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Sjöberg erreichte den Treffpunkt am Rande der Kleingartenkolonie nur wenige Minuten nach Westman und den anderen, die auf Sjöbergs Anweisung zwischen den Autos standen und auf ihn warteten. Eine Truppe von Polizisten aus der nationalen Einsatzgruppe hatte sich bereits auf den Weg gemacht, um das Haus ausfindig zu machen, und eine von ihnen, Hägglund, kehrte gerade zurück, um den anderen Bericht zu erstatten.
»Es liegt dort oben«, bestätigte sie Sjöbergs Theorie zu seiner großen Erleichterung. »Die Pforte ist mit einem Vorhängeschloss versehen, das sie im Augenblick gerade entfernen. Geradeaus ein Häuschen mit einer Treppe mit acht Stufen, die zur Tür hinaufführt. Das Schloss dort ist bereits aufgebrochen. Unmittelbar rechts hinter der Pforte ein Geräteschuppen, der ebenfalls mit einem Vorhängeschloss versehen ist, aber wir brechen die Tür auf, wenn wir hineingehen. Und es sind Leute dort, mindestens zwei Personen. In dem einen Gebäude mit Sicherheit, vielleicht auch in beiden. Es gibt reichlich Spuren im Schnee.«
Sjöberg nickte und teilte die anwesenden Polizisten in zwei Gruppen ein.
»Wir stürmen beide Häuser gleichzeitig. Ihr nehmt das Wohnhaus, wir den Schuppen. Keine unnötigen Schießereien. Höchste Priorität hat die Befreiung von Einar, damit er so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung kommt. Er ist wahrscheinlich sehr geschwächt. Absolute Funkstille. Es geht los.«
Plötzlich hörte es auf zu schneien, und kurz darauf riss die Wolkendecke auf, öffnete den Blick auf einen hellblauen Himmel und ließ ein paar Sonnenstrahlen durch. Sjöberg und Sandén gingen im Laufschritt voran, zwischen ihnen Hägglund. Sie erklärte, dass niemand auf dem Schotterweg gefahren sei, nachdem es zu schneien begonnen habe, aber dass sie die Spuren von zwei Personen gefunden hätten, die vor ihnen auf dem Weg unterwegs gewesen seien. Abgesehen davon war die gesamte Kleingartenkolonie zu dieser Jahreszeit wie ausgestorben.
Schweigend rückten sie vor. Sjöberg schaute ein paarmal über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass die anderen noch hinter ihm waren. Es war ein absurder Anblick: die Polizisten der Einsatzgruppe mit ihren Helmen und Visieren zwischen diesen idyllischen kleinen Hütten, die von weißen, schneebedeckten Zäunen und sorgfältig geschnittenen Hecken umgeben waren. Er wurde von einem Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen.
»Sind wir schon in der Nähe?«, fragte er Hägglund mit gedämpfter Stimme, ohne sich die Sorge anmerken zu lassen, die an ihm nagte.
»Es ist nicht mehr weit. Das Grundstück liegt dort vorne rechts. Gleich sind wir an der Hecke neben dem Geräteschuppen.«
Kurz darauf schlossen sie sich der Gruppe von Polizisten an, die bereits vor Ort war, und Sjöberg senkte das Tempo. Er schlich sich das letzte Stück an der Seitenwand des Schuppens entlang, um eine geeignete Lücke in der Hecke zu finden, durch die er auf das Grundstück sehen konnte.
Der ganze Besitz sah heruntergekommen aus. Um den Garten hatte sich seit Jahren niemand mehr gekümmert, die Pforte war morsch und hing nur noch an einem Scharnier. Auf dem kleinen Hof waren tatsächlich verschiedene Spuren zu sehen. Es befanden sich also mindestens zwei Personen hier, und das übertrieben kräftige Vorhängeschloss, das die Tür zum Geräteschuppen sicherte, deutete an, dass mindestens eine von ihnen sich darin befand. Die Tür zum Haupthaus schien in der Tat aufgebrochen worden zu sein, sodass es nicht schwierig würde, dort einzudringen. Was den Schuppen betraf, schien es leichter, die Tür aufzubrechen statt das eigentliche Schloss.
Sjöberg schlich zu seinen Leuten zurück.
