Freitagvormittag

Und so stand Conny Sjöberg, bald fünfzig Jahre alt, seiner Großmutter zum ersten Mal Auge in Auge gegenüber. Er erkannte die hohen Wangenknochen und den schmalen, langen Nasenrücken sofort von seinem eigenen Spiegelbild wieder. Signe Sjöberg trug ein einfaches, aber elegantes Kleid und Gesundheitsschuhe mit Absätzen, als sie hocherhobenen Hauptes und mit geradem Rücken in ihrer Tür stand und ihn mit einem intensiv blauen Blick misstrauisch durch eine Stahlbrille musterte.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie Sjöberg, der vollkommen damit beschäftigt war, ihre Gesichtszüge zu studieren und bisher noch nichts gesagt hatte.

»Ich heiße Conny Sjöberg, und ich glaube, dass Sie ... dass du«, korrigierte er sich in dem Augenblick, als er von ihrer Verwandtschaft überzeugt war, »meine Großmutter bist.«

Sie starrte ihn an, ohne auch nur mit einer Miene zu verraten, was sie dachte.

»Darf ich reinkommen, dann können wir reden?«

Ihre Blicke musterten ihn von oben bis unten, und nachdem sie sein Äußeres anscheinend für gut befunden hatte, trat sie ein Stück zurück, um ihn in die Wohnung zu lassen. Sjöberg fühlte sich unbeholfen, als er wie ein schüchterner Schuljunge mit verschränkten Händen in ihrem kleinen Flur stand. Nachdem sie die Wohnungstür geschlossen hatte, wandte sie ihm den Rücken zu und ging mit ungewöhnlich raschen Schritten für ihr Alter ins Wohnzimmer hinüber. Einer der Stühle am Esstisch war bereits herausgezogen, und sie nahm darauf Platz. Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Zeitung und daneben ein Bleistift und ein Radiergummi. Sjöberg schloss daraus, dass er sie mitten aus dem täglichen Kreuzworträtsel herausgerissen hatte, was, wie er aus eigener Erfahrung wusste, ziemlich ärgerlich sein konnte. Vielleicht etwas Erbliches? Er zog einen Stuhl heraus und setzte sich ebenfalls.

Sie beobachtete seine Bewegungen mit unverhohlener Skepsis. Die Atmosphäre in der kleinen Wohnung war gesättigt von Widerwillen, und er war fest entschlossen herauszufinden, warum dies so war.

»Stimmt es, dass du meine Großmutter bist?«, eröffnete Sjöberg mit einem freundlichen Lächeln das Gespräch.

Sie zögerte ein wenig mit der Antwort und sagte dann knapp, in schärferem Tonfall, als er erwartet hatte:

»Das ist nicht ausgeschlossen.«

»Entschuldige bitte, aber du scheinst nicht besonders glücklich darüber zu sein, mich zu sehen«, bemerkte Sjöberg.

»Sollte ich das denn sein?«

Sjöberg lachte auf und spürte, dass er in eine Art psychisches Machtspiel hineingezogen wurde, dessen Hintergrund er nicht verstand. Er beschloss, einem möglichen Streit auszuweichen und mit offenen Karten zu spielen.

»Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass die Eltern meines Vaters gestorben sind, bevor ich geboren wurde. Gestern habe ich entdeckt, dass mein Großvater starb, als ich neun Jahre alt war, aber dass du immer noch lebst. Ich war, wie du dir vorstellen kannst, sehr überrascht von dieser Entdeckung, aber vor allem habe ich mich riesig darüber gefreut, plötzlich eine Großmutter bekommen zu haben. Ich habe nicht das Gefühl, dass du genau so froh bist, mir zu begegnen.«

Sie sagte nichts, sondern starrte ihn nur mit kalten Augen an. Im ersten Moment war er von ihrer vitalen Ausstrahlung und dem glasklaren Blick positiv überrascht gewesen. Nun aber wünschte er sich fast, sie wäre geistig nicht mehr ganz so sehr auf der Höhe, das hätte ihm das Gespräch wesentlich leichter gemacht.

»Könntest du mir erklären, warum das so ist?«

»Das kann dir deine Mutter erklären.«

Heißt es jetzt wir gegen sie?, dachte Sjöberg. Wie viel konnte er über seine Mutter erzählen, ohne sie preiszugeben?

»Sie ist nicht so gesprächig. Glaub mir, ich habe versucht, mich nach der einen oder anderen Sache zu erkundigen, aber sie entzieht sich jedem Gespräch über die Vergangenheit. Aber du sollst wissen, dass sie nie ein böses Wort über dich oder Großvater gesagt hat.«

»Das sollte sie auch nicht. Wir haben ihr nie etwas Böses getan«, antwortete seine Großmutter.

Ihre blauen Augen starrten ihn direkt an, und Sjöberg hatte große Schwierigkeiten, ihrem Blick standzuhalten.

»Aber du findest, dass sie dir etwas Schlimmes angetan hat? Euch? Dann würde ich gerne wissen, was es war.«

»Sie hat meinem Sohn das Leben genommen«, antwortete Signe Sjöberg mit fester Stimme.

