Neununddreißig

Die neue Information, die Corinne eingeholt hatte, versetzte mich in hektische Betriebsamkeit. Jeden Moment, den ich nicht darauf verwandte, mein altes Leben wieder in Gang zu bringen, widmete ich jetzt diesem neuen Aspekt.

Meine Bemühungen trugen Früchte und kulminierten am Abend des 10. September, einem Mittwoch. Um 20:30 Uhr marschierte ich durch die Tür, ein wenig zu früh für die Verabredung, die ich getroffen hatte. Die Galerie war leer, aber ich hörte ein Rascheln aus dem Büro, das an den Ausstellungsraum grenzte. Nicht lange, und Phillip Anthony erschien und schloss die Tür hinter sich.

Es amüsierte mich, seinen geschockten Gesichtsausdruck zu sehen, als er mich erblickte. Sein Mund klappte auf und schloss sich abwechselnd wie ein Scheunentor bei einem Frühjahrssturm. Er brauchte fast eine geschlagene Minute, um seine Stimme wiederzufinden.

»Hallo, John«, brachte er schließlich hervor, »wie reizend, dich zu sehen. Vor allem so unerwartet.« Er legte seine kurzzeitige Nervosität ab und fixierte mich durch seine dicken Brillengläser. »Was ist mit deinem Gesicht passiert? Du siehst aus, als hättest du in einem Boxkampf den Kürzeren gezogen, du armer Kerl.«

»Ich bin viel gereist, Phillip, stellenweise durch ziemlich unwegsames Gelände.«

»Hast du irgendetwas Gutes gefunden? Ich bin immer interessiert, wie du weißt.«

»Nichts, das für dich von Interesse wäre.«

Er spielte den Enttäuschten. »Es gibt Gerüchte, dass du zurzeit ziemlich in der Klemme steckst. Dieses Geschäft kann sehr flatterhaft sein, wie die Frauen. Du denkst, du hast alles in der Hand, und am Ende stehst du mit leeren Händen da.« Er hielt inne, um mir Zeit zu lassen, seinen sprühenden Witz angemessen zu würdigen.

»Ich komme schon zurecht. Aber danke für deine Anteilnahme.«

»Ich weiß, es ist eine delikate Angelegenheit, aber wenn du die Absicht hast, irgendetwas aus Samuels Sammlung zu verkaufen, bin ich dir gerne behilflich.«

Heißt, du kriegst ein Viertel von dem, was es wirklich wert ist.

»Eigentlich tue ich alles in meiner Kraft Stehende, um seine Sammlung zusammenzuhalten. Das hätte Samuel sich sicherlich gewünscht.«

Er verstand meine Worte völlig falsch. »Ah, den gesamten Bestand. Nun, bei einer solchen Menge müssen wir wohl oder übel mit einem deutlich niedrigeren Preis rechnen.«

»Phillip, ich habe nicht die Absicht, sie zu verkaufen.«

Mit einer übertrieben demonstrativen Geste streckte er seinen dünnen Arm aus, um auf die Uhr zu schauen. Dabei rutschte die Ärmelmanschette seines Oberhemdes nach oben und entblößte Leberflecken und graue Haare, die auf fischbauchweißer Haut sprossten. »Ich würde mich gerne noch viel länger mit dir unterhalten, aber ich erwarte einen Kunden. Er müsste jede Minute eintreffen.«

»Ich bin dein Kunde, Phillip.«

Eine Falte erschien auf seiner hohen, glänzenden Stirn. »Ich dachte, du hättest gerade mein Angebot abgelehnt.«

»Was ich meinte, ist, dass ich dieses Treffen arrangiert habe. Der Name war Bernard White, glaube ich.«

»Er soll für einen Käufer die Echtheit eines Objekts prüfen. Woher weißt du das? Vertrittst du den Käufer?«

»Es gibt keinen Bernard White. Ich habe ein wenig gezaubert und die ganze Sache erfunden.«

Augenblicklich ließ er seine freundliche Maske fallen. »Du Bastard. Ich habe zwei andere Interessenten hingehalten, weil ich glaubte, dein Phantomkunde würde einen besseren Preis zahlen. Du hast meine wertvolle Zeit vergeudet. Verschwinde!«

