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Westman saß natürlich schon in ihrem Büro, als Hamad gegen neun an ihrer Tür vorüberging. Er hatte das Gefühl, heute Morgen und im Laufe des vergangenen Abends genug Selbstvertrauen aufgebaut zu haben, um mit dem nötigen Gewicht in ihr Zimmer treten und sagen zu können, was er zu sagen hatte. Gleichzeitig verfluchte er sich selbst dafür, dass er es nicht schon früher getan hatte. Was allerdings schwierig gewesen wäre, denn er hatte ja nicht die geringste Ahnung gehabt, wo eigentlich das Problem lag. Und dennoch. Es war nie verkehrt, klar Schiff zu machen, wenn einem etwas an einer Freundschaft lag.
Er riss sich die Jacke herunter und warf sie auf den Schreibtisch, ging mit entschlossenen Schritten zu Westmans Büro hinüber und trat ein, ohne anzuklopfen. Sie schaute auf und betrachtete ihn mit einem ausdruckslosen Blick. Er zog die Tür hinter sich zu und setzte sich in den Besucherstuhl, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Lehnte sich zurück, legte die Arme auf die Lehnen und die Beine übereinander und schaute sie nachdenklich an. Sie sah vollkommen gleichgültig aus.
»Wir müssen reden«, sagte er.
»Aha.«
Verachtung.
»Ich wiederhole: Ich weiß, was du glaubst, aber du bist auf dem Holzweg. Deinetwegen und meinetwegen und auch wegen des Teams müssen wir dieses Problem lösen.«
»Wegen des Teams?«
»Die Direktorenmafia droht mit Zerschlagung, wenn wir es nicht schaffen, zusammenzuarbeiten.«
»Oh, da habe ich aber Angst. Bestimmt werde ich diejenige sein, die gehen muss.«
Ironie. Wie konnte sie nur so sicher sein, dass er in der Bredouille steckte und nicht sie selbst?
»Und du hast keinen blassen Schimmer, was ich glaube«, fügte sie hinzu.
Er wappnete sich, versuchte selbstsicher auszusehen, obwohl seine Hände zittern würden wie die eines alten Alkoholikers, wenn er es wagen würde, den Griff um die Armlehnen zu lockern.
»Doch. Du glaubst, dass ich nachts Frauen mit Drogen betäube und sie vergewaltige. Und dass ich den ganzen Scheiß auch noch filme.«
Er versuchte kühl zu klingen, aber seine Wangen glühten, und es war nicht ausgeschlossen, dass seine Stimme ein wenig zitterte. Er hatte Angst, wieder einen Wutanfall zu provozieren, erneut von ihr verprügelt zu werden. Aber sie blieb im Stuhl sitzen. Zog nur die Augenbrauen hoch und klang herablassend.
»Glaube ich das? Ich glaube, dass damit bewiesen ist, dass es stimmt. Ich betrachte es als Geständnis.«
»Tu das nicht. Ich kann beweisen, dass ich unschuldig bin.«
»Ja, klar. Es ist ja auch wirklich absolut glaubwürdig, dass du etwas über ein Verbrechen weißt, bei dem du gar nicht dabei gewesen bist. Du hast bestimmt zufällig davon gehört, nehme ich an.«
Mehr Ironie.
»Als ich dich an jenem Freitag im November im Clarion zurückgelassen habe, bin ich nach Hause gefahren und habe mich von Lina getrennt. Wir haben fast die ganze Nacht zusammengesessen und geredet. Am nächsten Morgen haben wir die Sachen untereinander aufgeteilt und dann habe ich sie zu ihren Eltern gefahren. Du kannst sie anrufen und fragen.«
Westman hörte zu. Nach wie vor ohne merkbares Interesse, aber sie unterbrach ihn auch nicht.
»Nach diesem Körperhaltungsseminar, als wir uns vor dem Pelikan verabschiedet haben, hat Bella mich mit dem Auto abgeholt. Wir sind zu ihr nach Hause gefahren, und ich habe dort übernachtet. Wir hatten eine Weile etwas miteinander. Das geht weder dich noch jemand anderes etwas an, aber ich erzähle es, weil ich es muss. Frag sie, dann wirst du schon sehen.«
Er sah etwas Neues in Westmans Augen, etwas, was dort vorher nicht gewesen war. Sie sagte immer noch nichts, aber sie dachte nach. Hamad glaubte zu ahnen, worum ihre Gedanken kreisten. Wenn er wirklich unschuldig war, wie konnte er wissen, welche Daten in dieser Geschichte wichtig waren?
»Ich habe diesen Mist auf dem Rechner gefunden«, erklärte er.
Eine gnädige Lüge. Sie musste nicht wissen, dass er nicht der Einzige war, der die widerlichen und erniedrigenden Bilder gesehen hatte.
