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Die Ideen gingen ihnen allmählich aus, und mit seinem ganz neuen Bild von Einar Eriksson wuchs in Sandén ein bisher unbekanntes Gefühl der Loyalität gegenüber seinem Kollegen heran. Es sorgte für Adrenalinschübe, die ihrerseits in beherzter Entschlossenheit mündeten. Und die war ansteckend. Auch Westman und Hamad hatten sich schließlich von Sjöbergs Argumenten überzeugen lassen.

In Sjöbergs Abwesenheit übernahm Sandén das Kommando, und er war ein Mann der Extreme. Sjöberg hatte zwar unmissverständlich angeordnet, dass Mikael Rydins Wohnung unangetastet zu bleiben hatte, aber das war am Vormittag gewesen. Während ihres letzten Gesprächs hatte er deutlich gemacht, dass es das Wichtigste war, ihn zu finden, und zwar so schnell wie möglich. Im Einvernehmen mit den beiden Assistenten beschloss Sandén, dass sie sich trotz allem in dem Wohnheimzimmer umsehen sollten.

Westman blieb auf der Wache zurück und suchte weiter nach Personen, die irgendetwas über Rydins Aufenthaltsort wissen konnten. Sandén und Hamad machten sich ein weiteres Mal auf den Weg zu dem Studentenwohnheim an der Öregrundsgatan in Gärdet. Es stellte sich heraus, dass Rydin eher eine kleine Wohnung als ein Zimmer bewohnte. Sie war etwa fünfundzwanzig Quadratmeter groß und verfügte über ein Badezimmer und eine Kochnische. Dass jede Wohnung eine eigene Küche besaß, erleichterte es den beiden Polizisten, sich unbemerkt Einlass zu verschaffen. Im Augenblick hielt sich niemand im Korridor auf, und Sandén hatte Rydins Schloss mit seinem Pickset in weniger als einer halben Minute geöffnet.

Das Badezimmer war einfach ausgestattet: Dusche, Toilette, Waschbecken und ein Schrank, der eine Grundausstattung an Körperpflegemitteln enthielt. Es war einigermaßen sauber, ebenso die Küche. Auch hier nicht mehr als das Nötigste: ein Stuhl, ein Tisch und eine robuste Topfpflanze im Fenster, die wie eine Art Palmfarn aussah. Das Aufsehenerregendste waren ein Poster der schwedischen Fußballnationalmannschaft aus dem Jahr 1994 an der Wand sowie eine ehemalige Familienpackung Eis auf dem Tisch, in der jetzt Pillengläser und Tablettenblister aufbewahrt wurden. Vitamine und andere gesunde Sachen, behaupteten die Etiketten.

In dem einzigen Zimmer teilten sich ein Bett und ein Schreibtisch den Platz mit einem Bücherregal und diverser Unterhaltungselektronik. Mikael Rydin hatte sich einen Flachbildfernseher, einen DVD-Spieler und eine Stereoanlage mit einem Paar ziemlich teuer aussehender Lautsprecher geleistet, aber dergleichen schien heutzutage ja schon zu den menschlichen Grundrechten zu gehören. Hamad setzte sich an den Schreibtisch und schaltete Rydins Notebook ein, während Sandén alles durchging, was an CDs, DVDs und Büchern in dem Regal zu finden war, ohne dabei etwas Interessantes zu finden. Es sei denn, man glaubte daran, dass Rapmusik, Gewaltfilme und Actionthriller automatisch zu Gewalttaten führten. Oder juristische Fachliteratur. In der Ecke am Fußende des Bettes stand eine Gitarre, und an der Wand hing ein altes KISS-Poster, das allem Anschein nach aus dem Kinderzimmer in Arboga mit hierher gezogen war.

Auf dem Computer fand Hamad das eine oder andere Dokument, aber es handelte sich ausschließlich um studienbezogene Texte älteren Datums. Er klickte sich durch verschiedene E-Mail-Ordner – Eingangskorb, Gespeichert, Versendet und Mülleimer –, ohne etwas Auffälliges zu finden. Der Browserhistorie nach hatte sich Rydin in erster Linie für die Seiten der Boulevardzeitungen interessiert, darüber hinaus noch für diverse Sportportale, die sich hauptsächlich mit Kampf- und Kraftsportarten beschäftigten. Auch die Google-Historie wies in diese Richtung. Fotografie schien zwar kein besonderes Interesse von ihm zu sein, doch er hatte immerhin ein paar Hundert Bilder auf seinem Rechner gespeichert, und Hamad betrachtete jedes einzelne von ihnen in der Hoffnung, dass es ihm irgendeinen Hinweis gab.

