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Johan Bråsjö, gerade zehn Jahre alt geworden, hatte seine erste Monatskarte bekommen. Schon seit dem Beginn des Schulhalbjahrs im Januar hatte er ohne Begleitung eines Erwachsenen zur Schule gehen dürfen. Obwohl Mama oder Papa noch mit Sanna gehen mussten, die in der ersten Klasse war, ging er kurz vor ihnen los, klingelte im Haus nebenan bei seinem besten Freund Max und genoss zusammen mit ihm das neu gewonnene Privileg, sich frei in der Stadt bewegen zu dürfen. Mama hatte ihm später verraten, dass sie ihn zu Anfang ein paarmal heimlich verfolgt hatte, um zu kontrollieren, ob sie die Straßen nach allen Regeln der Kunst überquerten.

Nachdem er lange gebettelt und geschworen hatte, sich gut zu benehmen, setzte er schließlich auch durch, dass er allein zu seiner Gitarrenstunde fahren durfte. Und so stieg er jetzt jeden Dienstagnachmittag mit der Gitarrentasche auf dem Rücken zusammen mit Ivan, einem Schulkameraden aus der Parallelklasse, bei Skanstull in den Bus der Linie 4, zeigte seine kostbare Monatskarte vor und fuhr den ganzen Weg bis zur Gärdesschule in Östermalm, wo die Stunden abgehalten wurden.

Heute war zwar Donnerstag, aber die Jungen saßen trotzdem zusammen im Bus. Johan hatte von seiner Mutter die Erlaubnis bekommen, nach der Schule mit zu Ivan zu gehen. Bei Ivan war niemand zu Hause gewesen, und nach gewissem Widerstand hatte er sich dazu überreden lassen, auf Ivans Kosten mit ins Kino am Hötorget zu gehen. Johan hatte das starke Gefühl, dass seine Eltern diese Unternehmung nicht gutheißen würden, aber auf der anderen Seite brauchten sie ja nichts davon zu erfahren. Jetzt waren sie nach dem Kino wieder auf dem Weg nach Hause, und bei Johan stellte sich eine gewisse Erleichterung ein, als sie sich den Teilen von Stockholm näherten, in denen er sich nicht mehr verbotenerweise aufhielt.

»Du hast ein bisschen Schiss gehabt, das habe ich gesehen«, sagte Ivan.

»Nicht direkt Schiss ... Aber der Film war spannend«, antwortete Johan. »Verdammt spannend. Danke für das Popcorn. Und das Kino.«

»Keine Ursache. Es war übrigens gar nicht mein Geld.«

»Nein?«

»Nein, es war Mamas Geld.«

Johan schaute beunruhigt zu seinem deutlich größeren Kumpel auf.

»Also, ich darf Geld von Mama nehmen. Ich habe es nicht geklaut, falls du das denkst.«

»Dachte ich schon«, sagte Johan erleichtert. »Ich bekomme nur mein Taschengeld.«

»Eigentlich bekomme ich auch Taschengeld«, erklärte Ivan. »Oder zumindest habe ich früher welches bekommen. Aber Mama hat die ganze Zeit vergessen, es mir zu geben, und jetzt bekomme ich stattdessen Geld, wenn ich es brauche.«

»Mhm.«

Johan war nicht ganz zufrieden mit dieser Antwort, beschloss aber, das Thema auf sich beruhen zu lassen, und betrachtete geistesabwesend die Passagiere, die vor ihnen im Bus saßen. Plötzlich entdeckte er eine bekannte Rückenpartie ein paar Reihen vor ihnen.

»Guck mal, Ivan, da sitzt der, der immer vor uns Gitarre hat!«

»Jetzt schrei doch nicht so«, zischte Ivan und ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken.

»Ich schreie doch nicht«, verteidigte sich Johan, »ich flüstere nur. Hast du etwa Schiss vor ihm?«

»Nein, du etwa?«

Johan fand, dass Ivans Augen doch ein bisschen ängstlich aussahen, aber er beschloss, es nicht zu kommentieren.

»Nein, aber er sieht unheimlich aus. Findest du nicht?«

»Doch, hässlich wie die Nacht«, sagte Ivan mit der Hand vor dem Mund, damit niemand außer Johan ihn hören konnte.

