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Nachdem er am Vormittag festgestellt hatte, dass Einar Eriksson nicht mit einem Verkehrsmittel außer Landes geflohen war, über das man ihn aufspüren konnte, hatte Hamad den Nachmittag bis jetzt damit verbracht, seinen Computer und sämtliche Papiere durchzugehen. Aus diesen Aktivitäten hatte er nichts erfahren, was für die Ermittlungen von Bedeutung war. Eriksson hatte keine verdächtigen Dinge mit seinem Computer unternommen; er interessierte sich nicht für Kinderpornografie, er hatte keine Mails verschickt oder empfangen, die Misstrauen wecken konnten. Er schien nicht auf eigene Faust zu ermitteln oder alte, ungelöste Fälle wieder auszugraben, und es gab auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Eriksson mehr als andere in ihrer Abteilung eine Zielscheibe für rachsüchtige Verbrecher oder Opfer war.

Während der Arbeit hatte Hamad mit Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen. Das Ergebnis hatte zwar nicht darunter gelitten, aber es hatte länger als nötig gedauert. Immer wieder war er in Gedanken versunken und musste sich wachrütteln, um die frustrierende Aufgabe zu Ende zu bringen. Jetzt saß er endlich wieder in seinem eigenen Büro und blätterte in alten Terminkalendern, die er aus irgendeinem Grund in einer Schreibtischschublade aufbewahrt hatte.

Es gab zwei Daten, die ihn besonders interessierten. Das erste würde er so schnell nicht vergessen: Es war das Datum, an dem er und Lina definitiv beschlossen hatten, sich scheiden zu lassen. Nach einigen Wochen Bedenkzeit hatten sie sich an diesem Abend zusammengesetzt und ruhig und besonnen ihre Ansichten ausgetauscht; wie es hätte sein sollen und was sie jetzt tun sollten. Es war schwierig und traurig gewesen, aber undramatisch, und sie waren zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen. Das Leben würde für sie beide besser werden, wenn sie getrennte Wege gingen. Sie hatten einander alles Gute gewünscht und ihre vier Jahre alte Beziehung mit einer Umarmung und einer Träne im Augenwinkel beendet. Die Ehe war ein großer Irrtum gewesen, und dieses Datum hatte sich mit einer Reihe anderer erinnernswerter Daten in seinem Bewusstsein eingebrannt.

Mit diesem Ereignis als Anker konnte er sich auch deutlicher daran erinnern, wie der Abend vor diesem weichenstellenden Gespräch am Küchentisch ausgesehen hatte. Ebenso wie die darauffolgende Nacht und der nächste Tag. Trotzdem schaute er noch einmal in den Kalender, um sich zu vergewissern, dass er sich richtig erinnerte. In der Tat: das Datum, das in der linken unteren Ecke des Films eingeblendet war, in dem Petra die Hauptrolle spielte, war jenes, an das er sich erinnerte. Dieser ganz besondere Freitag im November 2006.

Sie steckten mitten in einer Serienmordermittlung, und er hatte eine ziemlich widerwillige Petra von der Wache mit zur Bar im Hotel Clarion geschleppt. Sie hatten Bier getrunken und geredet. Er hatte sie dazu gebracht, die Arbeit für eine Weile zu vergessen, und wie gewöhnlich ging es bei ihren Diskussionen hoch her. Sowohl angenehme als auch weniger inspirierende Themen wurden abgehandelt. Liebevoll und mit Respekt. Und als er sie verließ, geschah dies nicht, weil er wollte, sondern weil er musste. Er musste nach Hause zu Lina, um eine Etappe seines Lebens abzuschließen.

Das andere Datum ergab sich nicht so leicht. Auch dieses Mal war es ein Freitag, nun aber im September 2007, also fast ein Jahr später. Der einzige Eintrag im Kalender für diesen Tag war der Titel eines Seminars, das Petra, er selbst und ein paar weitere Polizisten aus der Hammarbywache besucht hatten. Laut Kalendereintrag hatte es »Schwerpunkt Körpersprache« geheißen, und er erinnerte sich, dass alles darauf hinauslief, dass man je nach Körperhaltung ganz unterschiedliche Eindrücke hinterließ. Er rief sich ins Gedächtnis, wie Holgersson oder Malmberg – oder wer auch immer es gewesen sein mochte – Petra zu ihrem eigenen Verdruss dazu gebracht hatte, den Polizeidirektor als sexy zu bezeichnen. Hamad musste kichern, als er daran zurückdachte. Brandt sexy? Das glaubte der doch nicht einmal selbst.

Aber danach? Was war nach dem Seminar passiert? Genau, das war doch der Abend, den er mit Petra im Pelikan verbracht hatte. Es war der Abend, den er als letzten ihrer bis dahin vollkommen normalen Beziehung betrachtete. Die Ruhe vor dem Sturm. Und es war also auch der Abend, an dem jemand einen Amateurporno mit Petra in der Hauptrolle an Pontus Örstedt geschickt hatte. Von einer nur allzu bekannten E-Mail-Adresse.

