Freitagabend

Nachdem sie sich gemeinsam Mikael Rydins widerwärtigen Film auf dem Fernseher im Besprechungsraum angeschaut hatten, blieben Sjöberg und Sandén noch lange sitzen und starrten auf den flimmernden Bildschirm. Keiner von ihnen wusste, wie er das Gespräch eröffnen sollte. Schließlich stand Sandén auf und schaltete das Gerät aus.

»Der Film ist Beweismaterial«, sagte er dann. »Er muss archiviert werden.«

»Was, glaubst du, hätte Einar davon gehalten, dass wir ihn uns angeschaut haben?«

Die Frage war eher an ihn selbst gerichtet, aber er wusste nicht, was er glauben sollte. Sandén antwortete nicht sofort, sondern setzte sich erst einmal wieder.

»Ich fand es schön, Einar als die Person sehen zu dürfen, die er eigentlich war«, antwortete er schließlich nachdenklich. »Und damit meine ich nicht die Erniedrigungen oder die Umstände, unter denen er gefilmt wurde, sondern den Menschen dahinter. Und hinter all der Verbitterung, die das Einzige war, was wir von ihm hier auf der Arbeit zu sehen bekommen haben. Wir haben Erklärungen für das eine oder andere bekommen, aber vor allen Dingen ist er plötzlich zu einem richtigen Menschen geworden, mit Erinnerungen und Träumen und Gefühlen. Obwohl er sich selbst während dieses ... Prozesses, wenn man es so nennen kann, so oft in negativen Wendungen beschrieben hat, glaube ich doch, dass er ein ... ganz fantastischer Mensch gewesen ist. Verdammt, ich hätte mich für so viel idiotischen Mist bei ihm zu entschuldigen!«

Seine Stimme brach, und zum ersten Mal in ihrer gemeinsamen Zeit sah Sjöberg Sandén weinen. Er selbst hatte schon während des ganzen, fast eine Stunde langen Films das Taschentuch benutzen müssen.

»Wenn ich euch nicht gebeten hätte, auf mich zu warten, wärt ihr rechtzeitig dagewesen«, sagte Sjöberg.

»Das werden wir niemals herausfinden«, antwortete Sandén. »Es hätte die Sache auch zu keinem besseren Ende gebracht. Er wollte nicht mehr unter uns bleiben. Was passiert ist, war richtig. Wofür hätte Einar noch leben sollen?«

»So darf man nicht denken«, widersetzte sich Sjöberg. »Er war ausgetrocknet. Physisch und psychisch gebrochen. Wie wollen wir wissen, wie er sich in ein paar Monaten gefühlt hätte? Mit der richtigen Behandlung. Und mit der Unterstützung seiner Mitmenschen. Zum Beispiel von uns.«

»Aber hast du nicht gesehen, welche Freude in seinem Gesicht lag? Obwohl er halb kaputtgetreten war, hat er seine Geschichte mit einer Inspiration, mit einer Motivation erzählt, wie ich sie noch nie bei Einar gesehen habe. Er schien ... glücklich zu sein. Und ich habe selbst oft genug gesehen und gehört, dass man dann glücklich wird, wenn man einen Entschluss gefasst hat. Er hatte sich bereits entschieden, Conny. Wir hätten nichts mehr tun können, um ihn daran zu hindern. Und um auf deine Frage zu antworten: Ja, ich glaube, dass Einar wusste und wollte, dass wir uns diesen Film ansehen. Es war sein Abschiedsbrief. Außerdem liefert er so viele Beweise und Motive, dass der Prozess gegen Mikael Rydin ein Selbstläufer wird.«

»Und was glaubst du, wie lustig das Leben war, das dieser Mann bisher geführt hatte? Schon im Mutterleib ungewollt. Geboren als Ersatz für etwas Unersetzbares.«

»Die meisten von uns würden deswegen nicht links und rechts des Weges unschuldig hingerichtete Menschen hinterlassen«, bemerkte Sandén zugespitzt.

»Lass uns hören, was er zu sagen hat«, sagte Sjöberg und stand auf.

Mikael Rydin sah vor allem müde aus. Die Maske der Selbstbeherrschung, die er während seiner Festnahme getragen hatte, war verschwunden. Trotz einer imponierenden Muskelmasse sah er klein aus, als er während der Vernehmung einsam und mit Handschellen auf der anderen Seite des Tisches saß. Die beiden Polizisten betrachteten ihn schweigend, bis Sjöberg nach einer Weile das Wort ergriff.

»Mikael Rydin.«

Müde begegnete Rydin seinem Blick. Vermutlich hatte das Rohypnol aufgehört zu wirken. Er schien sich nicht mehr für unbesiegbar zu halten.

»Sohn von Ingegärd Rydin und Christer Larsson.«

Rydin war wie vom Blitz getroffen. Sandén konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Das hat Mama nie erzählt?«, fragte er mit sanfter Stimme.

Mikael Rydin starrte zwischen ihnen beiden hindurch, ohne zu antworten. Sjöberg übernahm wieder das Kommando.

