Mittwochabend

Modesty Blaise – oder Blase, wie sie genannt wurde – kam ihm fröhlich, aber beherrscht an der Tür entgegen. Sie war eine zweijährige Silken Windhound und Jennys aktuelle Mitbewohnerin, und sie hatte der Hysterie im Rezeptions- und Hausmeisterkonglomerat der Hundeliebhaber einen extra Schub gegeben. Sie schnupperte neugierig an Hamad, während sie mit dem Schwanz wedelte, aber sie bellte weder noch sprang sie an ihm hoch. Stattdessen warf Jenny sich ihm um den Hals, was sich ein wenig zwiespältig anfühlte, bevor sie ihn in die Wohnung hineinzog.

Auf dem Küchentisch brannten Kerzen und er war festlich gedeckt, mit Tee und belegten Broten.

Hamad hatte sich vorgestellt, dass er innerhalb einer Viertelstunde den Rechner auf Vordermann bringen und danach wieder wegfahren würde, aber als er sah, wie viel Mühe sich Jenny gemacht hatte, wurde ihm klar, dass er seine Pläne ändern musste.

»Wie schön du das gemacht hast«, sagte er, während er in der Küchentür stand und sich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass der Körper auch ohne ein warmes Essen am Abend zurechtkam und dass die Müdigkeit eine Chimäre war, die nur mit dem Wetter und der Sonnenwende zu tun hatte. »Das sieht aber gut aus, ich bin ganz schön hungrig!«

Sie nahm ihn an die Hand und führte ihn die wenigen Schritte bis zu einem Stuhl, und es ging alles so schnell, dass er sich ihrem Griff gar nicht entwinden konnte, bevor sie ihn selbst schon wieder losließ. Er setzte sich, und Jenny ließ sich auf dem Stuhl neben ihm nieder.

»Setz dich doch gegenüber hin. Dann kann man sich besser unterhalten«, schlug er vor.

»Es spielt doch keine Rolle, wo man sitzt«, sagte Jenny und legte die Hand auf seinen Arm. »Reden kann man trotzdem.«

Er bemerkte, dass sie sich geschminkt hatte. Vielleicht tat sie das jeden Tag, aber jetzt sah man es jedenfalls deutlicher. Die Situation behagte ihm nicht. Er stand auf und ging auf die andere Seite des Tisches.

»Man kann sich besser unterhalten, wenn man einander richtig sehen kann«, wiederholte er und setzte sich ihr gegenüber.

Sie betrachtete ihn mit einem betrübten Gesichtsausdruck.

»Nicht, wenn man ein Stelldichein hat. Da sitzt man nebeneinander.«

»Nein, auch dann nicht«, verkündete Hamad. »Und das hier ist kein Stelldichein.«

»Nicht?«, fragte sie mit einer Verwunderung, die echt wirkte.

Die ganze Jenny war im Übrigen echt, wurde ihm bewusst. Das hier war kein verdammtes Rollenspiel. Das Beste, was er tun konnte, war natürlich, ihr gegenüber ebenfalls ehrlich zu sein.

»Nein, das ist es nicht. Ich bin nur hier, um dir mit deinem Computer zu helfen. Du lädst mich auf einen Tee ein, und das ist sehr nett von dir. Wir essen und unterhalten uns dabei, dann versuche ich deinen Computer zu reparieren, und dann fahre ich nach Hause. Okay?«

»Aber magst du mich denn nicht? Findest du nicht, dass ich süß bin?«

Jenny sah jetzt ein bisschen traurig aus, aber Hamad fühlte sich plötzlich ganz entspannt. Er hatte das Gefühl, dass er hier einen Beitrag leisten konnte. Etwas, das ihr Vater wahrscheinlich nie schaffen würde. Gerade, weil er ihr Vater war.

»Ich finde dich wirklich spitze, Jenny. Das weißt du. Und du bist unheimlich süß.«

Sie strahlte wieder. Hamad schenkte ihnen beiden Tee ein und fuhr fort:

»Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich mag. Dass du süß bist, ist nicht wichtig. Und es gibt andere Arten, jemanden zu mögen. Ich mag dich als Kumpel. Weil du nett bist. Und tüchtig. Und ein guter Kumpel. Ich bin nicht in dich verliebt und du nicht in mich.«

»Doch, das bin ich«, sagte Jenny und sah vollkommen aufrichtig aus.

