*

Am sechsten Tag begann er den Mut zu verlieren. Er fühlte sich jetzt so schwach, dass er aufhörte, sich an Zeiten zu halten, und sich nicht mehr darum kümmerte, wann er schlafen durfte und wann er wach sein sollte. Er konnte sich nicht einmal mehr sicher sein, dass der Schlaf wirklich noch Schlaf war, denn er glitt immer wieder in einen Dämmerzustand hinein und wieder hinaus, bei dem es sich möglicherweise um Bewusstlosigkeit handelte. Mittlerweile störte er sich auch nicht mehr an der Kälte, was er als den Anfang vom Ende deutete. Trotzdem gab er nicht die einzige kleine Möglichkeit auf, die er noch sah; hartnäckig zog er weiter mit kurzen Rucken an dem Seil, mit dem seine Handgelenke aneinandergefesselt waren, sobald er wieder genug Energie dafür gesammelt hatte.

Der kleine Haufen aus Brotstücken war am Tag zuvor aufgefüllt worden, aber obwohl sein Magen vor Hunger schmerzte, konnte er sich nicht überwinden, davon zu essen. Der Mund war nicht hungrig. Außerdem wurde er von der umständlichen und schmerzhaften Prozedur abgeschreckt, zu dem Brot hinüberzukrabbeln und mit der Zunge nach den Krümeln zu angeln. Dagegen hatte er sich in die Nähe der Wasserschale gelegt, und hin und wieder zwang er sich, ein paar Tropfen in sich hineinzuschlabbern. Er lag regungslos da, mit schmerzenden, tauben Gliedern, und wechselte nur dann die Stellung, wenn es unbedingt notwendig war.

Gedanken und Träume wechselten einander ab, flossen ineinander, und manchmal erwachte er in totaler Verwirrung, ohne zu wissen, wo er sich befand. Sowohl die Gedanken und die Erinnerungen als auch die beschwerliche Wirklichkeit quälten ihn mehr als die anhaltenden Schmerzen. Doch konnte er hin und wieder im Traum von dem Leiden befreit werden, aus dem sein Dasein nunmehr bestand. Aber während der wachen Momente gab es keine Träume. Nur die schmerzhafte und zähe Gewissheit, dass ihm das Leben nun wieder mit der ständig wiederkehrenden Erinnerung an die Schuld, die er trug, und die Schuld, die er auch in Zukunft tragen würde, ins Gesicht grinste. Und dann all die Erinnerungen, die ihn verfolgten, Erinnerungen an das Leben, das er gelebt hatte. Das kleine, armselige, sinnlose Leben, an das er sich verloren hatte an einem Maitag vor langer Zeit, als der Duft von frisch gemähtem Gras die Nasenlöcher füllte, der Duft der Erde, aus der neues Leben keimen würde, der Duft von den blühenden Traubenkirschen auf der anderen Seite der Straße. Ein Maitag, an dem die Sonne von einem hellblauen Himmel strahlte und der Wind einen fröhlich plätschernden Fluss kräuselte und im blonden Haar seiner Frau spielte, als sie in der Schlange vor dem Kiosk stand und glaubte, dass sie dort gleich zwei Lutscher kaufen würde, wo sie aber stattdessen ihre Sprache verlor.

Einige Spatzen saßen direkt vor ihr unter dem Papierkorb und pickten Krümel von einer Eiswaffel auf. Mit kleinen, hüpfenden Schritten bewegten sie sich um die begehrte Beute herum, und als sie einen Blick zum Auto warf, bemerkte sie, dass sich dort ebenfalls etwas rührte. Einer der Jungen, wahrscheinlich Tobias, der jüngere, war aufgestanden und wollte anscheinend zwischen den Sitzen hindurch nach vorne klettern. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und dachte, dass Einar jetzt doch eigentlich fertig sein müsste. Gleichzeitig hatte der Kunde vor ihr seine Einkäufe beendet und sie war an der Reihe.

»Haben Sie Lutscher?«, fragte sie den Mann hinter dem Tresen und warf noch einmal einen Blick zum Wagen hinüber, wo sich die Jungen zu ihrer Erleichterung noch nicht auf den Vordersitzen befanden, sondern eher zwischen den Sitzen hingen, jetzt mit den Köpfen nach unten und bestenfalls schon wieder auf dem Weg nach hinten.

»Natürlich!«, antwortete der Verkäufer und hielt ihr eine Dose hin, aus der sie aus einer großen Menge von Lutschern in allen Farben und Größen wählen konnte, aus der sie aber aus Gründen, die ihr selbst schleierhaft waren, einen schwarzen herausgriff, mit dem in der Hand sie ein paar zögernde Schritte auf das langsam rollende Auto zumachte, bevor sie zu laufen begann, zuerst vorsichtig trippelnd, doch dann immer schneller, bis sie mit langen, tollpatschigen Schritten in ihren hochhackigen Schuhen auf den Wagen zurannte, der jetzt schnell auf das glitzernde Wasser zurollte.

Bevor das Hinterrad über die Kante rollte, war sie beim Auto, versuchte die Beifahrertür aufzureißen, verlor sie aber aus dem Griff, als der Wagen von ihr fortglitt. Sie schrie, und mit schreckerfülltem Blick begegnete sie den erstaunt aufgerissenen Augen eines der Jungen – sie sollte sich nie erinnern, welches von ihnen – auf dem Rücksitz, als das Auto kippte und mit unerwarteter Geschwindigkeit von der gepflasterten Uferpromenade verschwand, auf der sie stand, und durch die klare Luft mit einem dumpfen und lauten Platschen in das schwarze Wasser stürzte. Wie gelähmt blieb sie einen Augenblick stehen und sah, wie sich das Auto durch das halb heruntergedrehte Fenster auf der Fahrerseite rasch mit Wasser füllte. Mit einem Schrei, der durch Mark und Bein ging, das des Kioskbesitzers und der Menschen, die sich in der Nähe befanden, und zu denen auch er gehörte, warf sie sich in das eiskalte, strömende Wasser, und nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, verschwand sie unter der Oberfläche. Während ihres Kampfes gegen unüberwindliche Kräfte, bald in Gesellschaft mit ihm und zwei fremden Männern, die zufällig in der Nähe gewesen waren, wurde das Auto immer tiefer zu Boden gezogen, um sich dort auf Grund zu legen, wo die schlecht ausgerüsteten und vom Kampf gegen das strömende Wasser verausgabten Menschen nichts mehr ausrichten konnten.

Unter verzweifelten, erschöpften, keuchenden Andeutungen von Schreien ließen sie sich schließlich an Land ziehen, auf einen Boden, der sich unter ihren Füßen nie wieder fest anfühlen würde. Im Wasser war nur noch der schwarze Lutscher zu sehen, der friedlich auf den Wellen an der Kaikante schaukelte.