Ich nehme an, das war der Moment, als mein Eindruck von diesem Mann sich grundlegend wandelte. Es war ein totaler Wechsel, wie man es gelegentlich erleben kann, wenn die Sonne nach dunkler Nacht am Horizont aufsteigt und man die Landschaft ringsum plötzlich so sehen kann, wie sie wirklich ist. Der Amateur verschwand plötzlich, und zum Vorschein kam eine völlig andere Persönlichkeit. Ich erkannte sie wieder. Hatte ich sie doch oft bei den reichsten Sammlern gefunden, die mir im Laufe der Zeit begegnet waren. Es waren immer Männer. Und sie waren absolut skrupellos.

Ich ging auf sein Büro zu. »Warum gehen wir zu unserer langen Unterhaltung nicht dort hinein?«

»Das ist überhaupt nicht nötig.« Mit geradezu würdeloser Hast eilte er zur Tür und baute sich mit verschränkten Armen davor auf wie ein Bullterrier, der seinen Knochen bewacht.

»Ich weiß, dass sie da drin ist, Phillip. Ich habe über eine Stunde vor dem Laden gewartet. Ich habe sie reinkommen sehen.«

»Das geht dich absolut nichts an, John.«

Die Tür öffnete sich knarrend. Phillip blickte verunsichert hinter sich und trat dann beiseite. Laurel kam über die Schwelle. »Sei nicht albern, Phillip. Offenbar weiß er Bescheid.« Sie hatte die Augen leicht zusammengekniffen. Aber das war das einzige Zeichen ihrer inneren Anspannung. Sie hatte ihren früheren Hippielook abgelegt und repräsentierte jetzt die typische Upper-East-Side-Lady – teures maßgeschneidertes Jackett, ein Bleistiftrock, der dicht über den Knien endete, Pumps von Christian Louboutin. Ein Choker aus Opalen und Diamanten mit Rosettenschliff umschloss ihren Hals.

Beinahe hätte mich der rasende Zorn, sie vor mir zu sehen, übermannt, aber ich hielt ihn im Zaum und konzentrierte mich auf mein Endziel.

»Wer hätte gedacht, Laurel, dass du dir Kapitalverbrechen als neues Betätigungsfeld aussuchst.«

Phillip, stets der galante Gentleman, glaubte, sie sofort verteidigen zu müssen. »Ich finde, Sarkasmus ist hier völlig fehl am Platze. Du solltest jetzt lieber gehen.«

»Ich gehe, wenn wir unsere Angelegenheiten geregelt haben.«

Laurel legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wir erreichen nichts, wenn wir uns streiten. Es hat keinen Sinn, mit unguten Gefühlen auseinanderzugehen.«

Ungute Gefühle? Nach all den Toten, die letztendlich sie zu verantworten hatte? In was für einer Realität lebte sie?

Phillip machte Anstalten zu widersprechen, überlegte es sich jedoch anders. Er ging zur Eingangstür und tippte einen Code in die elektronische Schließanlage an der Wand. Ein Messinggitter glitt vor dem Schaufenster herab. Dann geleitete er uns in sein geräumiges Büro. Möbel von Gehry, auf dem Boden ein großer Bakhshaish-Teppich. In einer Ecke des Raums stand ein Tintoretto auf einer Staffelei. Ein Flachbildschirm an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch diente ihm wahrscheinlich als Hilfsmittel bei seinen Geschäften.

»Hübscher Schmuck«, sagte ich zu Laurel.

Sie streichelte ihr Halsband. »Ein Erbstück von Mina. Offen gesagt finde ich, es steht mir viel besser.«

Phillip schloss die Tür und ging zu seinem Schreibtisch. Er holte eine Flasche Rabelais Cognac aus einer Schublade und füllte drei Gläser.