»Den Spuren nach befindet sich Rydin im Haus«, erklärte er. »Und vermutlich ist er nicht allein. Die Tür ist aufgebrochen worden, sodass man sie wohl einfach nur aufreißen muss. Wahrscheinlich gibt es in dem Haus nicht mehr als einen Raum. Ich schätze, dass die Treppenstufen ziemlich knarren werden, wenn ihr hinaufsteigt, also muss es schnell gehen, wenn ihr erst einmal da seid. Einar befindet sich vermutlich im Schuppen, der von außen mit einem großen Vorhängeschloss verriegelt ist. Ich denke, dass wir hier ebenfalls versuchen sollten, die Tür einzuschlagen. Alle bitte mit gezogenen Waffen, und, wie schon gesagt, kein unnötiger Waffengebrauch. Vermutlich werden wir keinen einzigen Schuss abgeben müssen, wenn wir nicht zu früh entdeckt werden. Fragen?«
»Sollen wir hier warten oder uns ein Stück zurückziehen?«, fragte einer der Rettungssanitäter.
»Hier steht ihr gut, aber geht in Deckung, wenn es zu einem Schusswechsel kommt«, antwortete Sjöberg. »Wenn ihr gebraucht werdet, kriegt ihr Bescheid.«
Er schaute sich um, aber niemand schien etwas hinzuzufügen zu haben.
»Viel Glück. Wir starten jetzt.«
Jemand von den Einsatzkräften hatte die Pforte geöffnet, und die eine Gruppe bewegte sich nach links und baute sich vor dem Schuppen auf, einige schwer bewaffnete und mit Helmen geschützte Polizisten gingen an der Spitze, Sjöberg und Westman hielten sich im Hintergrund.
Die andere Gruppe lief mit leichten Schritten zu der Treppe an dem fast baufälligen, kleinen Haus hinüber. Hamad und Sandén, die sich ebenfalls hinter den Leuten der nationalen Einsatzgruppe hielten, drehten sich zu Sjöberg um und warteten auf ein Signal. Als Sjöberg erst seine Hand hob und dann die Luft wie mit einem Axthieb spaltete, wurde die kompakte Stille jäh unterbrochen, und sie stürmten mit gezogenen Pistolen und klopfenden Herzen die Treppe hinauf und fielen in den einzigen Raum des Hauses ein.
An einem Tisch an der Wand saß der gesuchte Mikael Rydin ruhig auf einem Küchenstuhl und hielt eine Videokamera in der Hand, mit der er etwas filmte, das Sandén zuerst gar nicht sah. Doch plötzlich gab jemand einen langen, herzzerreißenden Schrei von sich, auf den Hamad am schnellsten reagierte. Er lief in die Ecke schräg gegenüber von Rydin und warf sich auf die Knie. Dort saß der Junge, mit dem Sandén an der Rezeption der Polizeiwache gesprochen hatte, und betrachtete sie mit weit aufgerissenen Augen. Er gab keinen Laut von sich, obwohl ihm das Blut aus der Nase strömte. Neben ihm lag ein anderer Junge zusammengekrümmt auf dem Boden. Sandén glaubte zuerst, dass er bewusstlos war, bis ihm klar wurde, dass der Schrei von ihm stammte.
Ohne sichtbare Reaktion ließ Rydin seinen Blick über die Polizisten der Einsatzgruppe wandern, die bereit waren, ihn zu erschießen, wenn es nötig sein sollte. Dann klappte er das Display zurück und ließ es mit einem leisen Klick an der Kamera einrasten, bevor er das Gerät ausschaltete. Während sich Hamad um die verängstigten Jungen kümmerte, eilte Sandén nach draußen, um die Rettungssanitäter herbeizurufen. Erst danach nahm er den anscheinend völlig ungerührten Täter mehr oder weniger formell fest.
»Mikael Rydin, Sie sind festgenommen wegen einer verdammt großen Menge von Verbrechen«, sagte er mit einer lauteren Stimme, als es die Situation eigentlich erforderte, nachdem es Hamad gelungen war, den hysterisch schreienden Jungen zu beruhigen. »Legen Sie langsam die Kamera ab und Ihre Hände mit den Handflächen nach oben auf den Tisch. Wenn Sie Widerstand leisten, machen wir ohne zu zögern von der Schusswaffe Gebrauch.«
Mikael Rydin tat, was ihm gesagt wurde, und einer der Polizisten der Einsatzgruppe trat mit entschlossenen Schritten an den Tisch und legte ihm Handschellen an. Ein anderer stellte sich hinter ihm an die Wand, und gemeinsam zogen sie ihn auf die Beine und schoben ihn nach draußen und die Treppe hinunter. Sandén beschlagnahmte die Videokamera und steckte sie in seine Jackentasche.