»Er ist doch nicht hässlich. Er ist eher ... groß, irgendwie. Und alt.«

»Aber was will er dann beim Gitarrenunterricht?«, platzte Ivan heraus. »So ein verdammter alter Knacker.«

»Er ist ja noch keine hundert. Vielleicht will er einfach nur lernen, wie man Gitarre spielt«, schlug Johan scherzhaft vor und erntete einen Blick, der deutlich zeigte, dass Ivan im Augenblick nicht zum Scherzen aufgelegt war.

»Alle, die dorthin gehen, sind Kinder oder Jugendliche«, entgegnete Ivan. »Er ist erwachsen.«

Offensichtlich sollten seine Kommentare dazu dienen, den Mann vor ihnen als einen Loser abzustempeln, aber Johan musste an seinen Onkel Danne denken und hatte keine Lust, klein beizugeben.

»Mein Onkel nimmt auch Gitarrenstunden. Daran ist doch nichts Merkwürdiges. Wer sagt denn, dass man so etwas nur als Kind machen darf?«

Ivan schaute gleichgültig aus dem Fenster. Johan versuchte, sein Interesse wieder zu wecken.

»Aber er ist tatsächlich unheimlich. Er grüßt nicht. Er sieht uns nicht einmal, obwohl wir jeden Dienstag draußen auf dem Flur sitzen und warten. Krank.«

In Ivans Augen blitzte etwas auf, und er wandte sich wieder Johan zu.

»Und so verdammt groß. Er könnte uns beide gleichzeitig erwürgen. Jeden mit einer Hand.«

Johan betrachtete den groß gewachsenen Mann und stellte sich vor, wie er und Ivan in seinen riesigen Fäusten hingen und mit den Beinen zappelten.

Der Bus wurde langsamer, und sie mussten aussteigen. Der Gitarrenmann stand auch auf, und eine Frau mit einem kleinen Kind an der Hand schob sich zwischen sie und den Mann. Als sie an dem Platz vorbeikamen, auf dem er gesessen hatte, warf Johan einen Blick auf die Sitzfläche und entdeckte, dass er ein Paar Handschuhe vergessen hatte. Er griff im Vorübergehen nach ihnen und rief dem Mann spontan über das Kind hinweg zu:

»Hallo, Sie haben Ihre Handschuhe vergessen!«

Der Mann war bereits halb ausgestiegen und reagierte nicht, aber die Frau mit dem Kind drehte sich mit einem fragenden Blick zu ihm um. Ivan ebenfalls. Johan beantwortete den Blick der Frau mit einem Achselzucken. Zu Ivan sagte er:

»Er hat seine Handschuhe vergessen. Ich wollte nur ...«

»Cool«, sagte Ivan. »Dann haben wir ihn am Haken.«

»Haken?«

»Ja, wir werden ihm folgen.«

»Warum denn?«

»Um zu sehen, was für ein zwielichtiger Typ er ist. Als Detektive!«

»Aber wenn er uns erwischt ...«

» ... dann geben wir ihm die Handschuhe.«

Mit schauderndem Entzücken ging Johan auf diesen Vorschlag ein, und sie begannen, dem ahnungslosen Mann zu folgen.

Im Gedränge am Skanstull blieben sie dicht an ihm dran, aber als er in den ICA-Supermarkt Ringen ging, wagten sie nicht, ihm hinein zu folgen. Sie brauchten allerdings nicht lange zu warten: Schon nach ein paar Minuten war er mit einer Plastiktüte in der Hand wieder draußen.

Weiter draußen am Tjurberget waren weniger Menschen unterwegs, und die Jungen mussten bei ihrem Detektivspiel einen erklecklichen Abstand zu ihrem Beobachtungsobjekt halten. Sie folgten ihm ein gutes Stück den Ringvägen entlang, vorbei am Rosenlund-Krankenhaus, und als er später die Straße überquerte und im Tantolundpark verschwand, waren sie so weit hinter ihm, dass sie, als er in die Kleingartensiedlung einbog, laufen mussten, um ihn nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Als sie sich erst einmal im Durcheinander zwischen den vielen kleinen Häuschen befanden, war es leichter, ihm zu folgen. Die meisten Hütten waren für den Winter verriegelt worden, und in seinem Jagdeifer zögerte Johan nicht eine Sekunde, seinem Freund zu folgen, wenn dieser über Zäune kletterte und sich hinter Hausecken und gefrorenen Erdhügeln versteckte.

