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Nachdem er die Inspektoren Edin und Möller noch einmal auf der Polizeiwache in Arboga besucht hatte, um die beiden Fotografien von Mikael Rydin einzuscannen und per Mail zu verschicken, setzte sich Sjöberg in den Wagen, um nach Stockholm zurückzufahren. Nach ein paar Minuten begann es zu schneien. Am Morgen hatte die Temperatur noch deutlich über null gelegen, aber jetzt zeigte das Display auf dem Armaturenbrett leichten Frost an. Mit einem Seufzer musste er konstatieren – er wusste nicht, zum wievielten Mal in diesem Jahr –, dass der Frühling immer noch auf sich warten ließ. Über Nebenstrecken erreichte er nach einer Weile die Autobahn, wo sich herausstellte, dass der Verkehr infolge des Schneefalls wesentlich langsamer floss, als er gehofft hatte.

Er zog das Telefon aus der Brusttasche seines Hemdes und wählte Sandéns Nummer.

»Hast du die Mail gesehen, die ich dir eben geschickt habe?«, fragte er.

»Nein, ich war bis über beide Ohren damit beschäftigt, Mikael Rydin ausfindig zu machen«, antwortete Sandén trocken.

»Ein Grund mehr, deine Mails zu lesen. Ich habe ein paar Bilder von ihm mitgeschickt. Dachte, das könnte die Arbeit erleichtern. Bist du in deinem Zimmer?«

»Auf dem Weg dorthin.«

»Das eine Foto ist drei Jahre alt. Das habe ich als Kuriosum mitgeschickt. Das andere Foto ist erst kürzlich aufgenommen worden. Wenn man die beiden Bilder vergleicht, wird einem ziemlich schnell klar, womit dieser Junge die letzten Jahre verbracht hat.«

»Hat er eine Geschlechtsumwandlung machen lassen?«

»Er hat Anabolika gefressen«, antwortete Sjöberg, ohne über Sandéns Scherze auch nur zu lächeln. »Innerhalb von drei Jahren von einem Nichts zu einem tätowierten Muskelberg. So schnell geht das nicht ohne verbotene Hilfsmittel.«

»Oh, verdammt. Was hast du aus Ingegärd Rydin herausbekommen?«

»Christer Larsson ist der Vater des Jungen. Worüber ihn allerdings keiner der beiden informiert hat. Ebenso wie ihr ehemaliger Mann hatte auch sie Probleme, dieses richtige Elterngefühl aufzubringen – oder das Muttergefühl, in ihrem Fall. Der Junge musste anscheinend die meiste Zeit allein zurechtkommen. Sie betrachtet seinen Charakter als hilfsbereit und anhänglich. Nach der Beschreibung seiner Mutter würde ich ihn eher als jungen Mann einschätzen, der verzweifelt um die Anerkennung und die Liebe seiner Mutter kämpft. Vor gut drei Jahren wurde eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung bei ihr festgestellt, und ihr wurde klar, dass ihre Tage gezählt sind. Erst da erzählte sie ihm von seinen Brüdern und dem Unfall. Er war danach sehr aufgewühlt und verlangte, dass sie ihm Fotos zeigte. Er hat auch alte Aufnahmen von Einar zu sehen bekommen. Diese Bilder sind jetzt nicht mehr da. Sie hat selbst gesagt, dass er sie mitgenommen haben muss.«

»Was dich noch überzeugter davon macht, dass Mikael Rydin unser Mann ist?«, sagte Sandén nachdenklich.

»Anabole Steroide haben bekanntlich Nebenwirkungen wie Stimmungsschwankungen und unkontrollierte Wutausbrüche«, fuhr Sjöberg hartnäckig fort. »Wenn man sich darüber hinaus auch noch gleichgültig und unsterblich fühlen möchte, kann man mit Rohypnol nachhelfen, das beim selben Dealer erhältlich ist. Jens, ich bin mir absolut sicher. Und Einar hat im Augenblick nichts zu lachen. Falls er überhaupt noch am Leben ist.«

Am anderen Ende der Leitung war es still. Sjöberg spürte, dass er jetzt zum ersten Mal genug zu bieten hatte, um Sandén von Einars Unschuld zu überzeugen.

»Jens?«

Immer noch keine Antwort.

»Bist du noch dran, Jens?«

Nach ein paar weiteren Sekunden kam schließlich wieder eine Antwort.

»Ich gebe mich geschlagen, Conny.«

Sein Tonfall war jetzt nicht mehr sarkastisch und gespielt herablassend, wie es sonst so typisch für ihn war.

»Das tust du keinen Augenblick zu früh.«

»Und ich weiß auch, wie er Einar ausfindig gemacht hat.«

Sjöberg bemerkte, dass für Sandén aus Eriksson jetzt plötzlich Einar geworden war. Offensichtlich hatte er mittlerweile die ganze Tragweite seines Verschwindens ermessen.

»Ich sitze jetzt am Rechner, Conny. Mikael Rydin arbeitet als Reinigungskraft im Kindergarten der Larsson-Kinder. Ich habe ihn gesehen, als ich dort war, um die Erzieherinnen über Tod der Kinder zu unterrichten.«

»Das ist ja ein Ding ...«

Sjöberg war so überrascht von dieser neuen Information, dass er ein Überholmanöver abbrach und sich wieder in die rechte Spur einordnete.

»Es könnte eine spontane Idee gewesen sein«, sagte Sandén aufgeregt. »Vielleicht ist Rydin gar nicht wie ein Racheengel drei Jahre lang auf der Jagd nach Einar gewesen. Möglicherweise hat er ihn nur zufällig mit den Larsson-Kindern im Kindergarten gesehen. Vollgepumpt mit zweifelhaften Präparaten wurde er von Raserei und einer plötzlichen Sehnsucht gepackt, es diesem anscheinend glücklichen zweifachen Vater heimzuzahlen.«

»Aber danach hat er alles genauestens geplant«, entwickelte Sjöberg den Gedanken des Kollegen weiter. »Er hat Einar verfolgt, hat herausgefunden, wo er wohnt, sich mit seinen Gewohnheiten vertraut gemacht und im richtigen Augenblick zugeschlagen. Was gab es denn für eine bessere Rache, als Einar die zwei Kinder zu nehmen, die er mehr als alles andere auf der Welt liebte?«

»Damit haben wir auch die Erklärung für die Gefühlskälte, mit der die Morde begangen wurden«, warf Sandén ein. »Er hegte keinen Groll gegen Catherine Larsson und ihre Kinder. Die ganze Aktion war gegen Einar gerichtet, den armen Kerl. Wie du es gesagt hast, Conny. Was machen wir jetzt?«

»Findet ihn«, sagte Sjöberg. »Sag Westman und Hamad Bescheid und findet ihn. Jetzt.«