»So«, sagte ich, »vieles ist reine Spekulation, aber ich wette, dass ich ziemlich dicht an der Wahrheit bin. Hal hatte wohl Kontakt zu dem Alchemistenclub, hat es aber nie geschafft, bis zum inneren Zirkel vorzudringen und eine bedeutende Rolle zu spielen. Ich vermute, er kannte nicht einmal die Identität aller Beteiligten. Ward war Saturn; Eris war Venus, und Lazarus war Mars. Shim war zu stark beeinträchtigt, um ein vollwertiges Mitglied zu sein. Du, Phillip, warst Merkur. Anfangs hatte ich bei dir auf Jupiter getippt, aber dir fehlt einfach die schöpferische Begabung, um die Gruppe zu führen. Mina, die Hexe, sie war ursprünglich Jupiter. Als sie starb, hast du deine Chance sofort genutzt, Laurel, und ihren Platz übernommen.«

Sie fingerte wieder an ihrem Halsband herum. »Ich schätze, ich muss die Komplimente annehmen, wie sie kommen. Wie bist du dahintergekommen?«

»Eris hatte eine Venus-Tätowierung und dann krempelte Ward im Hotel in Bagdad seinen Hemdärmel hoch, so dass die Tätowierung auf seinem Arm zum Vorschein kam, ein kleingeschriebenes h mit einem Querstrich durch den Hals. Das Symbol für Saturn. Du hast mir erzählt, dass Hal Saturn war. In seinem Brief an mich sprach Hal von fünf Gegnern. Wenn er Saturn war, hätte das geheißen, dass er sich selbst dazugezählt hatte. Das wäre ein wenig zu platt und durchschaubar gewesen. Da du Mina gut kanntest, auch wenn euer Verhältnis nicht das allerbeste war, befandest du dich in einer idealen Position, um alles unter Kontrolle zu haben. Immerhin hast du in ihrem Haus gewohnt. Gip erzählte mir, dass Hal niemals die Absicht gehabt hatte, wieder mit dir zusammenzukommen. Er hat dir lediglich gestattet, vorübergehend am Sheridan Square zu wohnen, mehr nicht. Das Personal weiß genau, was die Bewohner tun. Auf diese Art und Weise sichern sie sich ihre Jobs.

Sobald ich nach New York zurückgekehrt war, hat eine Freundin es geschafft, eure Identitäten zu entschlüsseln, wodurch ich die Bestätigung erhielt, dass ich mit meinen Vermutungen richtiglag. Du hattest die Verbindung zu Ward und nicht Tomas. Wie passte Ward in dieses Arrangement?«

»Dieser Mann war eine Witzfigur«, schnaubte Phillip. »Er hielt sich für eine ganz große Nummer, dabei war er für uns nicht mehr als ein Laufbursche. Ich hatte ihm gelegentlich bei seinen Verkäufen geholfen, so lernte ich ihn kennen. Er nahm diese Alchemistensache wirklich ernst, genauso wie seine kriminellen Freunde. Kann man sich so etwas vorstellen? Shim, dieses Monster, mit dem Eris unterwegs war, sprengte sich selbst in die Luft, als er versuchte, aus Blei Gold zu machen. Hat Ward dir sein privates ›Museum‹ gezeigt? Eine bunte Mischung, das Zeug, das er dort zusammengetragen hat. Mehrere Manuskripte waren seltene Stücke und er hatte ein paar hübsche Objekte aus dem Nahen Osten, aber im Wesentlichen war es ziemlich billiges Zeug, vieles davon gefälscht.«

Schmeicheleien hatten bei Phillip immer eine Wirkung. »Richtig clever von dir, Wards Truppe erst auf Samuel, dann auf Hal und schließlich auf mich anzusetzen, während ihr beide im Hintergrund agiert habt. Und Tomas’ raffinierter Plan hat sie im Irak für immer von der Bildfläche verschwinden lassen. Auf heimischem Terrain hatte Tomas eine viel größere Chance, sie zur Strecke zu bringen. Sobald sie das Zeitliche gesegnet hatten, führte keine Spur mehr zu euch. Sehr beeindruckend.«

»Das sind alles nur Mutmaßungen, Madison«, sagte Phillip. »Du hast dafür keinen Beweis.«

Ich nippte an meinem Cognac und genoss das exquisite Aroma. »Hanna Jaffrey, die, wie ich erfuhr, sehr viel enger mit Ward verbandelt war, als er zugeben wollte, schaffte es nicht, die Schrifttafel zu stehlen, nachdem Samuel sie gefunden hatte. Lazarus und Shim nahmen sich ihrer am Ende an. Lazarus versuchte danach, die Tafel während der Plünderungswelle aus dem Museum in Bagdad herauszuholen, aber Samuel hatte damit gerechnet, so dass ihr ein zweites Mal in die Röhre schauen musstet. Es muss furchtbar frustrierend gewesen sein, nach so vielen Mühen wieder nichts in den Händen zu haben.