Der Mann war wirklich sehr groß und kräftig, und mehr als einmal blieben Johans Blicke an den ungewöhnlich großen Händen hängen, die an seinen Seiten herunterbaumelten, während er mit schnellen, entschlossenen Schritten durch die menschenleere Kleingartenkolonie marschierte. Das eine oder andere Mal warf der Mann einen hastigen Blick über die Schulter zurück, als fühlte er, dass ihn jemand verfolgte. Mit klopfenden Herzen gingen die Jungen dann hinter einer Mülltonne oder ein paar Büschen in Deckung. Je länger die Jagd dauerte, desto furchterregender erschien ihnen der Mann.

Schließlich schien er sein Ziel erreicht zu haben. Während die Jungen drei Grundstücke entfernt hinter einer kahlen, aber dennoch dichten, niedrigen Hecke lauerten, hantierte er an einem Hängeschloss herum und öffnete schließlich die morsche Pforte zu einer Parzelle, auf der eine kleine, fast verfallene Hütte stand. Nachdem er die Pforte sorgfältig hinter sich verschlossen hatte und aus ihrem Blickfeld verschwunden war, wagten sie einen blitzartigen Vorstoß bis zu der Hecke, die seine Parzelle umgab. Näher konnten sie nicht kommen, ohne dass sie riskierten, entdeckt zu werden.

Mit hastigem Atem hockten sie hinter den ungepflegten Sträuchern und versuchten zu belauschen, was der Mann auf der anderen Seite machte. Johan meinte zu Anfang nur das Klimpern eines Schlüsselbunds zu vernehmen, aber je mehr sein Herzklopfen nachließ, desto deutlicher konnte er hören, was hinter der Hecke vor sich ging. Aus einigen Metern Abstand hörte er, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und gedreht wurde, ein metallenes Geräusch wie von einem Hängeschloss, das geöffnet wurde. Das Knarren eines Holzbodens und eine Tür, die geschlossen wurde. Ziemlich lange Stille. Mehr knarrende Schritte. Wieder Stille. Dann eine zornig fauchende Stimme:

»Und hier liegst du, du dreckiges kleines Schwein, und suhlst dich in deinem eigenen Dreck! Pfui Teufel, wie du dich vollgekackt hast! Ist das Essen etwa nicht gut genug für dich?«

Dann ein dumpfes Geräusch. Es klang, als würde man in einen Sandsack boxen, dachte Johan zuerst, bevor er sich vorstellte, dass es auch so klingen könnte, wenn man ein Schwein trat. Die Jungen schauten einander an, ohne ein Wort zu sagen. Johan schauderte.

»Du bekommst trotzdem nichts anderes«, war die fauchende Stimme erneut zu hören. »Das hier ist gut genug für ein Schwein wie dich. Für so eine Sau gibt es keine Kartoffeln.«

Eine knisternde Plastiktüte und Flüssigkeit, die von einem Gefäß in ein anderes geschüttet wurde. Schritte auf den Holzdielen. Mehr Tritte.

»Heute ist dein Glückstag. Die Pflicht ruft, ich muss jetzt gehen. Aber wenn ich freihabe, dann müssen wir uns einmal richtig unterhalten. Tschüsikowski!«

Johan warf einen panischen Blick zu Ivan hinüber.

»Er kommt«, flüsterte er so leise, dass es kaum zu hören war. »Wir müssen abhauen.«

Ivan nickte, und sie zogen sich eilig mit kaum hörbaren Schritten auf dem matschigen Kiesweg zurück, bis dieser eine 90-Grad-Biegung machte und sie weit hinter sich eine Tür zuschlagen hörten. Dann nahmen sie die Beine in die Hand und liefen, was das Zeug hielt, über die verschlungenen Wege der Kleingartenkolonie und über Rasenflächen hinweg, bis sie den Wanderweg um den Årstaviken erreichten. Erst dort wurden sie langsamer und gingen stattdessen mit schnellen Schritten durch den Eriksdalslunden, bis sie wieder bebautes Gebiet erreicht hatten.