»Das glaubst du nur. Vielleicht, weil du mich nett findest?«

»Mhm.«

Sie strich eine goldene Haarsträhne hinter das Ohr zurück und biss in ein halbes Roggenbrötchen mit Leberwurst und Gurke darauf.

»Es sind vielleicht nicht alle nett, aber darüber solltest du dir keine Gedanken machen. Auch zu mir sind nicht alle nett. Aber man verliebt sich nicht in jeden Menschen, der freundlich zu einem ist. Dann wäre man ja in jede Menge Leute verliebt und müsste ständig alle möglichen Leute küssen und umarmen«, erklärte Hamad mit einem Lachen.

Jenny lachte auch, aber er hatte seine Zweifel, ob sie wirklich verstand, was er meinte.

»Und ich möchte sehr gerne dein Freund sein«, fuhr er fort. »Du kannst zu mir kommen und mir erzählen, wenn jemand böse zu dir gewesen ist oder du dich verliebt hast, und wenn du einfach nur reden willst, dann werde ich dir helfen. Klingt das okay?«

Jenny nickte und schien zufrieden zu sein. Hamad fiel auch nichts mehr zu diesem Thema ein, also tranken sie ihren Tee, aßen ein paar Brote und unterhielten sich über andere Dinge.

»Was stimmt denn mit deinem Computer nicht?«, fragte Hamad, nachdem sie fertig gegessen hatten.

»Er ist so langsam.«

»Dann hast du wohl eine langsame Verbindung. Du meinst doch bestimmt, dass das Internet langsam ist?«

»Ja«, bestätigte Jenny.

»Wenn du Mails schickst oder solche Sachen?«

»Nein, das geht gut. Aber wenn ich mir Filme angucke, dann bleiben sie immer wieder stehen. Ich will nicht immer so viel warten.«

»Okay. Wir können probieren, die neueste Version vom Adobe Flash Player zu installieren. Sonst fällt mir auch nichts ein.«

Sie standen vom Küchentisch auf und gingen in den kombinierten Wohn- und Schlafraum hinüber. Hamad setzte sich in den Sessel und schaltete das Notebook an, das auf dem Tisch stand. Jenny setzte sich neben ihm auf die Sessellehne und schaute zu, wie er Adobes Homepage aufrief und die neueste Programmversion herunterlud. Es ging durchaus zügig, mit der eigentlichen Breitbandverbindung schien es also keine Probleme zu geben.

»Was möchtest du sehen?«, fragte Hamad rhetorisch. »Wollen wir auf YouTube gehen?«

Ohne auf eine Antwort zu warten rief er die Seite auf und klickte auf das beliebteste Video des Tages: einen Ausschnitt aus einem Champions League-Spiel. Sie konnten das ganze Video sehen, ohne dass es zwischendurch hängen blieb.

»So schwer war das ja nicht!«, sagte Hamad, der sich selbst in keiner Weise für einen Computerspezialisten hielt, und wandte sich wieder Jenny zu.

»Lass mich mal sehen, ob es mit einem anderen Video auch funktioniert«, sagte sie und stand auf.

Auch Hamad erhob sich und machte ihr den Platz auf dem Sessel frei. Der Hauch eines wohlriechenden Parfums oder einer Seife streifte ihn, als sie sich bewegte. Sie klickte sich zu ihren Lesezeichen und wählte eines von ihnen aus. Während sie darauf wartete, dass die Seite erschien, drehte sie die Lautstärke auf, und Hamad beschloss, auf die Toilette zu gehen, bevor er sich auf den Weg machte. Aber er blieb gleich wieder stehen, als sich der Bildschirm plötzlich veränderte. Er wurde jetzt von einem Bild eingenommen, das ganz anders war, als er erwartet hatte. Mitten auf dem Bild prangte ein »Play«-Symbol, und bevor er reagieren konnte, hatte sie es angeklickt und der Film lief. Zu menschlichen Lauten und einem monotonen Geräusch, das an Musik erinnerte, vergnügte sich ein teilweise gepixelter, nackter Mann mit einem jungen Mädchen, das die Überschrift als »Lucy in the Sky« bezeichnete. In diesem Zeitalter der fast grenzenlosen öffentlichen Zurschaustellung wäre das allein nicht besonders aufsehenerregend gewesen. Wenn es sich bei dem Mädchen nicht um Jenny gehandelt hätte.

