*

»Wer ist da?«, hörte Sjöberg Ingegärd Rydin aus der Wohnung rufen.

Er ging in die Hocke und versuchte sich durch den Briefschlitz Gehör zu verschaffen: »Conny Sjöberg, Hammarbypolizei. Wir haben gestern miteinander gesprochen. Darf ich

reinkommen?«

Unsicher, was sie darauf eigentlich geantwortet hatte, stand er auf und öffnete die Tür. Er sah sie im Sessel im Wohnzimmer sitzen, und sie winkte ihn herein.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er, obwohl er die Antwort lieber gar nicht hören wollte.

»Ich schaffe es nicht, aufzustehen und die Tür zu öffnen«, sagte sie durch den einen Mundwinkel, was Sjöberg als Antwort vollkommen reichte. Er hatte Mühe genug, den Gedanken an die, wie er sich vorstellte, schwärzlichen Lungenreste zu verdrängen, mit denen sie atmen musste.

Er gab ihr zur Begrüßung die Hand und setzte sich dann in denselben Sessel wie das letzte Mal. Sie atmete mühsam durch den Schlauch. Der Rauchgeruch in der Wohnung war kaum zu ignorieren.

»Sie haben einen Sohn«, begann Sjöberg. »Davon haben Sie gestern nichts gesagt.«

Sie ließ den Schlauch für einen Moment sinken und bedachte ihn mit einem erstaunten Lächeln.

»Es gab keinen Anlass, ihn zu erwähnen ...«

In diesem Punkt musste Sjöberg ihr recht geben. Als sie sich am gestrigen Tag unterhalten hatten, hatte er noch nichts von der gemeinsamen Vergangenheit der Familien Eriksson und Larsson gewusst. Folglich hatte er auch nicht erwähnt, dass Einar in den Fall verwickelt war. Und dass sie nach der Scheidung noch einen Sohn bekommen hatte, erschien deshalb auch nicht besonders relevant.

»Er ist dreißig Jahre alt«, sagte Sjöberg.

»Ja, bald. Er hat im April Geburtstag«, sagte Ingegärd Rydin, immer noch verständnislos.

»Er ist also zur Welt gekommen, kurz nachdem die Ehe zwischen Ihnen und Christer Larsson geschieden wurde. Wer ist sein Vater?«

»Das weiß ich nicht. Es war eine ziemlich turbulente Zeit. Nach der Scheidung und so ...«, fügte sie mit einem, so deutete es Sjöberg, leicht verlegenen Gesichtsausdruck hinzu.

»Nachdem wir uns gestern unterhalten haben, habe ich herausgefunden, was damals passiert ist«, sagte Sjöberg ernst.

Sie antwortete nicht, aber er konnte sehen, wie ihr magerer Körper sich anspannte. Vielleicht atmete sie auch ein bisschen heftiger durch das Mundstück. Sie betrachtete ihn misstrauisch, aber so gerne er es auch wollte, er konnte sie nicht verschonen.

»Es tut mir furchtbar leid, dass ich mit Ihnen darüber sprechen muss, aber es ist unvermeidlich. Ich kann verstehen, dass es ein schweres Thema für Sie ist, aber ich möchte wissen, wie die Zeit nach dem Unfall für Sie ausgesehen hat.«

Sie sagte eine Weile nichts, dachte vielleicht darüber nach, was sie erzählen sollte, was sie erzählen konnte. Sjöberg verfolgte die Verwandlung. Er sah, wie aus einem zerbrechlichen Wesen mit einem Sauerstoffschlauch im Mund eine Riesin wurde, die sich mit einem fast unnatürlich geraden Rücken gegen diese Bürde stemmte. Die Ingegärd Rydin, die durch ein dramatisches Unglück vor vielen Jahren ihre beiden Kinder verloren hatte, war eine starke Frau, die sich nicht zerbrechen lassen wollte. Sie war eine Person, die kein Mitleid brauchte und die alles Schreckliche eine Armlänge auf Abstand hielt. Sie war nicht wie Solveig oder Christer unter der Schuld und der Trauer zusammengebrochen, und sie hatte auch nicht wie Einar ständig gegen den Wind angekämpft. Ingegärd Rydin hatte ihren Schmerz ganz tief in ihrem Inneren eingekapselt und ihn danach nie wieder herausgelassen. Erinnerungen an das Unaussprechliche bekämpfte sie wie Schädlinge. Sjöberg hatte vor, eine Bresche in diese kompakte Verteidigungslinie zu schlagen.

