon eine Handynummer. Die eine gehörte zu Catherine Larssons Festnetzanschluss, aber zu wem gehörte die Handynummer? Erik?