»Vor ein paar Tagen erst. Ich habe nicht so genau hingesehen, wollte mir das Elend nicht anschauen. Aber ich habe genug gesehen, um zu verstehen, was passiert ist. Und das Datum stand in einer Ecke.«
Westman runzelte die Stirn, plötzlich misstrauisch.
»Und das andere Datum, woher hast du das?«
Jetzt hatte sie doch gefragt. Er würde ihr nicht verschweigen können, dass noch jemand diesen Film gesehen hatte. Aber es gab Hoffnung. Es war ihm gelungen, sie neugierig zu machen.
»Jemand hat diese Bilder von meiner E-Mail-Adresse verschickt.«
»Bilder?«
»Den Film.«
»Es war ein Film? Also kein Bild?«
»Es war ein Filmausschnitt. Wie gesagt, ich habe nicht so genau hingesehen.«
»Du lügst«, konstatierte Westman. »Ich habe ein Bild auf deinem Rechner gefunden, keinen Film. Und ich habe es gelöscht. Und wenn jemand etwas von deinem Rechner geschickt haben sollte, dann hat er seine Spuren gründlich verwischt. Das Bild ist von meiner E-Mail-Adresse geschickt worden.«
»Du bist also an meinem Rechner gewesen?«
»Ich brauchte doch einen Beweis, dass du es gewesen bist.«
Plötzlich hatten sie einen Dialog. Sachlich wurden Argumente ausgetauscht, und das war ein guter Anfang.
»Aber so war es nicht«, sagte Hamad.
»Was du sagst, stimmt aber nicht.«
»Hör mir zu, Petra. Jemand hat ein Bild von deinem Rechner geschickt und einen Film von meinem. Auf meinem Rechner gibt es keine Spuren, außer dass das Bild, das von deinem Rechner geschickt wurde, auf meinem Rechner lag, aber das hast du ja gelöscht. Und du hast recht: Dass der Film von meiner E-Mail-Adresse verschickt wurde, habe ich von dem Adressaten erfahren. Ich wollte dich schonen, habe geglaubt, dass du dich besser fühlst, wenn du es nicht weißt.«
»Wenn ich was nicht weiß?«
»Dass mehr Leute als ich diesen Film gesehen haben.«
»Und an wen wurde der Film geschickt?«, wollte Westman wissen.
Sie sah jetzt eher traurig aus als wütend. Er spürte, dass er nahe am Ziel war, begann sich zu entspannen. Die fest zusammengebissenen Kiefer lösten sich, der Druck, der seit einem halben Jahr auf seinen Schläfen gelastet hatte, ließ nach. Am liebsten hätte er sie jetzt umarmt, sie sah aus, als könnte sie es gebrauchen.
»Das werde ich nicht erzählen. Aber du kannst beruhigt sein. Er hat ihn nicht mehr. Vertrau mir. Vertraust du mir?«
Westman musterte ihn eine Weile nachdenklich. Sie war in ihrem Stuhl zusammengesunken, die Luft war raus.
»Und wie hast du herausgefunden, dass diese Person den Film hatte?«, fragte sie. »Und dass er von dir kam?«
»Detektivarbeit«, sagte Hamad mit einem Lächeln. »Ich bin Polizist, wie du vielleicht weißt.«
»War es Conny?«
Er schüttelte verwundert den Kopf.
»Hadar?«
Noch größere Verwunderung. War er der Einzige, der von dieser Sache nichts gewusst hatte?
Aber jetzt konnte er nicht länger widerstehen. Er hatte diesen Augenblick seit vielen Monaten herbeigesehnt, auch wenn er es nie so deutlich gespürt hatte wie jetzt. Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum, zog sie behutsam aus dem Stuhl hoch und legte seine Arme um sie.
»Das wollte ich schon so lange tun«, flüsterte er in ihr Haar. »Jetzt musst du mir erzählen, was du durchgemacht hast.«
Er spürte, wie ihre Muskeln nachgaben und ihr Kopf gegen seine Schulter sank.
»Ich vertraue dir«, seufzte sie.
Und erzählte.
Als er sie eine gute Stunde später verließ, tat er es mit gemischten Gefühlen. Enormer Erleichterung, weil sie ihn wieder angenommen hatte. Großer Entschlossenheit, wenn es darum ging, den anderen Mann, wie Petra ihn nannte, dingfest zu machen. Und mit einem bitteren Nachgeschmack im Kielwasser dieser so lang vermissten Vertraulichkeit, denn Petra hatte ihm mit einem stolzen Lächeln erzählt, dass sie in der letzten Zeit sogar einmal an der Liebesfront erfolgreich gewesen war. Aber dass nichts daraus werden würde, nichts daraus werden konnte. Er wollte wissen, warum. Konnte könnte vergeben bedeuten, und dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Oder gefiel es ihm ganz allgemein nicht, dass es da jemanden gab?
Sie wischte seine Bedenken mit einem unbekümmerten Lachen fort. Er bereute, dass er überhaupt gefragt hatte.