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Alles fühlte sich unwirklich an. Hamad saß in der roten Linie der U-Bahn und erkannte sich selbst nicht wieder. Als würde er sich selbst von außen betrachten. Er befand sich nicht in seinem Körper, gehörte auch nicht zu der grauen Menge um ihn herum. Er schwebte darüber, außerhalb. Nichts tat weh, nichts hatte irgendeine Bedeutung. Ohne Rücksicht auf die anderen Fahrgäste, die sich auf den engen Sitzen drängten, hatte er die Beine ausgestreckt und lag fast auf seinem Sitz. Ihm war alles scheißegal, er nahm einen kurzen, wohlverdienten Urlaub von Vernunft und Höflichkeit.

Am Telefonplan stieg er aus und wurde von der kühlen Herbstluft wieder zum Leben erweckt. Das Bild des gerade vom Dachbalken abgeschnittenen Einar trat ihm wieder vor Augen, und damit kam auch das schlechte Gewissen. Charakterschwach, dachte er. Und Gruppendruck. Was er sofort als schlechte Ausrede wieder verwarf. Allein er selbst trug die Verantwortung für seine Handlungen und die Art, wie er Einar Eriksson behandelt hatte. Ebenso wie für seine voreingenommene Einstellung während der ganzen Ermittlungen.

Statt den Straßen bis zum Tvingvägen zu folgen, an dem Petra wohnte, nahm er in der Dunkelheit die Abkürzung über den menschenleeren Sportplatz. Eine idiotische Entscheidung für einsame Flaneure, aber das kümmerte ihn nicht. Was auch immer passieren konnte, er hätte es verdient. Oder? Ein paar Dinge hatte er immerhin richtig gemacht. Er hatte entdeckt, dass Einar in diesen Fall verwickelt war. Und was Jenny und Petra und diese Filme betraf ... Ja, vielleicht war er doch kein ganz und gar schlechter Mensch.

Er beschleunigte seine Schritte und war bald wieder unter dem Lichtschein der Straßenlaternen auf dem Klensmedsvägen unterwegs. Jetzt musste er sich ein bisschen zusammenreißen, er konnte nicht kommen und sich nach so langer Zeit selbst bei Petra einladen, wenn seine Stimmung so im Keller war. Er wollte sie schließlich unterstützen nach all dem, was an jenem gottverdammten Tag geschehen war, und nach den Ereignissen, die sich am Freitagabend nach ihrem gemeinsamen Besuch in der Clarionbar vor anderthalb Jahren zugetragen hatten. Er wollte ihr zeigen, dass er für sie da war, was immer auch geschehen mochte.

Als er vor der Nummer 24, in der Petras Wohnung lag, die Straße überqueren wollte, weckte ein parkendes Auto gleich neben ihm seine Aufmerksamkeit. Eine dunkelrote Lexus-Limousine, die ein paar Nummern zu edel war, um den Freitagabend vor einem Mietshaus in Västberga direkt neben der Autobahn zu verbringen. Er erkannte den Wagen wieder, kam aber zunächst nicht darauf, wem er gehörte. Die falsche Person am falschen Ort – die Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Und dann fiel der Groschen.

Und das Bild, das ihm seit seinem Kampf mit Petra in der Boxhalle im Unterbewusstsein herumgespukt hatte, stand ihm wieder deutlich vor Augen. Direkt über ihm stand Holgersson und wollte ihm auf die Beine helfen. Im Türrahmen Roland Brandt, der mitten in der Bewegung erstarrt war, während er sein Telefon ans Ohr hob, um einen Anruf entgegenzunehmen. Und dort hinten in der Ecke saß Petra mit zurückgelehntem Oberkörper, glänzend vor Schweiß, immer noch mit den Boxhandschuhen an den Händen und einem breiten Lächeln im Gesicht. Ein triumphierendes Lächeln? Ja, vielleicht – aber warum? Weil sie ihn windelweich geprügelt hatte? Oder lag es an etwas anderem? Worauf war ihr Blick gerichtet? Gunnar Malmberg hatte sich über sie gebeugt, sie in der Ecke eingesperrt, indem er sich mit den Armen links und rechts von ihrem Kopf an die Wand gestützt hatte. Als wollte er sie zurückhalten. Hör auf, dich zu prügeln, Petra.

Nein. So war es nicht. Sie hatte Malmberg direkt in die Augen geschaut. Er markierte sein Revier. Petras Lächeln war nicht triumphierend – doch, das vielleicht auch – aber nicht, weil sie Hamad zu Fall gebracht hatte, sondern weil sie Malmberg zu Fall gebracht hatte. Und was hatte er ihr zugeflüstert? »Zieh dir die Handschuhe aus und beruhige dich«? Oder eher »Ich komme am Freitagabend bei dir vorbei«?

Was hatte Petra gesagt, als sie von ihrer letzten Eroberung sprach? Dass daraus nichts werden würde. Dass daraus nichts werden konnte. Und so war es tatsächlich. Malmberg hatte Frau und Kinder und war darüber hinaus der stellvertretende Polizeidirektor. Natürlich würde daraus nie etwas werden. Was also sollte das hier?

