*

Dichter Schneefall sorgte dafür, dass die Rückreise länger dauerte, als er gehofft hatte, doch nach dem Gespräch mit Sandén war Sjöberg bedeutend leichter zumute. Endlich wusste er seine Leute hinter sich, endlich hatten sie alle dasselbe Ziel vor Augen. Außerdem wussten sie jetzt, wer die Morde begangen hatte. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie den Mörder gefasst hatten. Allerdings machte er sich große Sorgen um Einar. Sie mussten davon ausgehen, dass er immer noch am Leben war, und sie mussten ihn schnell finden. Deshalb empfand er eine gewisse Frustration, als er in einem Stau beim Einkaufszentrum Kungens Kurva stecken blieb. Er war jedoch davon überzeugt, dass Sandéns, Hamads und Westmans Arbeit früher oder später zu einem Ergebnis führen würde, und rief deshalb den Polizeidirektor an, um ihn zu bitten, die nationale Einsatzgruppe in Bereitschaft zu versetzen. Nun galt es nur noch, die Daumen zu halten, dass sie verfügbar war. Er streckte sich in seinem Sitz, sehnte sich danach, das Auto zu verlassen und sich die Verspannungen aus den Gliedern zu schütteln.

Von Einar und den toten Kindern wanderten Sjöbergs Gedanken gegen seinen Willen zu seiner eigenen, unter tragischen Umständen umgekommenen Schwester. Er verspürte ein starkes Bedürfnis, seine Mutter so schnell wie möglich mit seinen neuen Entdeckungen zu konfrontieren. Nein, konfrontieren war der falsche Ausdruck. Er wollte ihr erzählen, dass er die Mutter seines Vaters getroffen hatte, dass er nun die ganze Geschichte kannte und dass er seine Mutter für die Stärke bewunderte, die sie all die Jahre gezeigt hatte. Aber er würde sie auch zwingen, ihm alles von Anfang bis Ende zu erzählen. Ich habe ein Recht auf meine eigene Geschichte, dachte Sjöberg. So wie Ingegärd Rydin es ihrem Sohn zugestanden hatte. Am Ende musste man die Wahrheit über seine Herkunft erfahren, aber seine eigene Reaktion würde anders ausfallen als Mikael Rydins.

Wie würde das Wochenende aussehen? Wenn die Jagd auf Mikael Rydin und die Suche nach Einar in absehbarer Zeit beendet wäre, würde er seine Mutter besuchen. Åsa würde nicht glücklich darüber sein, aber sie würde es verstehen. Sie wäre auch froh, endlich die Wahrheit über die Familie Sjöberg zu erfahren. Er hätte sie anrufen sollen. Wahrscheinlich starb sie gerade vor Neugier, was seinen Besuch bei der Großmutter am Vormittag betraf. Er sollte sie anrufen, aber jetzt war der falsche Augenblick. Am Freitagnachmittag gab sie Unterricht,

und danach musste sie sich beeilen, um die Kinder noch rechtzeitig vom Kindergarten und vom Hort abzuholen.

Er gähnte. Müde wie ein Postpferd, und das nach einer ruhigen Hotelnacht ohne lärmende Kinder, die ihn weckten. Aber wenn es das nicht war, dann war es eben etwas anderes. Nach dem Gespräch mit Jenny hatte er nicht wieder einschlafen können. Diese kleine Verrückte, dachte Sjöberg mit einem Lächeln. Ruft mitten in der Nacht an, nachdem sie stundenlang nicht schlafen konnte. Sie hätte gerne noch ein paar Stunden warten können, um ihn ausschlafen zu lassen. Aber Jenny war eben Jenny, und zum Glück waren nicht alle Menschen gleich. Eine frisch bekehrte Kämpferin für die Rechte der Tiere in unserer Gesellschaft. So etwas musste es wohl auch geben.

Die Rechte des Schweins in unserer Gesellschaft. Das Recht des Schweins auf Kartoffeln. Wo kam das denn jetzt her? Er schüttelte den Kopf. Trat ein bisschen aufs Gas und rollte wenige Meter voran. Sjöberg erinnerte sich an eine Schallplatte, die er als Kind öfter gehört hatte. Der Mann in der Kiste. Ein Lied von Gullan Bornemark, das von einem kleinen Schweinchen handelte. Ein Hauch vergangener Zeiten wehte an ihm vorüber, und er begann vor sich hin zu singen: »Kleiner Wutz, beeile dich, kleiner Wutz, beeile dich. Die Kartoffeln warten nicht, die Kartoffeln warten nicht.« Ja, vielleicht fraßen Schweine tatsächlich Kartoffeln. Wie wir Bullenschweine auch, dachte Sjöberg, als das Telefon in seiner Tasche zu vibrieren begann.

Sandén rief ihn aus der U-Bahn an. Hamad und er waren auf dem Rückweg zur Wache, und er berichtete von ihrem Besuch in der Öregrundsgatan.