Sandén hatte sich bis zum Bett vorgearbeitet und stolperte fast über ein paar Hanteln, als er das Handy entdeckte, das vor dem Bett auf dem Boden lag und den Akku auflud. Das konnte bedeuten, dass Rydin sich in der Nähe befand und jederzeit auftauchen konnte, was sie in eine schwierige Situation brachte. Auf der anderen Seite konnte es bedeuten, dass er den Akku kontrolliert hatte, als er die Wohnung verlassen wollte, und das Telefon zum Laden zurückgelassen hatte. Sandén entschied sich, von der zweiten Annahme auszugehen, und als er das Telefon aufhob, sah er, dass es eingeschaltet war. Er ging die Listen der einkommenden, ausgehenden und unbeantworteten Anrufe durch und schrieb sich sorgfältig jede einzelne Nummer auf. Dasselbe machte er mit den SMS. Dann ging er Rydins Adressbuch durch, das nicht besonders umfangreich war, ohne auf etwas Auffälliges zu stoßen. Den Terminkalender benutzte er nicht, und irgendwelche Aufzeichnungen hatte er auf dem Handy auch nicht gespeichert. Allerdings schien er die Kamera hin und wieder zu benutzen, denn er fand etwa ein Dutzend Fotografien auf dem Handy.

Sandén warf einen Blick zu Hamad am Computer hinüber und stellte fest, dass auch er sich mit Fotografien befasste.

»Findest du etwas?«, fragte Sandén.

»Ich glaube nicht. Er macht nicht so viele Fotos. Ein paar Ibiza-Bilder aus dem letzten Sommer sind noch das Interessanteste. Weihnachten zu Hause bei Mama. Saufgelage mit den Trainingskameraden.«

»Das hässliche Entlein, weißt du, was das sein könnte?«, fragte Sandén.

»Ein Märchen von H. C. Andersen. Bist du noch nicht fertig mit dem Bücherregal?«

»Es klingt wie ein Kindergarten oder so etwas«, bemerkte Sandén nachdenklich.

»Ein Café vielleicht«, sagte Hamad. »Ich meine, jemand hat vor Kurzem noch davon gesprochen.«

»Du hast es also schon mal gehört?«

»Nein, das wäre zu viel gesagt. Es war eher im Vorübergehen, dass ich es mitbekommen habe.«

»Von wem?«

»Weiß ich nicht mehr. Jemand auf der Arbeit, glaube ich. Warum? Was machst du gerade?«

»Ich habe auf dem Handy ein Foto von einem Schild gefunden, auf dem dieser Text steht.«

»Lass mal sehen.«

Sandén gab ihm das Telefon.

»Es hängt an einer Gartenpforte«, dachte Hamad laut. »Es könnte tatsächlich ein Biergarten sein.«

Er blätterte weiter in den Fotos.

»Türen. Fenster. Diese Bilder könnte er als Gedächtnisstützen aufgenommen haben, als er die Entführung geplant hat. Um die Sicherheit zu verbessern. Das heißt, die Schlösser.«

Plötzlich stieg die Temperatur im Zimmer, sie spürten es beide. Ein Strohhalm. Aber vielleicht waren sie auf eine Spur gestoßen.

»Bist du mit dem Computer fertig?«, fragte Sandén.

»So gut wie.«

»Lass uns gehen. Sorg dafür, dass alles so aussieht wie vorher, dann machen wir uns auf die Socken. Wir müssen Petra anrufen.«

Hamad fuhr den Rechner herunter, Sandén legte das Telefon zurück auf den Fußboden, ging eine Runde durch die Wohnung, kontrollierte, dass alle Lichter ausgeschaltet waren und lauschte, ob aus dem Korridor Geräusche hereindrangen. Es war still. Vorsichtig öffneten sie die Tür und schlichen hinaus.

Sobald sie unten auf der Straße waren, rief Hamad Westman an und bat sie, im Internet nach dem hässlichen Entlein zu suchen. Eine Aufgabe, die, wie sie einsehen mussten, dadurch erschwert wurde, dass sie bei der ersten Suche, während sie noch am Telefon war, über vierzigtausend Treffer erhielt. Sie nannten ihr ihre Kindergarten- beziehungsweise Biergartenideen und gingen dann dazu über, ihr die Liste mit den Telefonnummern zuzusimsen. Einar Erikssons Abwesenheit war wieder mal greifbar, auf mehr als eine Weise.

»Man vermisst die Kuh erst, wenn der Stall leer ist«, fasste Sandén die Situation zusammen.