Sechzehn

Der Abendhimmel, eine tief hängende graue Wolkendecke, fing die Hitze ein und sorgte dafür, dass man sich in der Stadt vorkam wie in einer Druckkammer. Die Atmosphäre verlangte nach Befreiung – einem Gewitter und einem kräftigen Regenguss. Autofahrer redeten auf ihre Mobiltelefone ein, tiefgekühlt in ihren klimatisierten Fahrzeugen, während Fußgänger sich mühsam durch die schwüle Hitze schleppten. Bei dem dichten Gedränge auf den Gehsteigen war es nahezu unmöglich, meine Verfolger zu identifizieren, doch ich war sicher, dass sie mich nicht aus den Augen ließen. Mein Weg führte mich zuerst zu Corinne Carter.

Corinne war in Harlem aufgewachsen und auf Dauer in den Süden der Stadt gezogen. Sie hatte zum harten Kern unserer Clique an der Columbia University gehört. Und sie war die Einzige, die mich ungestraft Johnnie nennen durfte. An der Uni war sie das Kraftzentrum gewesen, das uns alle zusammengehalten hatte. Wenn jemand nach einem schweren Besäufnis abstürzte, war sie da, um ihn aufzufangen. Wenn eine Diskussion zu einem heftigen Streit auszuarten drohte, war sie diejenige, die die Wogen glättete. Daher kam es für uns alle überraschend, dass sie lebte wie eine Einsiedlerin.

Von ihrem Computerarbeitsplatz zu Hause aus testete Corinne vertragsgemäß ausgeklügelte Sicherheitssysteme von Banken und Wall-Street-Firmen. Dadurch kannte sie sich im Internet mindestens genauso gut aus wie jeder erfahrene Hacker.

Das Haus, in dem sie wohnte, war ein klobiger Kasten aus gelbem Klinker an der Ecke 8. Avenue und 32. Straße. Die Tage verstrichen, ohne dass sie wusste, ob die Sonne schien oder ob es regnete. Ihre Rollläden waren ständig geschlossen. Sie sagte einmal, dass sie den Herbstbeginn daran erkannte, dass die Zentralheizung wieder warm wurde. Ich glaube, sie besaß noch nicht einmal einen richtigen Wintermantel. Der Hauseingang war nur wenige Schritte von der U-Bahn entfernt, mit der sie alle für sie wichtigen Adressen erreichen konnte. Und auf der anderen Straßenseite wurde in einem Dunkin’ Donuts und einem Dallas BBQ für ihr leibliches Wohl gesorgt. Sie lebte hauptsächlich von Grillrippchen und Kirschkrapfen.

Corinne lebte weltabgeschieden wie eine Nonne im Mittelalter.

Immerhin meldete sie sich, als der Portier sie anklingelte.

Ich hatte keine Ahnung, ob der Chip aus meinem Rücken außer geografischen Koordinaten auch Höhenangaben lieferte, daher drückte ich ihn vor dem Fahrstuhl in einen Kaugummi und klebte ihn unter eine Leiste.

Sobald ich über ihre Schwelle trat, wurde ich begeistert umarmt. »Wie geht es dir? Ich wollte dich schon vor einer halben Ewigkeit besuchen, aber das Krankenhaus hat niemanden an dich herangelassen und danach warst du wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe mindestens ein Dutzend Mal versucht, dich per Telefon oder E-Mail zu erreichen.« Sie betastete meine Lippe. »Hast du dich bei dem Unfall am Mund verletzt?«

»Entschuldige, dass ich mich nicht bei dir gemeldet habe. Aber ich hatte lange Zeit Schwierigkeiten, mit anderen Leuten zu reden. Jetzt geht es mir um einiges besser, zumindest physisch.« Ihr von dem Angriff auf mich zu erzählen, hätte sie nur noch mehr aufgeregt.

Sie drückte meine Hand, verscheuchte die Katze aus einem Sessel im Wohnzimmer und forderte mich auf, Platz zu nehmen. Ihre Katze, eine Colorpoint Perser, miaute ungehalten. »Und jetzt diese schlimme Sache mit Hal. Ich war völlig fertig, als ich gestern davon erfuhr.«

»Ich nehme an, er wurde nachlässig«, sagte ich.