»Verdammt, ich hoffe, ihr habt keine Spuren hinterlassen? Und es hat auch bestimmt keiner gesehen, wie ihr reingegangen seid?«

»Mach dir keine Sorgen. Das hässliche Entlein – sagt dir das was?«

»Ein Märchen von ...«

»H. C. Andersen, ich weiß. Aber Rydin hat auf seinem Handy ein Foto von einem Schild mit dieser Aufschrift. Es hängt an einer Gartenpforte. Uns sind Biergärten oder Kindergärten eingefallen. Hast du vielleicht noch eine Idee?«

»Was für eine Art von Pforte ist es denn?«

»Klassisch weiß, auch wenn die Farbe ziemlich abgeblättert ist. Eine anständige, alte Gartenpforte eben.«

»Dann gehört sie vielleicht auch zu einem anständigen, alten Haus?«, schlug Sjöberg vor.

»Warte mal. Hamad hat gerade eine Idee.«

Sjöberg wartete, der Verkehr rollte mittlerweile ein bisschen zügiger. Begann der Stau sich aufzulösen? Sandén meldete sich wieder.

»Er sagt, dass Lotten oder Jenny diesen Biergarten erwähnt hätten. Oder was es auch immer sein mag. Das hässliche Entlein. Er ruft jetzt beim Empfang an.«

»Ich bleibe dran. Jenny, ja. Sie hat mich heute Nacht angerufen.«

»Heute Nacht?«

»Morgens um halb vier«, seufzte Sjöberg. »Sie konnte nicht schlafen. Da war irgendetwas mit einem Schwein. Und du warst anscheinend auch keine große Hilfe.«

»Ach so, das. Sie haben wie wild durcheinandergeplappert, sie und Lotten, und ich hatte wirklich keine Zeit. Und keine Lust. Aber jetzt will Hamad gerade etwas sagen ... Warte mal kurz.«

Dieses Kinderlied hatte sich in seinem Ohr festgesetzt. »Die Kartoffeln warten nicht, die Kartoffeln waaarteeen niiicht.« Kartoffeln, dachte Sjöberg. Schwein. Bullenschwein. Ein Schwein, das sich in seinem eigenen Dreck suhlt, hatte Jenny gesagt. Das konnte alles bedeuten. Jeder konnte gemeint sein. Schwein war ein Schimpfwort. Ein schmutziger Mensch konnte ein Schwein sein, ein Mensch vielleicht, der seine Bedürfnisse dort verrichten musste, wo er saß oder lag. Bullenschwein. Und wenn es tatsächlich kein Schwein war, sondern ein Polizist? War der Junge, von dem Jenny gesprochen hatte, vielleicht sogar Zeuge davon geworden, wie ein Polizist misshandelt wurde? Sjöberg erstarrte, und Sandén meldete sich erneut.

»Lotten sagt, dass es sich um ein Wochenendhaus oder so etwas handeln muss. Laut dem Jungen ist es die Adresse, wo das Schwein gefangen gehalten wird. Sie konnten ihn nicht mehr fragen, wo es genau ist. Er war wie der Blitz verschwunden, sobald die Rede davon war, seine Personalien aufzunehmen.«

»Es ist kein Schwein«, sagte Sjöberg jetzt mit voller Überzeugung. »Es ist ein Bullenschwein, Jens. Der Junge hat Einar gefunden!«

»Du hast recht.«

Sandén redete jetzt schneller. Hockte in den Startblöcken und wollte loslegen. Die Frage war nur, wie.

»Und Petra findet im Internet nichts über dieses hässliche Entlein«, fuhr er fort. »Also ist es keine Adresse. Es muss der Name des Hauses sein. Ein Wochenendhäuschen vielleicht?«

»Wie alt war dieser Junge?«

»Die Mädchen schätzen ihn auf acht oder zehn Jahre.«

»Dann hat er sich mit Sicherheit nicht aufs Land verirrt«, stellte Sjöberg fest. »Die Hütte kann nicht allzu weit entfernt liegen. Entweder ist sie zu Fuß zu erreichen oder mit dem öffentlichen Personennahverkehr. Ich tippe auf ein Einfamilienhaus oder eine Kleingartenkolonie.«

»Und wie sollen wir jetzt weitermachen?«

»Versucht weiter, Rydins Kontakte zu erreichen«, sagte Sjöberg, dann kam ihm plötzlich eine weit hergeholte Idee. »Aber ich schlage vor, dass ihr zuerst bei Barbro anruft.«

»Barbro?«

»Wenn es sich um eine Kleingartenkolonie handelt, dann gibt es eine Person, die mehr davon gesehen hat als jede andere. Barbro Dahlström.«

Ihre Wege hatten sich ein halbes Jahr zuvor gekreuzt, nachdem man einen schwer erkrankten Säugling und eine tote Frau im Vitabergspark gefunden hatte. Barbro Dahlström war zweiundsiebzig Jahre alt und gab, mehr als die meisten anderen, dem Begriff »Helden des Alltags« ein Gesicht.

»Natürlich! Ich mache sie sofort ausfindig«, beendete Sandén das Gespräch.

Sjöberg hatte vorhin noch überlegt, ob er irgendwo anhalten und ein Würstchen essen sollte, aber jetzt war die Situation eine ganz andere. Mit bedeutend höherer Pulsfrequenz beschloss er, auf die Tube zu drücken und mit Vollgas nach Stockholm hineinzufahren. Er stellte die Sirene ein, drehte das Seitenfenster herunter und setzte das Blaulicht auf das Wagendach.