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Nachdem Sjöberg in dem Hotel in Arboga eingecheckt und seine Tasche auf den kleinen Sessel geworfen hatte, der in einer Ecke des Zimmers stand, setzte er sich auf die Bettkante und holte sein Handy heraus. Er rief die Auskunft an und ließ sich durchgeben, welche Kirchengemeinden es in und um Arboga gab. Er schrieb sich die Namen und Nummern auf und bat die Stimme am anderen Ende der Leitung, ihn mit der zuletzt genannten zu verbinden.

»Ich suche zwei Personen, die möglicherweise zu Ihrer Gemeinde gehört haben«, erklärte Sjöberg. »Können Sie mir helfen, in den Kirchenbüchern nach ihnen zu suchen?«

»Ist es eine private Anfrage?«

»Ja, privat. Es geht um die Eltern meines Vaters, John und Signe Sjöberg. John Sjöberg müsste am zwanzigsten April 1922 geboren worden sein, Signe, geborene Gabrielsson, am elften Januar 1913.«

»Einen Augenblick bitte. Ich werde nachschauen«, sagte die Stimme.

»Danke.«

Nach ein paar Minuten kam sie zurück, konnte aber nur vermelden, dass er sich an die falsche Gemeinde gewandt haben müsse. Sjöberg wählte daraufhin eine andere Nummer von seiner Liste und legte erneut sein Ansuchen dar.

»Beschäftigen Sie sich mit Ahnenforschung?«, wollte die Dame von der Gemeinde Arboga wissen.

»Ja, so könnte man es nennen«, antwortete Sjöberg. »Ich möchte eigentlich nur wissen, wann meine Großeltern gestorben sind und wo sie gewohnt haben.«

»Warten Sie, mal sehen, was wir hier haben.«

Sjöberg hegte nur geringe Hoffnungen, seine Großeltern so schnell aufspüren zu können, aber bald war sie wieder am Apparat, und dieses Mal bekam er einen positiven Bescheid.

»Hier habe ich sie«, sagte sie, und Sjöberg spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. »Schauen wir mal, es sind ja nicht gerade Computerausdrucke ... John Emanuel Sjöberg, geboren am zwanzigsten April 1911 auf Knekttorpet in Björskogsnäs.«

Knekttorpet, dachte Sjöberg. Das würde den Kindern gefallen.

»Ehelichte Signe Julia Maria Gabrielsson im Mai 1932. 1933 bekamen sie einen Sohn, Christian Gunnar Sjöberg, das müsste dann Ihr Vater sein, oder?«

»Stimmt«, bestätigte Sjöberg.

»John und Signe waren dann wohnhaft auf Knekttorpet, bis sie 1954 nach Arboga gezogen sind.«

»Ist Christian dann dort wohnen geblieben?«, wollte Sjöberg wissen.

»Das haben wir gleich ... ich muss das Buch wechseln ...«

Er hörte, wie sie im Hintergrund blätterte, und stellte sich die Kirchenbücher, obwohl er keine Ahnung davon hatte, als riesige, verstaubte Schinken mit festem Einband vor.

»Das ist er, ja. Bis 1961, als er starb. Oje, da sind Sie ja erst drei Jahre alt gewesen; das muss schwer für Sie gewesen sein.«

»Tja, äh, das kann man wohl sagen«, murmelte Sjöberg, der sich kaum daran erinnerte, dass er überhaupt einen Vater hatte. »Und wann sind John und Signe gestorben?«

»John starb 1967 ...«

Für eine ganze Weile wurde es still im Telefonhörer.

»Und Signe?«, fragte Sjöberg schließlich.

»Nein, dazu finde ich hier tatsächlich keinen Eintrag.«

»Und was kann das bedeuten?«

»Tja ... Dass jemand geschlampt hat, natürlich. Oder dass sie nach dem ersten Juli 1991 gestorben ist, als man zu Datenbanken übergegangen ist, aber dann wüssten Sie ja sicherlich schon Bescheid. Da müssen Sie sich an das Einwohnermeldeamt wenden, um es herauszubekommen. Sie könnte natürlich auch noch leben.«

Sjöberg hielt es nicht für notwendig, der hilfsbereiten Dame vom Kirchenbüro zu erklären, dass ihm in seiner Eigenschaft als Polizist das Verfahren geläufig war, sondern bedankte sich bei ihr und legte auf. »Knekttorpet«, wiederholte er für sich selbst, dort hatte er also in seinen ersten drei Lebensjahren gewohnt? Seltsam, dass er so gar keine Erinnerungen an diese Zeit hatte. Andererseits war ihm seine Mutter aber auch keine große Hilfe dabei gewesen, sein Gedächtnis auf Trab zu halten. Am meisten wunderte ihn allerdings, dass seine Mutter die Existenz dieses Grundstücks schlichtweg leugnete; dass sie sich konsequent weigerte, ihm zu erzählen, dass er dort gewohnt hatte. Was um alles in der Welt konnte das bedeuten? Und warum waren sie aus seinem Elternhaus in eine Wohnung nach Stockholm gezogen? Weil der Vater krank geworden war, natürlich. Er brauchte eine spezielle Behandlung, die man vielleicht nur in der Hauptstadt bekommen konnte.