»Sind Sie deshalb gekommen? Glauben Sie, dass die Morde etwas mit den Jungen zu tun haben?«, fragte sie skeptisch.

»Dieses Unglück ist ein neuer Umstand, den wir natürlich in unsere Ermittlungen mit einbeziehen müssen«, antwortete Sjöberg sachlich, kehrte aber hastig zu der Frage zurück, die ihn eigentlich interessierte. »Wie sah die Zeit nach dem Unglück aus?«, wiederholte er.

»Es war natürlich belastend«, sagte sie knapp. »Zu jener Zeit gab es keine Selbsthilfegruppen. Man musste allein mit seinen Problemen fertig werden.«

»Und wie haben Sie das gemacht?«

»Ich habe mich von Christer scheiden lassen«, antwortete sie mit einem schiefen Lächeln. »Wir konnten nicht mehr zusammen weitermachen nach dem, was passiert war. Es gab nichts mehr, was uns zusammenhielt. Er packte seine Sachen und zog nach Stockholm, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich bin hierher gezogen. In der alten Wohnung konnte ich nicht bleiben.«

»Geben Sie ihm die Schuld an dem Unglück?«, fragte Sjöberg geradeheraus.

Sie betrachtete ihn forschend, bevor sie antwortete.

»Damals habe ich es getan. Das muss ich zugeben. Ich bin eines Morgens aus dem Haus gegangen, und als der Arbeitstag zu Ende war ... hatte ich keine Familie mehr. Er hat die Jungen weggegeben. Zu irgendwelchen Menschen, die keine eigenen Kinder hatten. Er hätte sich um sie kümmern müssen. Das hat er aber nicht getan.«

»Und jetzt? Machen Sie ihm immer noch Vorwürfe?«

»Nein, jetzt wohl nicht mehr. Ich denke selten an ihn. Aber als Sie das da gesagt haben ...«

»Seine Depressionen, meinen Sie?«, fragte Sjöberg.

Sie nickte.

»Da hat er mir tatsächlich leidgetan. Es war ja nicht sein Fehler. Sie haben den Fehler gemacht.«

»Sie?«

Sjöberg wollte, dass sie ihre Namen aussprach, aber das hatte sie offensichtlich nicht vor.

»Eigentlich nur die Frau«, korrigierte sie sich. »Sie kannte die Jungen doch. Sie wusste, wie sie waren.«

»Aber Solveig hat doch die Schuld sofort auf sich genommen?«, hakte Sjöberg nach.

»Das bedeutet ja nicht, dass alles auch gleich vergeben wäre«, sagte Ingegärd Rydin und spannte ihre Lippen fest um das Mundstück. »Bestimmte Dinge kann man nicht verzeihen, so sehr man es auch möchte.«

»In ihrem Fall geht es ja in erster Linie auch nicht darum, dass Sie ihr verzeihen. Sie konnte sich selbst niemals vergeben. Wissen Sie, was mit ihr passiert ist?«

Ingegärd Rydin nickte und wandte das Gesicht zum Fenster.

»Und Einar, haben Sie irgendwann noch mal Kontakt zu ihm gehabt?«, fragte Sjöberg.