Aber Hamad war noch nicht fertig mit der Boxhalle. Er versetzte sich wieder in seine Perspektive von schräg unten zurück, als er verprügelt und verwirrt auf der Matte lag. Was war danach passiert? Bilder, Geräusche. Der Dämmerzustand verflog, Malmbergs Handy klingelte. Diese Melodie, ja, was hatte er für einen Klingelton? Er hatte es nur kurz klingeln lassen, bevor er das Gespräch annahm. Ein einsames Instrument ... eine Gitarre. Hamad kam die Melodie bekannt vor, es musste ihm jetzt einfallen. Er wusste, dass es wichtig war – warum war es wichtig? Es spielte keine Rolle, na los jetzt, raus damit. Warum erkannte er die Melodie wieder, war es etwas, das er selbst auch mochte? Wahrscheinlich. Gitarre ... könnte es Clapton gewesen sein? Da war es: »Layla« natürlich. Unplugged.

Und dann hatte er sich gemeldet. Hamad hatte keine Probleme, sich daran zu erinnern, was Malmberg gesagt hatte. »Sprich mit Lu ... oder mit diesem neuen Mädchen. Jenny. Klar. Kein Problem.« War das auch wichtig? Vielleicht. Mit wem hatte er gesprochen? Unmöglich zu sagen. Was wollte er sagen? »Sprich mit Lu ...«? Lundin vermutlich. Lundin und Jenny, was sollten die miteinander zu tun haben? Nichts. Lu-Lu-Lu ... nicht wie Lundin, die Aussprache war anders. Südschwedisch? Nein, warum sollte er so sprechen? Englisch? Lu-Lu-Lu- ... Lucy? Lucy in the sky ... Das war doch nicht möglich. Sollte Malmberg von dieser Sache mit Jenny gewusst haben? Warum? War er auf amator6.nu gewesen? Und warum sollte er ausgerechnet diesen Film gesehen haben, wenn es Tausende andere gab?

Zurück zu Petra. Der Film, in dem sie vergewaltigt wurde. Er wusste, dass irgendwo das Fragment eines Gedankens in ihm schlummerte, ein Gedanke, den er niemals zu Ende gedacht hatte. Er war nah dran jetzt, er spürte es, er würde gleich darüber stolpern ... Die Kamera schwenkt über die Körper auf dem Bett und dann ... pling-plong, aus. Nein! Das Geräusch, wenn die Kamera abgeschaltet wird, kann man auf Videos niemals hören. Es war ein anderes Geräusch, das man vor dem Ende des Films noch hörte. Pling-plong, es waren zwei Töne, die von einer Gitarre stammten. Eric Claptons Gitarre. »Layla«. Unplugged.

Hamad warf einen verstohlenen Blick zum Fenster von Petras Wohnung hinauf. Dahinter strahlte ein gemütliches Licht. Was machten sie dort? Es spielte keine Rolle, sie würden nie ein Paar werden. Sie konnten kein Paar werden. Aus zwei Gründen: Malmberg würde ihretwegen niemals seine Karriere und seine Familie aufgeben. Und er war nicht daran interessiert, mit Petra zusammen zu sein. Er war ein Vergewaltiger; er bestrafte sie. Ohne dass sie es wusste. Bei Vergewaltigung ging es um Macht, nicht um Sex. Petra hatte ihm ein Bein gestellt, und das konnte er nicht dulden. Nachdem es ihm misslungen war, sie feuern zu lassen, hatte er die Taktik geändert. Er hatte sie erobert. Sie hatte sich freiwillig dem Mann hingegeben, der sie einst vergewaltigt hatte. Und das gab ihm Macht. Triumph.

Hamad wusste nicht, was er tun sollte. Nur eins war ihm klar, er würde es unter keinen Umständen Petra erzählen. Das würde ihr den Rest geben. Es geschah nur selten, dass er der Ansicht war, dass man bestimmte Dinge besser nicht wusste, aber in diesem Fall war er davon überzeugt. Das mit Petra und diesem Widerling würde niemals etwas werden, und er gönnte ihr, in glücklicher Unwissenheit darüber zu leben, dass sie ein kurzzeitiges Verhältnis mit ihrem früheren Vergewaltiger hatte.

Und was konnte er selbst tun? Nicht viel. Der andere Mann hatte in den Fällen, in denen offiziell ermittelt wurde, keine Spuren hinterlassen, die als Beweis gegen ihn verwendet werden konnten, also konnte man ihn nicht hinter Schloss und Riegel bringen. Und das hier waren nur Indizien. In einer nicht offiziellen Ermittlung. Aber Hamad würde die Augen offen halten. Würde Malmberg im Hinterkopf behalten, falls etwas Neues auftauchte. Aber zuerst würde er die Beweise beschaffen, die er selbst brauchte, um seines Seelenfriedens willen.

Er kehrte zur U-Bahn-Station zurück, um zur Polizeiwache zu fahren. Auf seiner Netzhaut hatte er noch das Bild einer ausgetrunkenen Mineralwasserflasche, die auf seinem Schreibtisch stand. Und in seinen Ohren klingelte ein Name, den Petra erwähnt hatte, als sie ihm alles erzählt hatte: Håkan Carlberg vom Schwedischen Kriminaltechnischen Labor in Linköping.