Als mein Bruder starb und ich zur Untätigkeit verdammt im Krankenhaus lag, hast du Hal dazu verdonnert, die Wohnung zu durchsuchen. Und da geriet alles außer Kontrolle. Hal log nämlich. Er sagte, er habe nichts gefunden, weil er die Tafel auf eigene Rechnung verkaufen und den Erlös für sich behalten wollte. Wusste er eigentlich genau, was er da gefunden hatte?«

»Er hatte mitbekommen, dass es irgendetwas mit der Umwandlung von unedlen Metallen in Gold zu tun hatte. Er wusste, dass die Schrifttafel das Buch Nahum war, und erkannte, welchen Wert sie hatte.«

»Also habt ihr Ward und seine Leute benutzt, um ständig größten Druck auf mich auszuüben, mich zu drangsalieren, so dass ich glaubte, um mein Leben rennen zu müssen. Und sie wussten dank des Peilsenders immer genau, wo ich gerade war. Du hast ihn entfernt, um mein Vertrauen zu gewinnen, Laurel. Mittlerweile hielt ich dich ja auf dem Laufenden, also war er nicht mehr nötig. All diese Krokodilstränen über Hals Tod. Es muss ein heftiger Schock gewesen sein, als du herausbekamst, dass er das Ding verhökern wollte. Eris hat ihn aufgesucht und zur Rede gestellt. Er log abermals, nur zog er mich dieses Mal in die Sache hinein. Sein seltsames Rätselspiel muss dich kalt erwischt haben.«

Laurel hatte aufmerksam zugehört. »Uns an dich dranzuhängen war unsere einzige Option, sobald uns klar war, dass du wirklich keine Ahnung hattest, wo die Schrifttafel sich befand. Hal fügte einige Elemente in sein Rätsel ein, die nur du erkennen würdest, und wir konnten das Rätsel unmöglich selbst lösen. Ganz sicher nicht in kurzer Zeit. Da war es einfacher, dich die Arbeit machen zu lassen. Phillip glaubte, dass du die Schrifttafel nur suchtest, um sie zu verkaufen, aber dessen war ich mir gar nicht so sicher.«

Ich suchte nach irgendeinem Anzeichen von Schuldbewusstsein, vielleicht eine leichte Rötung ihrer Wangen, die wenigstens eine Andeutung von Scham verriet, aber ich fand nichts dergleichen.

»Ich muss zugeben«, sagte Phillip, »dass es ziemlich lustig war zuzusehen, wie du durch die Mangel gedreht wurdest.«

»Und doch bin ich jetzt hier. Ich hatte Erfolg und ihr beiden habt versagt. Wolltet ihr tatsächlich den Austausch im High Bridge Park inszenieren?«, fragte ich.

»Natürlich nicht«, antwortete Laurel.

Phillip musterte Laurel über den Rand seiner Brille hinweg wie ein ungehaltener Lehrer. »Welchen Sinn hat es, darüber zu diskutieren? Wir sind ihm keinerlei Erklärungen schuldig. Am Ende haben wir dich in dem Spiel doch noch geschlagen, Madison. Das ist dein Pech.«

»Du solltest mich lieber bei Laune halten, Phillip. Ich habe einige Antworten verdient, und wenn du eine wirklich hässliche Szene vermeiden willst, die du erleben wirst, wenn du versuchen solltest, mich rauszuwerfen, dann kriege ich sie.«

Ich wandte mich wieder an Laurel. »Du und Phillip habt einen Doppeltrick in Szene gesetzt, indem ihr Ward und seine Leute in Atem gehalten und mich gleichzeitig überwacht habt. Was jedoch niemand von uns wusste, war, dass ihr auch Tomas auf dem Kieker hattet. Als er mich endlich in seiner Gewalt hatte und sich die Schrifttafel holte, war das für euch ein Glücksfall. Wie hast du ihm die Tafel abgeluchst? Hattest du eine Waffe?«