Sjöberg wurde kalt ums Herz. Was sollte das bedeuten? Aber er behielt seinen sachlichen Ton bei, während er seiner Großmutter noch mehr zu entlocken versuchte, um die verlorenen Puzzleteile seines Lebens wiederzufinden.

»Kannst du das bitte näher erklären? Ich habe keine Ahnung, was du damit sagen willst.«

»Ich will gar nichts sagen. Du versuchst mich zu nötigen, über Dinge zu reden, die besser längst vergessen wären.«

»Die besser längst vergessen wären? Ich habe das Gefühl, dass du diejenige bist, die nicht vergessen will, Großmutter.«

Bei dem letzten Wort zuckte sie zusammen. Offensichtlich wusste sie diese Anrede nicht zu schätzen.

»Ich habe bisher gedacht, dass Papa krank geworden ist«, fuhr Sjöberg fort. »Ich erinnere mich, dass er lange im Krankenhaus lag, bevor er starb. Ich durfte ihn nie besuchen, also habe ich auch nie mitbekommen, welche Krankheit er eigentlich hatte.«

»Krankheit!«, rief sie aus. »Das war keine Krankheit, er hat mit schweren Verbrennungen monatelang auf der Intensivstation gelegen, bevor es vorbei war.«

»Verbrennungen?«, sagte Sjöberg mit einem Schaudern. »Bitte, erzähl mir doch, was passiert ist.«

»Das hätte deine Mutter tun sollen. Warum muss ich hier sitzen und all die alten Sachen wieder aufwühlen?«

»Weil ich dich bitte«, sagte Sjöberg und zeigte ihr seine offenen Handflächen, um zu signalisieren, dass er keine versteckten Absichten hatte. »Weil dein Sohn mein Vater ist. Weil ich das Recht habe, das alles zu wissen.«

»Du und deine Mutter, ihr habt eure Rechte verwirkt. Ich bin dir gar nichts schuldig.«

Nicht einen Augenblick ließ sie ihn aus den Augen. Signe Sjöberg schien eine starke Persönlichkeit zu sein, die man lieber auf seiner Seite als gegen sich hatte. Aber für Sjöberg war es leichter, mit dieser Art von Mensch umzugehen als mit der geduckten, ausweichenden Sorte, zu der seine Mutter gehörte. Er beschloss, an ihre Vernunft zu appellieren und sich gegen die stahlblauen, forschenden Augen zu wappnen.

»Ich war drei Jahre alt. Ich verstehe, dass ich Teil des Verbrechens gegen meinen Vater war, aber ich habe praktisch keine einzige Erinnerung aus dieser Zeit. Also fühle ich mich auch nicht schuldig. Ich habe das Gefühl, dass die Schuldfrage für dich sehr wichtig ist, darum bitte ich dich noch einmal: Erzähl mir, was passiert ist.«

Ihre Augen verrieten nicht, was sie dachte, aber Sjöberg bemerkte, wie sich ihre Lippen anspannten. Er wartete schweigend, bis sie schließlich zu reden begann.

»Das Haus hatte Feuer gefangen. Ihr habt alle zusammen im selben Zimmer geschlafen, aber sie ist aufgewacht und hat dich mit nach unten auf den Hof genommen. Nur dich. Christian ließ sie in den Flammen zurück. Den Leuten ist es später geglückt, ihn herauszuziehen, aber da war es schon zu spät. Er durfte noch ein paar Monate leben, aber was war das für ein Leben?«

Keine Tränen, sowohl der Blick als auch die Stimme waren fest, aber der ganze Raum war von Verbitterung erfüllt. Und all diese Verbitterung war gegen seine Mutter gerichtet. Und ganz offensichtlich auch gegen ihn selbst. Weil er das Glück gehabt hatte, einem Feuer zu entgehen, das ausbrach, als er drei Jahre alt war; weil seine Mutter erst ihren kleinen Sohn aus dem brennenden Haus gerettet hatte und nicht ihren Mann. Sjöberg spürte, wie sich ein Klumpen in seinem Hals bildete. Das war also das Schicksal seiner Mutter; nachdem sie ihren Mann und ihr Zuhause verloren hatte, war ihr noch die Schuld für diesen unersetzlichen Verlust gegeben worden und ihre Schwiegereltern hatten sie verstoßen.

Sjöberg überkam das dringende Bedürfnis, von hier zu verschwinden; er hielt es nicht mehr aus, vor diesem unmenschlichen Steingötzen einer Großmutter zu sitzen und sich ihre absurden Anklagen anzuhören. Äußerlich jedoch ließ er sich nichts anmerken, als er sich von seinem Stuhl erhob.

»Tut mir leid, was passiert ist«, sagte er. »Ich vermute, dass wir uns nicht wiedersehen. Pass auf dich auf, Großmutter.«

Sie schaute ihn mit einem undurchdringlichen Blick an, den er noch ein paar Sekunden erwiderte, bevor er sich ruhig umdrehte und ging.