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Zum zweiten Mal während seines Besuchs in Arboga betrat Sjöberg eine Empfangshalle und fragte nach den dienstältesten Beschäftigten. Der uniformierte Jüngling an der Rezeption beschrieb ihm den Weg zu einem Raum am Ende des Korridors in der dritten Etage.

Dieses Zimmer teilten sich die beiden Polizeiinspektoren Möller und Edin, beide bereits in den Sechzigern. Möller war ein großer, sehniger Typ, der einen ausgeprägten südschwedischen Dialekt sprach, während Edin eher durchschnittlich groß war, breite Schultern hatte und kein Haar mehr auf dem Kopf. Sjöberg stellte sich vor und wurde aufgefordert, in einem der beiden Besucherstühle Platz zu nehmen, die an der Wand neben der Tür standen. Möller bot ihm etwas zu trinken an und verschwand aus dem Zimmer, während Edin auf seinem Bürostuhl zu Sjöberg hinüberrollte. Sie wechselten ein paar Worte über die lärmenden Renovierungsarbeiten ein paar Zimmer weiter und den Wasserschaden, der sie nötig gemacht hatte. Als Möller eine Obstschale und ein paar Flaschen Mineralwasser auf den kleinen Tisch zwischen den Stühlen gestellt und selber Platz genommen hatte, trug Sjöberg sein Anliegen vor.

»Ich arbeite an einem Fall, bei dem eine Frau und ihre zwei Kinder mit durchgeschnittener Kehle in ihrer Wohnung aufgefunden worden sind. Ihr habt vielleicht davon gehört?«

Das hatten die beiden Polizeiinspektoren.

»In unseren Ermittlungen spielen zwei Männer eine Rolle, die ihre Wurzeln in Arboga haben, und ich bin hier, weil ich ihre Angehörigen befragt habe. Diese Befragungen haben aus verschiedenen Gründen nur wenig ergeben, aber einer der beiden Männer hat damals hier in der Stadt als Polizist gearbeitet, und da habe ich mir gedacht, dass ihr vielleicht etwas dazu sagen könnt. Ihr habt doch beide schon Anfang der Siebzigerjahre hier gearbeitet, oder?«

»Das ist richtig«, sagte Edin, und Möller nickte zustimmend.

»Steht er unter Mordverdacht?«, fragte Möller in seinem breiten Dialekt.

»Nein«, antwortete Sjöberg, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, »aber er spielt eine zentrale Rolle in diesem Fall, und jetzt ist er verschwunden.«

»Und der andere Mann, hat er sich auch in Luft aufgelöst?«, fragte Edin.

»Nein, aber er liegt im Krankenhaus und ist nicht in der Lage, uns zu helfen.«

»Wie heißt er denn, der Polizist?«, wollte Möller wissen.

»Er hat zwischen 1975 und 1980 hier gearbeitet und heißt Einar Eriksson.«

Die beiden Polizisten wechselten einen Blick, den Sjöberg nicht deuten konnte.

»Erinnert ihr euch an ihn?«

Edin beugte sich vor, und mit den Ellenbogen auf den Knien legte er die Hände vor den Mund und nickte ernst. Möller lehnte sich in seinem Stuhl zurück und holte tief Luft, bevor er antwortete.

»Wir kannten ihn sehr gut. Es war schrecklich, was damals passiert ist. Es hat Einar unglaublich mitgenommen.«

»Armer Teufel«, ergänzte Edin und schüttelte traurig den Kopf.

Sjöberg runzelte die Stirn. Gab es da etwas, das er eigentlich wissen sollte?

»Jetzt stehe ich ein bisschen auf dem Schlauch. Was ist denn mit Einar passiert?«, fragte er.

»Entschuldige, ich dachte, du wüsstest davon«, sagte Möller. »Ja, wo soll man anfangen?«

»Kurz gefasst ist Folgendes geschehen«, erklärte Edin. »Einar und seine Frau Solveig sollten auf die Kinder der Nachbarn aufpassen. Es waren zwei kleine Jungen, etwa drei und fünf Jahre alt. Die Kinder sollten am Arbeitsplatz der Mutter abgegeben werden – sie arbeitete in einem Friseursalon im Stadtzentrum. Auf dem Weg dorthin wollte Einar – der zunächst auch das Auto fuhr – noch etwas erledigen. Es dauerte ein bisschen länger, sodass Solveig das Steuer übernahm und zum Kiosk unten am Fluss fuhr, um den Jungen ein paar Süßigkeiten zu kaufen. Sie parkte den Wagen neben dem Kiosk, mit der Front zur Straße und dem Heck zum Wasser. Zu jener Zeit gab es dort am Fluss noch kein Geländer, und die Fläche war leicht abschüssig. Während sie einkaufte, begann das Auto zu rollen und ...«

Edin hielt inne und warf seinem Kollegen einen auffordernden Blick zu. Sjöberg hatte sämtliche Muskeln angespannt und wartete mit Schrecken auf die Fortsetzung, obwohl er das Ende bereits ahnte. Möller übernahm.