»Kannst du dir wirklich vorstellen, dass ich mit einer Pistole herumfuchtele?« Laurel kicherte. »Höchstens mit einer Waffe in Gestalt von einem Bündel Banknoten. Phillip hatte die entsprechenden Verbindungen, daher konnten wir einen weitaus besseren Preis für die Schrifttafel erzielen. Tomas kam ziemlich schnell zur Vernunft. Und wir ließen ihn die Tafel fotografieren. Das war, was er wirklich brauchte. Es war alles im Grunde deine Schuld.«

»Wie das?«

Laurel fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Glases. »Du hast uns nichts davon verraten, dass du die Stadt verlassen wolltest. Als du zum Port Authority gingst und Ward das mitbekam, drehte er fast durch. Er glaubte, wir hätten dich zu sehr bedrängt und du wärest im Begriff, das Weite zu suchen. Daher mussten wir diese Entführung inszenieren. Tomas hingegen glaubte tatsächlich, dass du die Schrifttafel dem FBI übergeben wolltest. Wäre das nicht gewesen, hätte er Phillip und mir wahrscheinlich niemals nachgegeben.«

»Während ihr Ward und Eris Jagd auf mich machen ließet, kehrte Tomas in den Irak zurück.«

»Hal war nicht der Einzige, der gut war im Fallenstellen.«

»Ich sehe wohl den Nutzen für Tomas, aber was hatte Ari von der ganzen Sache?«

»Ari hatte nie etwas damit zu tun. Ward und seine Leute sind einem Traum hinterhergejagt. Auch Tomas wollte den Schatz unbedingt finden. Beide sahen in der Schrifttafel lediglich ein Mittel zum Zweck.«

Ich leerte mein Glas und stand auf. »Nach all den Strapazen, die ich habe ertragen müssen, könntest du mir die Tafel wenigstens einmal zeigen.«

»Mein lieber Junge«, ergriff Phillip das Wort, »wir sind zu überhaupt nichts verpflichtet.«

»Vielleicht habt ihr keine andere Wahl.« Er mochte glauben, alles unter Kontrolle zu haben, aber ich war nicht mit leeren Händen gekommen. Ich hatte den Finger bereits am Abzug und musste nur noch abdrücken.

Laurel tätschelte seine Hand. Phillip errötete tatsächlich vor Vergnügen. »Es hat doch keinen Sinn, mit den Muskeln zu spielen, nicht wahr?«, sagte sie.

Phillip holte eine Fernbedienung aus seinem Schreibtisch und drückte auf eine Taste. Der Fernsehschirm glitt zur Seite. Nahums Schrifttafel befand sich in einem in die Wand eingelassenen Regal zwischen einer Zeichnung von Michelangelo und etwas, das nach einem Vermeer aussah.

Die Schrifttafel zeigte den typischen grünen Schimmer von Olivin-Basalt, dessen Farbe sich nach den Jahrtausenden, die er mit Sauerstoff in Kontakt war, verdunkelt hatte. Noch war die Tafel nicht gesäubert worden. Ich konnte rötlichen Staub in den Kerben und Vertiefungen erkennen. Das ergab durchaus einen Sinn. Sie würden die Tafel nicht reinigen, weil der Staub analysiert und somit das Alter und die Echtheit der Tafel bestätigt werden konnte.

Ich fuhr mit der Hand über die achtfach gezackten Sterne, von denen Tomas gesprochen hatte. Die Tafel strahlte eine majestätische Erhabenheit aus, als hätten Nahums Geist und Leidenschaft den Stein mit Leben und einer eigenen Seele erfüllt. Für einen kurzen Moment empfand ich Mitleid mit dem Propheten, dessen grandioser Plan so bitter fehlgeschlagen war. Nach Tausenden von Jahren würden die Reichtümer, die er dem Königreich Juda hatte zukommen lassen wollen, in assyrischer Hand bleiben. »Tomas wird doch wohl einen Anteil erhalten, wenn ihr die Tafel verkauft, oder?«

»Natürlich. Der Erlös aus dem Verkauf von Samuels Besitz würde niemals ausreichen, um die umfangreichen Restaurationsarbeiten an dem Tempel und seinem Inhalt zu finanzieren.« Phillip drückte abermals auf eine Taste der Fernbedienung, um den TV-Schirm wieder in seine ursprüngliche Position zurückkehren zu lassen.