»Was wollte er denn mit diesem Schwein?«, keuchte Johan, der nach der schnellen Flucht immer noch außer Atem war. »Boxen trainieren, oder was?«

»Ich hab doch gesagt, dass er zwielichtig ist«, antwortete Ivan. »Vielleicht will er das Schwein schlachten und aufessen?«

»Ich glaube nicht, dass es besser schmeckt, wenn man es vorher schlägt«, vermutete Johan. »Verdammter Tierquäler.«

Ivan betrachtete Johan mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck. Johan verstand, warum, aber er ließ sich nichts anmerken. Er fluchte normalerweise nicht, aber heute war ein Tag, an dem er schon viele verbotene Dinge getan hatte, und dieser Fluch fühlte sich zumindest berechtigt an. Um seine Abscheu gegenüber der Tierquälerei noch deutlicher zu unterstreichen, und vielleicht auch, um seine Unabhängigkeit von den Eltern zu betonen, lieferte er noch einen Fluch hinterher.

»Pfui Teufel, was für ein Idiot. Ich hoffe, dass er jetzt richtig friert an den Händen. Seine Handschuhe werde ich ihm jedenfalls nicht zurückgeben.«

»Wir müssen das Schwein retten«, bemerkte Ivan.

»Ich werde bestimmt nicht dorthin zurückgehen«, sagte Johan.

»Warum nicht? Er geht zur Arbeit, das hat er doch gesagt.«

»Außerdem hat es sich so angehört, als hätte er das Hängeschloss wieder vor die Tür gehängt. Wie sollen wir das denn aufkriegen?«

»Hat dein Vater nicht irgendein passendes Werkzeug dafür?«

Das wusste Johan nicht, aber in das Haus von jemandem einzubrechen, war doch in jedem Fall ... ein Einbruch? Dann erinnerte er sich, wie er einmal in den Nachrichten gehört hatte, dass auch Tierquälerei ein Verbrechen war.

»Es ist verboten, Tiere zu misshandeln«, sagte er. »Wir können ihn bei der Polizei anzeigen.«

»Wir wissen doch gar nicht, wie er heißt.«

»Nein, aber wenn wir zur Polizei gehen, dann können sie zumindest das Schwein retten.«

»Ich werde im Leben nicht zur Polizei gehen. Vergiss es einfach.«

Johan schaute Ivan fragend an, da er nicht so recht verstand, was er damit meinen könnte.

»Sind sie hinter dir her, oder was?«

»Durchaus möglich«, antwortete Ivan mit einem vieldeutigen Achselzucken.

Da Johan nichts darauf zu erwidern wusste, verlief ihr Gespräch im Sande, und die Jungen trennten sich am Skanstull. Je näher Johan seinem Zuhause in der Åsögatan kam, desto stärker machte sich sein schlechtes Gewissen bemerkbar. Ganz allmählich wurde ihm klar, dass seine Eltern ziemlich enttäuscht von ihm wären, wenn sie herausbekämen, was er getan hatte, und es würde ihn nicht überraschen, wenn sie ihm die Monatskarte wieder abnehmen würden. Sie konnten sogar beschließen, dass er ab jetzt nicht mehr alleine zur Schule und wieder nach Hause fahren durfte, wenn er plötzlich andere Sachen machte als die, auf die sie sich geeinigt hatten. Er nahm sich fest vor, dass er sich in Zukunft benehmen würde, und mit diesem Vorsatz konnte er sich selbst davon überzeugen, dass es nicht mehr nötig war, ihnen zu gestehen, was er in Wirklichkeit getan hatte. Demzufolge konnte er ihnen aber auch nicht von dem misshandelten Schwein erzählen. Wie aber konnte er es dann retten? Na ja, es würde früher oder später sowieso gegessen werden. Erleichtert von seinem Entschluss lief er die Treppen zur Wohnung hinauf, wo sein Vater und die kleine Schwester bestimmt schon mit dem Abendessen auf ihn warteten.

Aber gerade, als er die Türklinke hinunterdrücken wollte, kam er auf einen anderen Gedanken. Er hatte heute viele dumme Sachen gemacht, ohne Zweifel. Umso wichtiger war es, den Tag mit einer guten Tat zu beenden.