Er klappte den Kalender zu, legte den Kopf in die Hände und starrte antriebslos aus dem Fenster. Er seufzte. Offensichtlich gab es hier einen Zusammenhang, aber worum ging es eigentlich? Versuch es aus Petras Perspektive zu sehen, sagte er sich. Wie denkt sie? Sie bekommt einen Tipp wegen dieses Films auf amator6.nu und kriegt einen Riesenhals auf den Typen ... der ihn eingeschickt hat? Oder auf den, der sie in diesem Film missbraucht hat? Denn es handelte sich doch um Missbrauch? Widerwillig rief er sich ihr Bild vor Augen, mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund. Stoned? Bewusstlos? Woher zum Teufel sollte er das wissen, er hatte keine Ahnung, wie sie aussah, wenn sie ... sich in einer solchen Situation befand.

Und trotzdem. So gut glaubte er sie doch zu kennen, dass er die Möglichkeit ausschließen konnte, dass sie selbst diese Bilder öffentlich gemacht hatte. Oder sich unter diesen Umständen filmen ließ. Oder sich überhaupt solchen Umständen aussetzte. Es musste doch wehgetan haben! Aber sie schien auf die Schmerzen gar nicht zu reagieren. Oder überhaupt auf irgendetwas.

Die Dinge waren meist genau das, wonach sie aussahen, dachte er. Sein alter Wahlspruch. Und war dieser Fall vielleicht schlechter geeignet als andere, ihn zur Anwendung zu bringen? Natürlich nicht.

Petra sah vollkommen weggetreten aus, also war sie es vermutlich auch. Bewusstlos oder stoned oder beides. Unter Drogen also. Und wurde im falschen Bett gevögelt, in die falsche Körperöffnung und von der falschen Person. Naheliegend, weil der Mann wohl kaum bewusstlos war. Also vergewaltigt. Außerdem hatte er einen Kumpel dabei, der das Ganze gefilmt hatte, sodass sie den Mist anschließend ins Internet stellen konnten. Also öffentlich geschändet.

Kein Wunder, dass Petra Westman mies drauf war.

Sie wurde also an dem Abend unter Drogen gesetzt und vergewaltigt, als sie in der Clarion-Bar gesessen und sich unterhalten hatten. Möglicherweise hatte sie die Schlussfolgerung gezogen, dass Hamad darin verwickelt war, zumal das Ganze zeitlich so nahe beieinanderlag, nur Stunden, nachdem er sie verlassen hatte. Aber warum war dieser Verdacht erst ein Jahr nach dem eigentlichen Ereignis aufgekommen? Tja, weil erst da dieser Film zum ersten Mal öffentlich gezeigt wurde, nämlich als er an amator6.nu geschickt worden war. Kurz nachdem sich Petra und er vor dem Pelikan voneinander verabschiedet hatten.

Und er war von seiner eigenen Mail-Adresse abgeschickt worden.

Es blieb nur die Frage: Wie konnte Petra das wissen? Dass alles auf ihn als denjenigen hindeutete, der den Film geschickt hatte? Und dass es folgerichtig auch er war, der gefilmt oder vergewaltigt hatte oder vielleicht beides? Und wie konnte sie es so schnell wissen, nachdem der Film abgeschickt worden war? Nein, darauf konnte er sich keinen Reim machen.

Aber es gab mehr und wichtigere Fragen, die beantwortet werden mussten. Wer hatte Petra vergewaltigt, waren es mehrere, und wer hatte den Film an Pontus Örstedt geschickt? Wer hatte die Lage so unter Kontrolle, dass er jeden Verdacht gezielt in eine andere Richtung lenken konnte? Und wie sollte Hamad weitermachen, um sich von den Anschuldigungen zu befreien und sich selbst und Petra Gerechtigkeit widerfahren zu lassen?

Einen Dienst konnte er der Menschheit auf der Stelle erweisen, fiel ihm ein. Er konnte die Blicke der Polizei zumindest auf eines der Arschlöcher lenken, die es im Dutzend leider billiger gab. Sie würden doch bestimmt irgendetwas finden, für das sie ihn einlochen konnten? Wenn es mit der Kupplerei nicht klappte, dann hatte er bestimmt auch seine Finger in irgendwelchen Drogengeschäften, war in Wirtschaftsverbrechen oder irgendwelche anderen Machenschaften verwickelt, für die man ihn hopsnehmen konnte.

Er griff nach dem Hörer und wählte die Nummer eines alten Freundes von der Polizeihochschule, der mittlerweile auf der Citywache arbeitete, und servierte ihm Pontus Örstedt auf dem Silbertablett. Er stellte fest, dass Rache süß war. Auch wenn es nicht seine eigene war, sondern Petras und Jennys.