Sie richtete ihren Blick wieder auf ihn und antwortete, ohne den Schlauch aus dem Mund zu nehmen:

»Zu Anfang war er sehr hartnäckig, wollte uns nicht in Ruhe lassen. Bat uns um Vergebung und wollte uns auf jede mögliche Art und Weise Schadensersatz leisten. Aber wir wollten nichts von ihm wissen. Schließlich war unser Verlust mit Geld nicht aufzuwiegen. Am Ende gab er auf. Er hat nie wieder von sich hören lassen, seit ich von dort weggezogen bin.«

»Empfinden Sie immer noch Verbitterung ihm gegenüber?«, fragte Sjöberg, dem durchaus bewusst war, dass er sich jetzt auf dünnem Eis bewegte, aber sie antwortete ohne zu zögern:

»Sie hatten die Verantwortung für unsere Kinder, und sie haben sie schlecht wahrgenommen. Wie gesagt, gewisse Dinge lösen sich nicht in Luft auf, nur weil man um Verzeihung bittet.«

»Und Mikael?«, versuchte Sjöberg sie zu provozieren. »Ist er in diesem Geist der Unversöhnlichkeit erzogen worden?«

Ingegärd Rydin betrachtete ihn mit einem Blick, der beinahe erstaunt wirkte.

»Mikael ist aufgewachsen, ohne von diesen Menschen jemals etwas gehört zu haben. Er wusste nicht, was mit seinen Geschwistern passiert ist.«

Sie hatte diese Frage mit einem gewissen Stolz in der Stimme beantwortet. Sjöberg reagierte sofort auf die Vergangenheitsform.

»Wusste?«

»Ja, bis ich ihm von den Jungen und dem Unfall erzählt habe. Und das habe ich erst getan, als er erwachsen war.«

»Wann war das?«

»Vor ein paar Jahren. Drei oder vier vielleicht. Als ich krank geworden bin. Ich war der Meinung, dass er ein Recht darauf hat, seine Vergangenheit zu kennen. Ich werde das hier nicht überleben, wie Sie vielleicht schon verstanden haben.«

»Sie meinen, dass er erst dann erfahren hat, dass es die Jungen überhaupt gab?«

Sie nickte.

»Ich habe ihm Bilder von ihnen gezeigt. Ja, auch von uns allen zusammen. Ich selbst schaue sie mir niemals an, aber ich fand, dass es für ihn an der Zeit war, zu erfahren ... wie es war.«

»Haben Sie ihm auch erzählt, wer sein Vater ist?«, fragte Sjöberg mit einem Blick, von dem er hoffte, dass er durchdringend wirkte.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hielt dann aber inne, um ihn neugierig zu betrachten, bevor sie schließlich antwortete.

»Nein. Das kann noch ein bisschen warten. Ich möchte nichts Schlimmes anrichten, solange ich noch am Leben bin.«

»Sie wehren sich«, sagte Sjöberg verständnisvoll. »Möchten all diese alten Sachen nicht wieder zum Leben erwecken. Haben Sie Angst, dass Sie Christer wieder gegenübertreten müssen?«

Sie seufzte, und er beobachtete, wie sie in ihrem Sessel ein wenig zusammenschrumpfte.

»So ähnlich«, antwortete sie nur.

Es war ihm gelungen, durch die Mauer zu brechen. Sjöberg spürte, wie auch von ihm die Spannung abfiel, aber es gab noch mehr Fragen, die beantwortet werden mussten, bevor er die kranke Frau in Frieden lassen konnte.

»Wollen Sie mir von Mikael erzählen?«, fragte er vorsichtig. »Wie ist er als Person?«

»Er ist ein guter Junge. Hat nie Probleme gemacht. Rücksichtsvoll und anhänglich.«

»Anhänglich?«

Sjöberg fand, dass es wie die Beschreibung eines Hundes klang.

»Ja, freundlich und entgegenkommend. Hilfsbereit.«

Was hatte er erwartet? Sjöberg konnte den Finger nicht darauf legen, aber Ingegärd Rydins Beschreibung ihres Sohnes klang irgendwie unpersönlich. Er musste an Christer Larsson denken. Seine beiden Kinder mit Catherine Larsson hatten ebenfalls nie Probleme gemacht.

»Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig ist, eine emotionale Bindung zu einem neuen Kind aufzubauen, wenn man gerade zwei verloren hat«, wagte er zu bemerken.

»Ich war nie eine gute Mutter für Mikael«, gab Ingegärd Rydin ohne Umschweife zu. »Ich hätte ihn wegmachen lassen sollen, aber ... das hätte ja nicht besonders gut ausgesehen. Ich habe es nicht über mich gebracht. Er musste oft allein zurechtkommen, als er klein war. Aber er hat sich niemals unzufrieden gezeigt. Ganz im Gegenteil ... seine Fürsorge ist beinahe erstickend. Das klingt vielleicht hart, aber als alleinerziehende Mutter ... Manchmal muss man einfach mal in Ruhe gelassen werden.«

Sjöberg sprang ihr eilig bei. Er fand, dass diese arme Frau nicht noch eine weitere Last zu tragen brauchte.

»So fühlen sich alle Mütter manchmal. Und auch Väter, ich bin selbst einer«, sagte er mit einem freundlichen kleinen Lachen.

Dann setzte er schnell wieder eine andere Miene auf.

»Wie hat Mikael reagiert, als Sie ihm von dem Unfall erzählt haben?«

»Er war ganz aufgewühlt. Erst wollte er mir nicht glauben, als ich ihm von seinen zwei kleinen Brüdern erzählt habe. Seinen kleinen älteren Brüdern«, ergänzte sie mit einem traurigen Lächeln. »Dann war er meinetwegen sehr traurig, wollte mich trösten, aber so etwas mag ich gar nicht. Ich ertrage es nicht, wenn Leute Mitleid mit mir haben, nicht einmal, wenn es Mikael ist. Das hat er wohl gemerkt und mich stattdessen nach den Einzelheiten des Unfalls ausgefragt. Wie Sie wissen, spreche ich nicht gerne über diese Dinge, aber nun sollte es ein für alle Mal getan werden, also habe ich erzählt.«

»Und Fotografien gezeigt?«

»Und Fotografien gezeigt. Er wollte sich gerne ein unvoreingenommenes Bild von allen Beteiligten verschaffen.«

»Mit allen Beteiligten meinen Sie auch Einar und Solveig, nehme ich an?«

»Ja, er hat darauf bestanden.«

»Könnte ich mir die Fotos anschauen?«

»Sie liegen in der zweiten Schublade von oben.«

Sie zeigte auf das Bücherregal hinter ihm, und er stand auf und zog die Schublade heraus.

»Unter den Tischtüchern«, erklärte sie, bevor er fragen konnte.

Er fischte ein dickes Bündel Fotografien heraus, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde, setzte sich wieder in den Sessel und breitete die Fotos auf dem Couchtisch aus.

»Ist Mikael ein sportlicher Typ?«, fragte Sjöberg, während er die Fotos betrachtete.

»Ja, mittlerweile schon. Als er klein war, hat er sich nicht für Fußball und die Dinge interessiert, die die anderen Jungs gemacht haben, aber in den letzten Jahren hat er ziemlich hart trainiert.«

»Was trainiert er denn?«

»Er geht ins Fitnessstudio, glaube ich. Er hat ganz schön Muskeln bekommen. Mikael war immer ziemlich klein und schwach, aber in den letzten Jahren ist er zu einem großen und starken Mann geworden.«

»Haben Sie auch Fotos von ihm?«

»Es liegen ein paar Bilder in der Schublade hier im Couchtisch.«

Sjöberg schaute sich die Bilder genau an, und als er den ganzen Stapel durchhatte, schob er ihn über den Tisch, damit sie ihn erreichen konnte.

»Haben Sie Mikael alle diese Bilder gezeigt?«

Sie nickte, ohne Anstalten zu machen, nach den Fotografien zu greifen.

»Zeigen Sie mir die Bilder, auf denen Einar Eriksson zu sehen ist«, forderte er sie auf.