Plötzlich fiel ihm ein, dass sein Großvater John ja erst 1967 gestorben war. Sjöberg war damals neun Jahre alt gewesen. An ihn sollte er sich doch eigentlich erinnern können. Auch nach seiner Großmutter durchsuchte er sein Gedächtnis vergeblich, wie konnte das nur sein? Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass zu Hause von ihnen gesprochen worden war, weder in seiner Jugend noch später, als er als Erwachsener versucht hatte, mehr über seine Geschichte zu erfahren. Sjöberg kam immer mehr zu der Überzeugung, dass hier etwas im Argen lag. Etwas war passiert, und daraufhin war der Kontakt zwischen seiner Mutter und den Eltern seines Vaters abgebrochen. Und auf wessen Seite hatte in diesem Fall sein Vater gestanden? Oder hatten sie sich vielleicht nach oder wegen seines Tods entzweit?

Sjöberg warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war fünf vor fünf. Natürlich, hier gab es keine Zeit zu verlieren; er musste das Einwohnermeldeamt anrufen, bevor es für heute seine Pforten schloss. Bevor er seine Mutter mit dieser seltsamen Geschichte konfrontierte, wollte er alle Informationen zusammenhaben, die er bekommen konnte. Er rief erneut bei der Auskunft an und ließ sich mit dem Einwohnermeldeamt verbinden.

»Mein Name ist Conny Sjöberg. Ich bräuchte Informationen zu meiner Großmutter, Signe Julia Maria Sjöberg, geborene Gabrielsson, geboren am elften Januar 1913.«

»Aha, und was möchten Sie wissen?«

Die weibliche Stimme am Telefon klang lustlos und ein bisschen schnodderig.

»Ich möchte wissen, wann sie gestorben ist«, sagte Sjöberg.

»Wissen Sie das denn nicht, wo sie doch Ihre Großmutter war?«

»Nein, offensichtlich nicht, sonst würde ich ja nicht fragen«, antwortete Sjöberg irritiert.

»Solche Auskünfte können wir leider nicht herausgeben.«

Sjöberg meinte einen schadenfrohen Unterton herauszuhören. Er legte so viel Gewicht in seine Stimme, wie er vermochte, und startete einen neuen Versuch.

»Ich bin Kriminalhauptkommissar Conny Sjöberg von der Hammarbywache in Stockholm. Wären Sie bitte so freundlich, mich unmittelbar zurückzurufen. Die Angelegenheit ist eilig.«

Plötzlich änderte sich die Einstellung seiner Gesprächspartnerin.

»Conny Sjöberg, Hammarbywache, verstanden. Ich melde mich umgehend zurück.«

Sjöberg lächelte still vor sich hin, während er wartete. Eigentlich war er nicht befugt, sich so zu verhalten; schließlich war es seine Privatangelegenheit, und er sollte den Namen der Polizei nicht für das Vergnügen missbrauchen, eine autoritätsgläubige Niete im Einwohnermeldeamt auf Vordermann zu bringen. Aber wer sollte ihn deswegen anschwärzen? Sie jedenfalls nicht. Das Telefon in seiner Hand zitterte und gab ein schrilles Signal von sich.

»Conny Sjöberg«, meldete er sich knapp.

»Hallo, Conny, hier ist Jenny.«

»Hallo, Jenny! Weißt du, ich kann im Augenblick absolut nicht mit dir sprechen, weil ich auf einen dringenden Anruf warte. Wir können ja später noch einmal telefonieren, ja? Ich rufe dich heute Abend an.«

»Okay, tschüs.«

»Tschüs.«

Er drückte das Gespräch weg, und nach weiteren zwei Minuten rief die Frau vom Einwohnermeldeamt zurück. Mittlerweile war es bereits nach fünf Uhr, und er hatte fast schon geglaubt, sie würde bis zum nächsten Arbeitstag mit ihrem Anruf warten, um ihn für seine schroffe Art zu bestrafen. Aber er hatte ihren Respekt vor der Uniform richtig eingeschätzt, und jetzt meldete sie sich mit einem ganz anderen Tonfall als gerade eben noch.

»Ja, ich rufe hier aus dem Einwohnermeldeamt zurück. Womit kann ich Ihnen helfen?«

Offensichtlich herrschte jetzt eine ganz andere Dienstleistungsmentalität. Er gab sich so herzlich er konnte und fand, dass er wie ein alter Landrat klang, als er sein Ansinnen erneut vortrug.

»Haben Sie die letzten vier Nummern ihrer Sozialversicherungsnummer?«, wollte die Frau wissen.

Sjöberg rollte mit den Augen.

»Nein, die habe ich natürlich nicht. Vor allen Dingen glaube ich, dass sie schon so lange tot ist, dass Sie sie gar nicht in ihren Datenbanken haben. Aber wenn Sie ein bisschen nach dem Namen und dem Geburtsdatum in Ihrem Rechner suchen, dann könnten Sie mir diese Vermutung vielleicht sogar bestätigen. Sie verfügen doch über eine Suchfunktion, oder?«

Sie hatte, wie Sjöberg bereits vermutet hatte, nicht den geringsten Sinn für Ironie und tat, was er ihr aufgetragen hatte.

»Aha, das muss sie sein.«

Sjöberg runzelte die Stirn. Das hatte er nicht erwartet.

»Signe Julia Maria Sjöberg, geborene Gabrielsson, 130111–1841, Birgittagatan 6, Arboga.«

»Und dort war sie gemeldet bis ...?«

»Ja, dort ist sie nach wie vor gemeldet. Sie lebt.«

Sjöberg bekam kein Wort heraus. Er saß in Schuhen und Winterjacke wie versteinert auf der Bettkante und fühlte sich wie ein Idiot.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte die Frau. »Ich gratuliere zu Ihrer neuen Großmutter!«