»Nun, was mich betrifft, so bin ich mit dem Vermeer zufrieden.«

Phillip lachte spöttisch, hielt die Flasche Rabelais hoch und runzelte die Stirn. Ich schüttelte den Kopf. Weder er noch Laurel hatten ihre Gläser angerührt.

»Es überrascht mich einigermaßen, dass ihr so einfach bereit seid, auf den Schatz zu verzichten. Die Schrifttafel dürfte an die zwanzig Millionen einbringen, aber der Wert des Midas-Horts ist unschätzbar.«

»Ein Spatz in der Hand, mein Freund, ein Spatz in der Hand«, sagte Phillip.

»Ich bin nicht dein Freund.«

Offensichtlich gelang es mir, Phillip in Rage zu bringen, denn er fauchte zurück: »Ich dachte, wir unterhalten uns wie zivilisierte Menschen. Lass mich zu Ende erzählen. Ward machte sich Illusionen darüber, wie einfach es sei, den Schatz abzutransportieren. Mal ganz realistisch, wie wollte er die Tempelschätze in seinen Besitz und hierherbringen, selbst wenn er mit Tomas fertigwerden sollte?«

»Er hatte eine Menge Helfer, die vor nichts zurückschreckten.«

»Aber nicht genug unter den gegebenen Umständen. Die Plünderung des Museums schlug zu hohe Wellen. Nachdem das FBI entsprechende Warnungen in Umlauf gesetzt hatte, reichte es schon aus, mit einem an sich unbedeutenden Objekt erwischt zu werden, um die größten Schwierigkeiten zu bekommen. Ganz abgesehen von den Einheimischen. Glaubst du, sie hätten nicht gewusst, was im Gange war? Man kann unmöglich ein ganzes Bataillon Diebe anheuern und hoffen, dass niemand davon etwas mitbekommt. Hinzu kommt, dass der Tempel sich auf einem Gelände befindet, das der Chaldäischen Kirche gehört. Meinst du, die hätten in die andere Richtung geschaut, während Ward seine Lastwagen vollladen ließ? Katholiken trennen sich nicht so leicht von ihren Preziosen. Ich prophezeie, dass von dem Fund nichts an die Öffentlichkeit gelangen wird. Laurel und ich sind mit unserem bescheidenen Anteil ganz zufrieden.«

»Die Chaldäische Kirche unternimmt erhebliche Anstrengungen, um Antiquitäten auch während der Kriegswirren zu beschützen. Sie sieht sich ständigen Bedrohungen ausgesetzt und versucht dennoch, das Grab Nahums und die Synagoge zu restaurieren. Du hast nicht einen Funken Anstand im Leib, Phillip.«

Er lächelte und reagierte nicht auf meinen Vorwurf. »Du kriegst nichts, John, erst recht nicht den Vermeer. Du lieber Himmel, er ist mindestens genauso viel wert wie die Schrifttafel.«

»Die Schrifttafel wurde gestohlen. Du kannst sie nicht ohne Risiko feilbieten.«

»Es gibt keinen Beweis dafür. Sie steht in keinem Museumskatalog und ist nicht durch irgendwelche Zeichen markiert, anhand derer man sie identifizieren könnte.«

Ich dachte, dass dieser Augenblick so gut wie jeder andere war, um das Blatt zu wenden. Ich holte mein Mobiltelefon aus der Tasche und hielt es hoch. »Ich habe damit jemanden angerufen, ehe ich hereinkam. Die Verbindung hat die ganze Zeit bestanden. Am anderen Ende hat ein Freund von mir jedes Wort aufgezeichnet.«

Das rief nicht die gewünschte Wirkung hervor. Laurel gab einen Laut der Belustigung von sich und Phillip lachte schallend. »Dieser uralte Trick. Glaubst du wirklich, ich würde darauf hereinfallen? Ich bin nicht hirntot. Mein Büro ist für private Gespräche präpariert. Ich habe Kunden, für die ist Diskretion eine absolute Notwendigkeit. Man weiß nie, wer einen zu belauschen versucht. Es gibt in dieser Richtung heutzutage einige sehr wirkungsvolle Technologien, die ich nur zu gerne nutze. Hier drin ist drahtlose Kommunikation nicht möglich.«