Widerwillig nahm sie die Fotos auf und begann sie auf den Knien durchzublättern. Nach ein paar Minuten war sie den ganzen Stapel durchgegangen.

»Sie sind nicht hier«, sagte sie verwundert. »Mikael muss sie genommen haben. Ein paar Fotos von den Jungen fehlen auch.«

Ihre Miene veränderte sich. Misstrauisch runzelte sie die Stirn, und Sjöberg glaubte, eine Spur von Besorgnis in ihren Augen zu sehen.

»Warum sind Sie eigentlich hier? Warum interessieren Sie sich so für Mikael?«

»Es gibt einen Umstand, von dem ich Ihnen noch nichts erzählt habe«, sagte Sjöberg. »Christers Frau und die Kinder sind nach der Trennung in eine Wohnung gezogen, die sie sich mit ihren eigenen Mitteln gar nicht hätten leisten können. Nach den Morden hat sich herausgestellt, dass Einar Eriksson diese Wohnung für sie gekauft hat.«

Ingegärd Rydin schaute ihn entsetzt an, und Sjöberg konnte beobachten, wie sie heftiger zu atmen begann. Er hoffte, dass er ihr Leben durch das, was er ihr jetzt erzählen musste, nicht noch mehr verkürzte.

»Zunächst sind wir davon ausgegangen, dass er und Catherine ein Verhältnis hatten, aber es hat sich herausgestellt, dass es sich ganz anders verhielt. Einar war Catherine durch Zufall begegnet, und als ihm aufging, wer sie war, oder besser gesagt, wer ihr Mann war, und als sie sich außerdem von diesem trennen wollte, beschloss er, ihnen zu helfen. Eine arme philippinische Frau mit zwei kleinen Kindern in einem unwirtlichen Vorort von Stockholm – Einar fand, dass Christers Frau und seine Kinder ein besseres Schicksal verdient hätten.«

»Aber Christer selbst – hat er nichts getan, um ihnen zu helfen?«, unterbrach ihn Ingegärd Rydin.

»Christer ist seelisch am Ende und leidet an Depressionen«, erklärte Sjöberg. »Er hat sich nach der Katastrophe mit Ihren Jungen nie wieder erholt. Es ist ihm nicht gelungen, mit Catherine das Familienleben zu leben, das er sich erhofft hatte, und er hat nie eine gefühlsmäßige Bindung zu den Kindern aufgebaut. Ich kann mir vorstellen, dass Einar, nachdem er es erfahren hat, die Chance seines Lebens sah, etwas für Christer zu tun. Und für seine Kinder. Auch wenn Christer es niemals erfahren durfte. Einar hat Catherine nie seinen wahren Namen offenbart, so wichtig war es für ihn, alte Gefühle nicht zu neuem Leben zu erwecken. Er wollte das Richtige tun. Jetzt ist er verschwunden.«

»Verschwunden? Was meinen Sie damit?«

»Zur selben Zeit, als Catherine und die Kinder ermordet wurden, ist Einar verschwunden. Ich glaube, dass der Täter ihn entweder entführt oder ebenfalls umgebracht hat. Wir müssen Kontakt zu Mikael bekommen.«

Ingegärd Rydin nahm plötzlich eine Verteidigungshaltung ein.

»Wie können Sie wissen, dass nicht Einar der Mörder ist?«

»Diese Möglichkeit gibt es natürlich«, sagte Sjöberg sachlich. »Aber vor dem Hintergrund dessen, was ich Ihnen gerade erzählt habe, finde ich diese Annahme nicht besonders glaubwürdig. Einar wollte Christer etwas Gutes tun. Seine Frau und seine Kinder brutal zu ermorden, passt schlecht zu dieser Linie.«

Sjöberg legte eine Pause ein, bevor er fortfuhr.

»Was Mikael betrifft, kann ich dagegen ein Motiv erkennen.«

Sie betrachtete ihn mit einer plötzlichen Kälte im Blick und nahm mit großer Beherrschung den Schlauch aus dem Mund, bevor sie antwortete.