»Solveig lief zum Auto, um die Katastrophe noch zu verhindern. Aber das ist ihr nicht gelungen, und der Wagen fiel hinein. Ein Seitenfenster war heruntergedreht, sodass das Auto schnell volllief und zu Boden sank. Mit den Kindern. Sie warf sich ins Wasser und versuchte, die Türen aufzubekommen. Einar kam dazu und half. Und noch ein paar andere. Aber du weißt ja, wie schwierig es ist, wenn das Auto erst einmal unter Wasser ist. Und es war bestimmt kein Vergnügen, danach den armen Nachbarn in die Augen zu sehen. Ja, großer Gott, das war vielleicht eine Tragödie.«

Sjöberg war erschüttert. Dreißig Jahre lang hatte Einar diese Last getragen: die Erinnerungen, die Angst, die Schuldgefühle, die ein solches Ereignis mit sich bringen musste. Was für ein Joch.

»Wurde Solveig bestraft?«

Edin lachte auf, ein kurzes, klangloses Lachen.

»Sie hat ihre Strafe bekommen. Aber nicht im juristischen Sinne.«

Nicht im juristischen Sinne flatterte es durch Sjöbergs Hirn, aber der Gedanke blieb nicht hängen.

»Sie ist nie wieder sie selbst geworden«, fuhr Edin betrübt fort. »Die ersten Tage schrie sie, versuchte zu erklären, sich zu entschuldigen, Vergebung zu finden, sich selbst zu vergeben. Und dann verstummte sie. Zuerst war sie im Krankenhaus, ziemlich lange, glaube ich, aber dann brachte Einar sie in irgendeinem Heim unter. Drei Jahre lang wohnte er noch in der Stadt. Du kannst dir ja vorstellen, was für ein Leben er hier hatte. Es wurde getuschelt und geflüstert und mit Fingern gezeigt und bemitleidet. Und es hagelte natürlich Anklagen. Aber er hielt durch. Wegen Solveig.«

»Jeden Tag kam er zur Arbeit und tat, was er tun musste«, fuhr Möller mit Bewunderung in der Stimme fort. »Er war nicht mehr derselbe fröhliche Typ wie vorher, aber er war hier und er kämpfte. Jede freie Minute verbrachte er mit Solveig, erst im Krankenhaus und dann in diesem Heim. Es hat drei Jahre gedauert, bis er die Hoffnung aufgab und nach Stockholm zog.«

»Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben«, warf Sjöberg ein. »Er hat ein Reihenhaus gekauft, in dem er mit ihr wohnen wollte, wenn sie wieder gesund war. Und er besucht sie immer noch jeden Samstag. Zwölf Stunden lang sitzt er dann bei ihr, geht mit ihr spazieren und redet mit ihr. Ihren Geburtstag, Weihnachten und Neujahr verbringt er ebenfalls mit Solveig.«

»Einar ist also auch schon mehr als genug gestraft«, sagte Edin. »Und Solveig hat keinen Fehler gemacht. Der kleine Junge war autoverrückt. Und ungehorsam. Er löste die Handbremse, obwohl sie ihm verboten hatte, etwas im Auto zu berühren. Aber sie hätte die Jungen natürlich nicht allein lassen dürfen.«

»Sie hätte auch etwas klüger parken können«, lautete Möllers Kommentar. »Aber, verdammt noch mal, wir machen alle unsere kleinen Fehler. In den meisten Fällen geht es ja trotzdem gut aus. Nach dem Unglück haben sie ein Geländer am Flussufer aufgestellt, damit so etwas nie wieder passiert.«

Sjöberg warf einen Blick auf die Obstschale, hatte plötzlich aber keine Lust mehr, davon zu essen. Er war erschüttert von dem Schicksalsschlag, der Einar und seine Frau getroffen hatte. Erschüttert, aber auch voller Bewunderung für seinen Arbeitskollegen, der seine Solveig niemals verraten hatte.

»Du hast auch einen anderen Mann erwähnt«, sagte Edin. »Wie heißt er?«

»Christer Larsson«, antwortete Sjöberg.

Wieder sahen die beiden Polizeiinspektoren einander an, und Edins nächste Worte ließen Sjöberg in seinem Besucherstuhl zu Eis gefrieren.

»Christer Larsson war der Vater der beiden Jungen.«

Ihm schwirrte der Kopf. Er verfluchte seine Unfähigkeit und fragte sich, warum ihm diese Idee nicht selber gekommen war. Überwältigt von dieser neuen Information beendete er hastig die Befragung und bedankte sich bei den Kollegen.

»Ich muss meine Gedanken sortieren«, sagte er und überließ sie wieder ihrer Arbeit, ohne das Obst oder das Wasser auch nur angerührt zu haben.