Als ich einen Blick auf das Display meines Telefons warf, sah ich die Nachricht, dass kein Netz zu finden war. »Dann gehe ich zur Polizei.«

»Sie haben dir ja schon bei Hal nicht geglaubt. Sie bräuchten einen richterlichen Beschluss, um meine Galerie zu durchsuchen, und um den zu kriegen, müssen Sie Beweise vorlegen. Und ehe es dazu kommt, ist die Schrifttafel längst verschwunden.«

Laurel hob die Schultern, als wollte sie sagen, dass sie in dieser Angelegenheit nichts für mich tun könne und dass das weitere Geschehen nicht mehr in ihren Händen liege.

Ich spürte, wie in mir ein Damm brach und mein Zorn Oberhand gewann. »Bedeuten Ari und Samuel dir denn überhaupt nichts?«

»Spiel bloß nicht den Heiligen, John. Du wolltest ja selbst die Tafel an dich bringen. Du warst als Erster auf dem Friedhof, ohne dass irgendjemand etwas davon wusste. Der Friedhofswärter hat dich genau beschrieben.« In ihrer Stimme lag nichts Bösartiges. Wenn überhaupt, dann war allenfalls ein gewisses Amüsement darüber zu erahnen, dass sie mir ein Schnippchen geschlagen hatte. Es kam mir so schizophren vor, diese Art moralischer Gleichgültigkeit, ihre Fähigkeit, das Ganze als ein Spiel zu betrachten und keinen einzigen Gedanken an die Folgen zu verschwenden.

Phillip brachte mich nach draußen. Ich ging etwa einen halben Block nach rechts bis zu dem Kleintransporter eines Elektrikers, vergewisserte mich, dass weder Phillip noch Laurel mich beobachteten, und machte mich durch einen halblauten Ruf bemerkbar. Die Seitentür des Vans öffnete sich. Gentile machte ein sorgenvolles Gesicht. »Wir haben nichts als Rauschen gehört«, sagte er.

»Phillip Anthony hat sein Büro gegen Funksignale abgeschirmt.« Ich zog mein Hemd aus, nahm die Drähte und Klebestreifen ab und reichte ihm den Kassettenrecorder.

Ich kannte den Mann nicht sehr gut, aber ich hatte angenommen, dass Lachen ein völlig fremder Gesichtsausdruck für ihn war. Er bewies mir das Gegenteil, als ein breites Grinsen seine Miene aufleuchten ließ. »Dieser altmodische Kram ist mir allemal lieber. Clever von Ihnen, beide Möglichkeiten zu nutzen; anderenfalls wäre er vielleicht misstrauisch geworden. Haben Sie alles mitgekriegt?«

»Jedes Wort. Sie sind gehängt, gestreckt und gevierteilt.«

Während er und ein Agent des Dezernats für Kunstdiebstähle beim FBI sich die Aufnahme anhörten, schaute ich mir auf einem Bildschirm im Kleinlaster Bilder vom Eingang der Galerie an. Licht drang durch das vergitterte Fenster und ich glaubte, die Schatten der beiden umhergehen zu sehen. Es gab keinen Hinterausgang. Weder Laurel noch Phillip kamen heraus. Mit ein wenig Glück würde das Ganze auf einen dreifachen Erfolg hinauslaufen, falls der Michelangelo und der Vermeer ähnlich dubioser Herkunft waren.

»Okay, das klingt absolut super«, sagte Gentile. Der FBI-Agent nickte zustimmend und telefonierte. Innerhalb weniger Minuten stoppten zwei unauffällige Wagen am Bordstein vor der Galerie. Ich ließ mir das Vergnügen nicht entgehen, miterleben zu dürfen, wie Phillip und Laurel in Handschellen auf die Straße geführt wurden.

Ehe ich Gentile am nächsten Tag in seinem Büro aufsuchte, um einen vollständigen Bericht zu erhalten, entschied ich, dass ich erst noch ein wenig abkühlen musste, und wanderte die etwa acht Blocks bis zu Kenny’s.