Zur selben Zeit warfen sich auf Sjöbergs Signal zwei der Polizisten aus der nationalen Einsatzgruppe gegen die dünne Brettertür. Die Tür flog in den Schuppen hinein und die Polizisten hinterher, während die beiden Scharniere und das Vorhängeschloss im Türrahmen stecken blieben. Sjöberg hatte es eilig, in den Schuppen zu kommen, aber vor ihm standen ein paar breitschultrige Polizisten und versperrten ihm die Sicht.
»Du großer Gott«, hörte er einen von ihnen stöhnen, und er versuchte sich einen Weg zu bahnen, aber die Mauer aus Rücken wollte ihn nicht vorbeilassen.
Stattdessen schienen sie aus dem kleinen Schuppen zurückweichen zu wollen, und Sjöberg war gezwungen, ebenfalls ein paar Schritte zurückzutreten. Plötzlich schlug ihm ein widerwärtiger Gestank nach Urin und Exkrementen entgegen, und er hoffte, dass dies der einzige Grund für das Erschrecken des Polizisten ganz vorn gewesen war.
»Lasst mich durch«, brüllte Sjöberg mit einem Zorn in der Stimme, über dessen Ursache er sich selbst nicht ganz klar war.
Ein paar der Polizisten liefen hinein und blieben vor etwas stehen, das Sjöberg noch nicht sehen konnte. Mit Westman auf den Fersen betrat er den Schuppen, und seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Jemand schaltete die nackte Glühbirne unter der Decke ein. Auf dem Boden stand ein leerer Hundenapf, daneben lagen die Reste eines Seiles und einige Brocken alten, trockenen Brotes. Alles verteilt auf einer Fläche von ungefähr sechs Quadratmetern, die komplett mit menschlichen Exkrementen und Urin verschmiert war. An der hinteren Wand war ein kräftiges Seil befestigt worden, das über einen Balken unter dem Dach lief, und darunter auf dem Fußboden lag ein umgefallener kleiner Holzschemel. Darüber, die Schlinge um den Hals, hing der magere, schmutzige, blutige und fast bis zur Unkenntlichkeit zerschlagene Körper, der Einar Eriksson gewesen war.
Drei der Einsatzkräfte waren bereits dabei; ihn abzunehmen, als Sjöberg hereinkam. Nachdem sie den Körper vorsichtig auf den Boden gelegt hatten, hockte er sich neben Eriksson nieder und tastete mit zwei Fingern nach der Halsschlagader. Der Körper war ganz warm, aber er spürte keinen Puls.
»Sanitäter!«, schrie er in seiner Erregung so laut er konnte, und Westman lief nach draußen, um die Rettungskräfte in Empfang zu nehmen.
Instinktiv begann Sjöberg, Eriksson künstlich zu beatmen, aber sofort waren auch die Sanitäter da und übernahmen die Wiederbelebungsversuche. Sjöberg stand auf und trat ein paar Schritte zurück. Petra Westman stellte sich an seine Seite. Er zog sie an sich und legte einen Arm um sie, mehr um sich selbst Halt zu geben als ihretwegen. So standen sie minutenlang da und schauten den immer resignierter wirkenden Rettungskräften bei ihren hoffnungslosen Versuchen zu.
»Wie lange war er schon tot?«, fragte Sjöberg mit brechender Stimme, als sie schließlich aufgegeben hatten.
»Nicht lange. Ein paar Minuten, würde ich sagen«, antwortete einer der Rettungssanitäter.
»Es ist mein Fehler«, sagte Sjöberg. »Ich hätte euch nicht warten lassen sollen. Ihr hättet schon ohne mich reingehen sollen.«
»Conny, ohne dich hätten wir nicht einmal ...«
Sjöberg wollte Westmans Einwand nicht hören. Sein Körper fühlte sich schwer an. Die Trauer um seinen Kollegen, den er nie richtig kennengelernt hatte und von dem er sich jetzt wünschte, dass er viel mehr über ihn erfahren hätte, umklammerte sein Herz und presste es zusammen. Alles um ihn herum schien sich in Zeitlupe abzuspielen. Und plötzlich wandelte sich sein Gefühl der Ohnmacht in blanke Wut auf den Täter.
»Dieser Schweinehund!«, schrie er. »Haben sie ihn erwischt?«
»Sie führen ihn gerade zu den Autos«, antwortete einer der Einsatzkräfte, der seinen Helm mit dem Visier mittlerweile abgesetzt hatte und in der Hand hielt.