Hamad trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Warum hatte sie überhaupt einen solchen Film eingespielt? Warum hatte sie ihn ins Netz gestellt? Und warum zeigte sie ihn ihm? Die letzte Frage war am einfachsten zu beantworten. Sie hatte ganz offensichtlich kein Wort von dem begriffen, worüber sie sich eben noch unterhalten hatten. Großer Gott!

Er beugte sich über sie und stellte den Bildschirm aus. Dann drehte er die Lautstärke auf null. Anschließend ging er zum Bett hinüber und setzte sich mit einem Seufzer. Jenny schaute ihn aus großen, erwartungsvollen Augen an, aber er schüttelte nur den Kopf, wusste nicht, was er sagen sollte.

»Mochtest du ihn nicht?«, fragte sie verunsichert. Sie spürte vielleicht, dass etwas verkehrt war.

Er zögerte mit der Antwort, musste erst seine Gedanken sortieren, bevor er tief Luft holte und antwortete.

»Nein, Jenny, ich mochte ihn wirklich nicht. Ich fand ihn schrecklich.«

»Aber warum denn? Du hast doch gesagt, dass du mich süß findest.«

»Du bist süß, wie du jetzt bist, Jenny! Angezogen und ... Ich möchte dich nicht so sehen wie in diesem Film! Was glaubst du, würde dein Papa dazu sagen, wenn er das wüsste? Er würde vollkommen durchdrehen!«

»Aber du musst es ihm doch nicht erzählen ...?«

»Darum geht es nicht. Alle anderen, die dich kennen, würden auch ... Warum hast du das getan, Jenny? Warum hast du diesen Film ins Internet gestellt? Willst du etwa, dass ein Haufen perverser Säcke vor dem Computer sitzt und ...? Ja ... Wenn sie sich das angucken, willst du das?«

Jenny sah beinahe ängstlich aus.

»Ich habe ihn nicht ins Internet gestellt, das war Pontus«, antwortete sie und sah aus, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu weinen.

»Welcher Pontus?«

»Pontus Örstedt. Mein Freund. Mit dem ich vorher zusammengewohnt habe.«

»Ist er nicht mehr dein Freund?«

»Nein, er ist ausgezogen.«

»Ja, das war bestimmt auch das Beste. Er hat dich ausgenutzt, Jenny. So etwas tut man nicht mit jemandem, den man mag.«

Hamad hatte sich ein wenig beruhigt, versuchte nüchtern zu denken.

»Aber das macht nichts ...«, versuchte Jenny einzuwerfen, bevor sie gleich wieder unterbrochen wurde.

»Natürlich macht das was. Du hast Glück gehabt, dass nur ich es entdeckt habe. Deine Mama würde Rotz und Wasser heulen, wenn sie das wüsste. Und dein Papa würde vielleicht wieder krank werden, das willst du doch nicht, oder?«

Er trug jetzt ziemlich dick auf, musste alles versuchen, um ihre Einstellung zu ändern.

»Und die Kollegen auf der Arbeit«, legte er nach, »was würden die wohl sagen? Sie würden hinter deinem Rücken lachen, Jenny, und du wärst ...«

»Aber das machen doch alle!«

Jenny sah verletzt aus, als fühlte sie sich ungerecht behandelt.

»Nein, das machen nicht alle. Niemand, den ich kenne, spreizt auf diese Weise im Internet die Beine. Das sind nur ...«

»Doch«, sagte Jenny.

»Nein«, sagte Hamad.

»Ich zeige es dir«, sagte Jenny.