Diane stand hinter der Bar, als ich durch die Tür zur Straße hereintigerte. Sie brachte nur ein mattes Lächeln zustande, nachdem ich mich hingesetzt hatte, was mir verriet, dass sie wegen des Vorfalls mit der Polizei immer noch ein wenig empfindlich reagierte.

»Ich bin gekommen, um einiges gutzumachen«, sagte ich.

Sie begrüßte mich mit einem kurzen Kopfnicken, angelte einen Lappen unter der Bar hervor und begann voller Eifer, die Theke abzuwischen. Ich stellte jedoch fest, dass sie sich dabei nicht allzu weit von mir entfernte.

»Hey«, sagte ich. »Ist dies das Ende einer tollen Beziehung?«

»Lügen. Das ist nicht meine Definition von einer tollen Beziehung.«

»Ich kann mildernde Umstände geltend machen.«

»Das sagen sie immer.«

»Deine Prophezeiungen sind auf den Punkt eingetroffen. Zu meinem Leidwesen.«

Das weckte ihr Interesse. »Warum?« Dann bemerkte sie mein Gesicht. »Was ist denn mit dir passiert?«

»Ich wurde von fünf maskierten Mördern gejagt, von denen einer sich selbst geröstet hat, als er versuchte, Gold herzustellen. Ich wurde beschossen, mit einem Taser lahmgelegt, entführt und in ein fernes Land geschafft.«

Sie hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, und versuchte, es zu verbergen, indem sie den Kopf schüttelte. »John, du bist wirklich einmalig. Darf ich fragen, warum ausgerechnet dir so übel mitgespielt wurde?«

»Sie glaubten, dass ich das Geheimnis des Schatzes von König Midas kenne.«

Diane konnte nicht mehr an sich halten und brach in schallendes Gelächter aus. »Das klingt dermaßen verrückt, dass man es schon nicht mehr als Lüge werten kann. Ich habe dich trotz allem vermisst, aber wir müssen einen Pakt schließen.«

»Ich habe gerade keine Rasierklinge bei mir. Die brauchen wir doch, um unser Blut zu vermischen.«

»Verbal reicht völlig. Aber im Ernst, ich möchte, dass du mir versprichst, mich nie mehr anzulügen.«

Ich streckte eine Hand aus. Sie griff danach und hielt sie fest.

»Und es gibt keine Wahrsagerei mehr, okay?«

»Versprochen«, sagte sie.

Wir schwatzten noch eine Weile, bis eine Gruppe neuer Gäste ihre Dienste in Anspruch nahm. Ich erinnerte mich an ihre letzte Prophezeiung: Glückseligkeit folgt auf Kummer. Sosehr ich mich darüber freute, ein wenig Genugtuung zu erhalten, indem ich miterleben durfte, wie Lauren und Phillip verhaftet wurden, schloss sich für mich die Lücke nur vorübergehend. Durch diese beiden meinen Bruder und Ari verloren zu haben, würde für immer eine brennende Wunde bleiben.

Aus dem Irak hatte ich ein Andenken mitgebracht. Ich holte es heraus und legte es auf meine Handfläche. Es war ein goldener Apfel, jede Unebenheit seiner Schale, die Falten, Adern und der leicht gezackte Rand seines einzelnen Laubblattes so perfekt geformt, dass man hätte schwören können, dass jemand mit der Berührung eines Fingers eine echte Frucht in eine goldene verwandelt hatte.

Ich blieb bis zum Zapfenstreich. Auf der Bleecker Street wimmelte es sogar um diese späte Stunde noch von Menschen. Ich fühlte mich hier bereits ein wenig fehl am Platze. Winzige Veränderungen fanden statt. Wie zum Beispiel das Nachlassen einer Freundschaft, wenn einer von beiden eine andere Richtung einschlägt und zu neuen Ufern strebt.

Die Nachtluft besaß eine neue Frische. Vereinzelt wehte welkes Laub über die Bürgersteige, frühe Vorboten des sich seinem Ende entgegenneigenden Jahres. Ich schaute nach oben und sah die erleuchteten Fenster meines ehemaligen Heims. Ein Fremder lehnte am Balkongeländer, wie ich es früher oft getan hatte, ein Glas mit einem Drink in der Hand. Ich winkte ihm. Er prostete mir zu. Ein kleines Omen, hoffte ich, für bessere Zeiten.

Babylon
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