Er sah richtig menschlich aus, und Sjöberg bemerkte, dass die anderen Beamten das Gleiche getan hatten. Alle standen mit ihren Helmen in den Händen wie eine Art Ehrenformation da und betrachteten schweigend, wie die Sanitäter Erikssons sterbliche Überreste vorsichtig auf eine Bahre legten, eine Decke darüberzogen und ihn davontrugen.
Sjöberg spürte, wie Westman seinen Blick suchte, aber er vermochte ihn nicht zu erwidern, sondern folgte den Sanitätern aus dem Schuppen hinaus. In der Tür standen Sandén und Hamad, die ebenfalls traurige Zeugen der vergeblichen Wiederbelebungsversuche geworden waren, aber es gab nichts, was Sjöberg ihnen hätte sagen können. Schweigend und allein ging er zu den Autos zurück.
Johan Bråsjö saß in einem der Krankenwagen und wurde von einem Sanitäter versorgt, als Sandén zu ihm hineinkletterte und sich ihm gegenübersetzte.
»Gute Arbeit, Junge«, sagte er, ohne dabei größere Freude ausstrahlen zu können. »Aber du ahnst gar nicht, wie viel Glück ihr gehabt habt.«
»Glück?«, sagte Johan und schaute zu einem der Streifenwagen hinüber, in den ein paar Polizisten den mit Handschellen gefesselten Mann hineinbugsierten.
»Dieser Typ begnügt sich nicht damit, Leute zu treten. Wir haben einen Mann verloren. Es war kein Schwein, das da misshandelt wurde, sondern ein Polizist. Aber dieser Kerl wird seine Strafe bekommen, dank deiner Hilfe.«
»Aber ...«, sagte Johan, und Sandén sah, wie ihm Tränen in die Augen traten. »Ich hätte doch wissen müssen ... Ich hätte eine richtige Anzeige bei der Polizei machen müssen.«
»Ich hätte dir zuhören müssen, als du es erzählt hast. Was du getan hast, war absolut fantastisch. Du solltest einen Orden bekommen.«
Johan begann zu strahlen, offensichtlich ganz stolz über das Lob des Polizisten, und Sandén hoffte, dass die Schuld, die in diesem Fall wie eine Seuche von Person zu Person übertragen worden war, bei diesem Jungen keine Spuren hinterlassen würde.
»Jetzt dürft ihr nach Hause. Sie sagen, dass euch beiden nichts fehlt. Ich werde jemanden bitten, euch zu fahren.«
»Und Sie? Können Sie nicht mitkommen?«
»Ich muss zurück zur Polizeiwache und dafür sorgen, dass dieser Halunke hinter Schloss und Riegel kommt.«
Nachdem er sich bei den Spezialkräften bedankt hatte, ging Sjöberg zu seinen Kollegen hinüber, die mit den Händen in den Hosentaschen dastanden und auf ihn warteten. Weil er keine Worte fand, mit denen er das beschreiben konnte, was sie fühlten, ging er direkt zum Praktischen über.
»Petra und Jamal. Danke für euren Einsatz. Ihr könnt jetzt ins Wochenende gehen und euch zu Hause erholen.«
Beide sahen aus, als wollten sie etwas sagen, aber das Nicken, das er von Westman bekam, reichte Sjöberg als Antwort.
»Ich werde Mikael Rydin vernehmen. Wenn du dabei sein möchtest, Jens, von mir aus gerne. Ansonsten kannst du auch ins Wochenende gehen.«
»Natürlich komme ich mit«, sagte Sandén.
»Ich rufe Hadar an und erstatte ihm Bericht, dann spreche ich mit Kaj Zetterström wegen der Obduktion und mit Bella wegen der Untersuchung des Tatorts. Eure Berichte können bis Montag warten. Schönes Wochenende.«
Die Ansammlung von Menschen und Autos zerstreute sich. Erneut lag die Kleingartenkolonie im Tantolunden leer und verlassen da. Das Einzige, was noch an das Drama erinnerte, das sich ausgerechnet in dieser kleinen Idylle abgespielt hatte, waren die Spuren im Schnee, aber bald würden auch sie verschwunden sein. Die Sonne war nach ihrem späten Erscheinen bereits wieder hinter den kleinen Häuschen untergegangen, und die Dunkelheit senkte sich schnell über die Stadt.