»Tu das nicht, ich will es gar nicht wissen.«

»Aber du willst mir ja nicht glauben! Ich muss es dir zeigen dürfen ...«

Sie streckte die Hand nach dem Rechner aus und schaltete den Bildschirm wieder ein. Ging in ihre Lesezeichen und klickte auf einen anderen Film. Hamad ließ sie machen, er würde diesen Abend damit verbringen, dieses fehlgeleitete Kind zur Vernunft zu bringen. Immer und immer wieder dasselbe zu sagen, bis es saß.

Der Film lief; noch ein unprofessioneller Amateurporno vom Typ »Älterer Mann ohne erkennbares Gesicht fickt junges Mädchen«.

»Ich will davon nichts mehr sehen, Jenny. Es interessiert mich nicht. Schalt es aus.«

»Aber siehst du denn nicht, wer das ist?«

Ein erwartungsvolles Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.

»Nein, ich sehe nichts. Und ich will es auch nicht wissen. Schalt es aus.«

»Aber schau doch genau hin. Du wirst doch wohl erkennen, wer das ist?«

Die intime Szene kam näher, die Kamera zoomte das Mädchen heran, das mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund mit großer Energie von hinten bearbeitet wurde. Sie schien nicht zu reagieren, ein Stück Fleisch, das im Takt mit den Bewegungen des Mannes hin und her schaukelte. Sie war nicht richtig anwesend, schien high, bewusstlos oder einfach nur gleichgültig. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Groschen fiel und Hamad erkannte, wer die Hauptperson dieses Films war. Auf wen der Titel »Bad cop, good cop« gemünzt war. Und es tat weh. Er fühlte sich dem Weinen nahe.

»Schalt es aus«, sagte er, diesmal unmissverständlich und mit deutlich größerer Autorität.

Jenny gehorchte, schaute ihn jedoch vorwurfsvoll an.

»Da siehst du. Das bin nicht nur ich.«

Er schüttelte traurig den Kopf, verstand gar nichts mehr. Was war passiert? Was sollte er tun?

»Wo hast du diesen Film gefunden?«, fragte er.

»Der liegt an derselben Stelle. Auf Pontus’ Homepage.«

»Amator6.nu? Das ist Pontus’ Homepage?«

Jenny nickte.

»Und wie zum Teufel ist Petra dort gelandet?«

Sie zuckte mit den Schultern, hatte keine Ahnung.

»Ich muss mit ihm sprechen. Sieh zu, dass er diese Filme von der Seite nimmt. Wo wohnt er denn?«, wollte Hamad wissen, der mittlerweile wieder klar zu denken begann.

»Ich weiß nicht. Wir haben keinen Kontakt mehr.«

»Wie war noch sein Nachname, sagtest du? Hieß er Örstedt? Du musst es mir aufschreiben.«

Jenny tat, was er ihr aufgetragen hatte, während Hamad einen USB-Stick aus dem Münzfach seiner Brieftasche holte und die beiden Filme darauf kopierte, ohne genau zu wissen, was er damit anfangen sollte.

»Wir reden mit niemandem über diese Sache, Jenny. Bald werden diese Filme verschwunden sein, und ich möchte nicht, dass du irgendjemandem von ihnen erzählst. Ist das okay?«

Jenny nickte verständnislos.

»Petra wäre sehr traurig, wenn sie davon erfahren würde. Und deine Eltern würden zusammenbrechen, das kann ich dir versprechen.«

»Warum kümmerst du dich so um Petra?«, fragte Jenny. »Sie mag dich doch gar nicht.«

»Nein? Sie ist im Augenblick vielleicht ein bisschen böse auf mich, aber das geht bald vorüber.«

»Sie sagt, dass du Mädchen wie mich zum Frühstück isst.«

Hamad konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was da in Westmans Kopf vor sich ging.

»Aha, sagt sie das? Ich mag sie jedenfalls sehr. Und ich bin mir sicher, dass sie auf so einer Internetseite nicht gefunden werden möchte. Jetzt gehen wir zurück in die Küche. Dann werde ich dir erklären, was ich damit meine.«

Ein paar Stunden später verließ er Jenny und Blase in der großen Hoffnung, dass er dieses Mal tatsächlich zu ihr durchgekommen war. Eine gute Tat, der leider noch eine weitere folgen musste.