»Ich habe Ingegärd Rydin heute Morgen noch getroffen. Sie hat bestätigt, was ich bereits wusste. Mit ein bisschen einfacher Mathematik konnte man sich ausrechnen, dass sie nicht mit irgendeinem fremden Mann ins Bett gehüpft ist, so kurz nachdem sie ihre beiden Kinder verloren hatte. Während der schweren Monate direkt nach dem Unfall werden sie wohl versucht haben, zusammenzuhalten, was aus nachvollziehbaren Gründen aber nicht funktioniert hat. Während dieser Zeit sind Sie gezeugt worden, Mikael.«

»Und jetzt haben Sie ihre kleinen Geschwister und deren Mutter abgeschlachtet«, fuhr Sandén fort. »Und denjenigen, der sie versorgte und ihnen zu einem guten Leben in diesem Land verhalf, haben Sie misshandelt, bis er fast tot war, und so am Ende in den Selbstmord getrieben. Ihren eigenen Vater haben Sie ins Krankenhaus gebracht, möglicherweise mit irreparablen Gehirnschäden.«

»Ich wollte nur meine Brüder rächen. Wegen Mama. Von all dem anderen weiß ich nichts.«

Verschwunden war die ganze Wut, die diesen jungen Mann angetrieben haben musste. Erschrocken schaute er Sandén an und zog nervös an seinen Fingern, bis sie knackten.

»Glauben Sie, dass Einar und seine Frau Ihre Brüder absichtlich haben sterben lassen?«, fragte Sjöberg, ohne eine Antwort zu erwarten. »Es war ein Unfall. Es war nicht einmal Fahrlässigkeit, es war schlicht und ergreifend Pech. Und wissen Sie, wer mit der Katastrophe in Arboga am besten zurechtgekommen ist? Ihre Mutter. Sie ist die Einzige, der es gelang, ein Leben ohne Schuldgefühle und ernste psychische Störungen zu führen. Etwas, das Sie, Mikael Rydin, niemals erleben werden. Denn das, was Sie getan haben, haben Sie mit der Absicht getan, zu töten und zu verletzen. Das ist eine vollkommen andere Sache. Wie zornig und verbittert man auch sein mag und wie groß die Rache auch ist, die man fordert, so kann man das Vergangene doch nicht ungeschehen machen. Und die Schuld schüttelt man nicht einfach ab wie ein lästiges Insekt.«

»Ich hatte doch keine Ahnung ...«

»Man darf bei der Recherche nicht schlampen, Mikael«, sagte Sandén herablassend. »Das ist das A und O. Aber Sie haben eine gute Hand für Jagdmesser, das muss ich schon sagen. Wo ist es denn?«

»In der Hütte«, antwortete er.

»Im Tantolunden?«

Er antwortete mit einem resignierten Nicken.

»Sie haben da ja einen sehr netten Film gedreht«, bohrte Sandén weiter. »Wenn Sie aus dem Gefängnis kommen, so in zwanzig Jahren etwa, könnten Sie vielleicht diesen Weg einschlagen? Aber so viel ist klar – wenn Sie in die geschlossene Psychiatrie kommen, werden Sie nie wieder frei sein.«

Mikael Rydin schaute auf seine Hände und sagte nichts.

Sjöberg spürte plötzlich, dass sie im Moment nichts mit diesem Mann zu besprechen hatten. Sie schikanierten ihn nur. Aus Rache für Eriksson und aus Rache für die Familie Larsson. Im Augenblick taten sie nichts anderes als sicherzustellen, dass Mikael Rydin diesen Raum nicht ohne Schuldgefühle verließ. Und mit einem Mal war er überzeugt davon, dass Einar ihn davor hätte bewahren wollen.

Dieser ganze Fall handelte von nichts anderem als von Schuld, uralter Schuld, und darum drehte sich auch in Sjöbergs Leben gerade sehr viel. Aber Einar, der den längsten Teil seines Lebens mit einer Schuld gelebt hatte, die keine Grenzen kannte, hätte nicht einmal seinem ärgsten Feinde gewünscht, dasselbe durchmachen zu müssen. Mit einer heftigen Bewegung schob Sjöberg den Stuhl zurück und stand auf. Sandén betrachtete ihn verwundert, aber als er sah, wie entschlossen sein Vorgesetzter handelte, schien es ihm am besten, dasselbe zu tun.

»Wir brechen hier ab«, sagte Sjöberg und war bereits auf dem Weg zur Tür.

Sandén folgte ihm gehorsam, ohne die Gründe richtig zu verstehen. Kurz bevor sie den Raum verließen, hörten sie hinter sich plötzlich Mikael Rydins Stimme.

»Verzeihung«, sagte er leise, aber Sandén war nicht in der richtigen Stimmung dafür.

»Es gibt bald niemanden mehr, der Ihnen verzeihen kann«, antwortete er kalt. »Sie haben sie alle umgebracht. Ihre Mutter hat nicht mehr lange zu leben, und Ihr Vater ... Unwahrscheinlich, dass er wieder gesund wird. Und wenn er gesund wird, dann wird er bestimmt nicht so scharf darauf sein, sich mit Ihnen abzugeben. Aber arbeiten Sie daran, junger Mann.«

Als er fertig war, hatte Sjöberg bereits das Ende des Korridors erreicht.