»Mikael hat nichts damit zu tun. Er ist ein guter Mensch. Er ruft mich mehrere Male in der Woche an, hilft mir, wenn ich ihn brauche. Er würde alles für mich tun.«

»Vielleicht ist gerade das ja der Schlüssel zu dieser ganzen Geschichte«, sagte Sjöberg in einem ruhigen und freundlichen Tonfall. »Vielleicht wollte er sich für Sie rächen, seine Brüder rächen.«

»Indem er seine Geschwister und die Frau seines Vaters umbringt?«, stieß sie hervor, bevor sie hastig das Mundstück in den Mund zurückstopfte.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat er davon ja nichts gewusst«, sagte Sjöberg mit unerschütterlicher Ruhe. »Wenn Mikael diese Verbrechen begangen hat, dann muss er sie demnach ausschließlich als Rache an Einar betrachtet haben. An demjenigen, der den Tod seiner Geschwister verursacht und das Leben seiner Mutter zerstört hat. An demjenigen, der möglicherweise schuld daran ist, dass seine Kindheit nicht so glücklich war. Was wäre eine bessere Rache, als der Frau und den Kindern das Leben zu nehmen, mit denen Einar jetzt zusammenlebte?«

»So war es aber doch gar nicht.«

»Aber so hat es ausgesehen.«

»Die Rache hätte sich in diesem Fall ja gegen Einars Frau richten müssen.«

»Wie Sie Mikael bestimmt auch erzählt haben, hat Solveig ihre Strafe bereits bekommen. Ich bitte Sie, helfen Sie uns, Mikael zu finden. Im besten Fall können wir ihn von der Liste der Verdächtigen streichen. Andernfalls geht es um Leben und Tod von Einar Eriksson.«

Sjöberg machte sich keine Illusionen, dass diese Bitte bei Ingegärd Rydin auf fruchtbaren Boden fiel. Er beugte sich vor und zog die Schublade heraus, in der die nicht verbannten Fotografien aufbewahrt wurden, und nahm alle Bilder heraus. Es waren kaum mehr als eine Handvoll.

»Ich weiß ohnehin nicht, wo er steckt«, bemerkte sie scharf. »Wenn er nicht zu Hause ist, dann ist er wohl auf der Arbeit.«

»Am Freitag hat er frei«, sagte Sjöberg und legte zwei Fotografien auf den Tisch.

»Da trainiert er bestimmt, und ich habe keine Ahnung, wo.«

»Er sieht aus, als würde er eine ganze Menge trainieren«, stellte Sjöberg fest und verglich die Bilder miteinander, die er vor sich liegen hatte.

Das eine zeigte einen schmächtigen Jüngling mit einer ungepflegten, jugendlichen Frisur, während derselbe Mann auf dem anderen Bild sich sämtliche Haare abrasiert hatte und einen Oberkörper ganz anderen Kalibers mit sich herumtrug. Unter dem Ärmel des eng anliegenden T-Shirts schaute ein tätowiertes Ungeheuer heraus.

»Wie viele Jahre liegen zwischen diesen Bildern?«, fragte Sjöberg und hielt die Fotos hoch, damit sie nicht ihre Körperhaltung ändern musste.

»Das hier ist von Weihnachten«, sagte sie und deutete auf den tätowierten Athleten. »Das andere ist von meinem fünfzigsten Geburtstag vor drei Jahren.«

Sjöberg sah keinen Grund, Ingegärd Rydin mit Fragen nach den Nahrungsergänzungsmitteln ihres Sohnes zu behelligen, aber das Bild des ungewollten Sohns begann Konturen anzunehmen. Er steckte die beiden Fotografien zwischen die Seiten seines Notizblocks und erhob sich aus dem Sessel.

»Sie bekommen sie zurück«, sagte er und verließ sie schweren Gemüts und voller böser Vorahnungen.