»Das passiert sehr leicht. Ich habe es oft genug miterlebt. Das Zeug macht die Leute total fertig.«

»Ich wusste, dass sein Tod dich so tief treffen würde.«

»Nun, danke, dass du zu mir gekommen bist. Wir kommen zwar nicht mehr so oft zusammen wie früher, aber ich denke immer wieder an euch.« Corinnes auffälligstes Merkmal waren ihre wunderschönen braunen Augen. Im Augenblick glitzerten Tränen in ihnen. »Ich habe Hal um sein Elternhaus und seine Herkunft beneidet. Ich fand es immer seltsam, dass er ausgerechnet mit uns herumhing.«

Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Hätte ich nicht diesen ganzen Ärger gehabt, wäre ich schon viel früher zu ihr gekommen. Aber ich wollte ihr nicht noch mehr Kummer bereiten, indem ich ihr den wahren Grund für Hals Tod nannte.

»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«

»Ein Kaffee wäre nicht übel.«

»Schwarz, nicht wahr?« Während sie das sagte, ging sie bereits in die Küche. Es war eher eine rhetorische Frage.

Als sie zurückkam, konnte ich sehen, dass sie seit unserem letzten Treffen deutlich an Gewicht zugelegt hatte. Sie hatte schon immer über üppige weibliche Rundungen verfügt und dabei eine gute Figur gemacht. Daran änderten auch die zusätzlichen Pfunde nichts. Männer fanden vor allem Gefallen an ihrem Lachen und ihrer warmen Ausstrahlung. Es war mir ein vollkommenes Rätsel, weshalb sie sich so konsequent vor der Öffentlichkeit versteckte.

Sie reichte mir eine Kaffeetasse und ließ sich auf die Couch mir gegenüber sinken. Ihren Kaffeebecher hielt sie in beiden Händen wie einen Kelch. »Weißt du etwas von irgendwelchen Vorbereitungen für Hals Beerdigung?«

»Nein. Offenbar hat die Polizei seine sterbliche Hülle noch nicht freigegeben. So hat Laurel es mir zumindest erzählt.«

»Wie kommt sie denn damit klar?«

»Nur sehr schwer. Es gibt Riesenprobleme wegen des Nachlasses. Und zwar wegen Minas und von Peters Seite.«

Corinne seufzte. »Seine Mutter. Sie hat ihn behandelt wie einen Fisch im Aquarium. Bei ihrer Beerdigung konnte Hal sich kaum auf den Beinen halten, so sehr war er am Boden zerstört. Höchst seltsam, was er mit ihr gemacht hat. Peter ist doch jetzt in einem Pflegeheim, nicht wahr?«

»Er ist in einer wirklich schlechten Verfassung. Er muss gefüttert werden und erkennt niemanden mehr.«

»Wenigstens erfährt er auf diese Art und Weise nicht, was mit seinem Sohn geschehen ist.«

»Richtig. Ein seltsamer Trost.« Ich trank von meinem Kaffee. »Corrie, ich hatte gehofft, dass du mir bei einer Angelegenheit behilflich sein kannst. Hast du im Augenblick ein wenig Zeit?«

»Ich bin gerade dabei, eine Arbeit abzuschließen. Wie eilig ist es denn?«

»Sehr.«

»Worum geht es?«

»Einige Leute machen mir das Leben schwer. Sie wollen ein Artefakt in ihren Besitz bringen, das Samuel gehört hat, und sie wollen sich nicht zu erkennen geben. Die einzige Spur, die ich habe, ist eine ungewöhnlich Website mit einem Forum über Alchemie.«

»Alchemie? Du meinst schwarze Magie, Satanismus, etwas in dieser Richtung?«

»So verrückt nicht gerade. Sie sind durchaus seriös. Offensichtlich werden auf der Website Artikel über Dokumente aus der Renaissance und dem Mittelalter veröffentlicht, die gewisse esoterische Methoden zur Umwandlung von gewöhnlichen Metallen in Gold beschreiben.«

Sie lachte. »Du machst einen Scherz.«

»Ich weiß, es klingt verrückt. Aber diese Leute sind ziemlich unangenehm. Sie haben mich zweimal bedroht. Und was noch schlimmer ist, Hal hatte mit ihnen zu tun. Das habe ich gerade erst herausbekommen. Und ich muss wissen, wer diese Leute sind.«

»Zeigen sie sich auf dieser Website?«

»Nur mit Masken und ihren astrologischen Symbolen. Aber ich habe zwei Namen. Eris Haines und George Shimsky.«

»Nun, dann wollen wir mal nachsehen.«

Sie bat mich, einen Stuhl aus der Küche zu holen und in ihr Arbeitszimmer zu bringen. Im Gegensatz zu dem gemütlichen Durcheinander in ihrem restlichen Apartment sah es in ihrem Büro geradezu spartanisch aus. Keine Bücher, keine Akten, nur ein paar Kugelschreiber und Notizpapier. Die einzige Ausnahme war eine Kollektion Katzenspielzeug auf dem Fußboden. Der Kater kam hinter uns ins Zimmer, schnappte sich eine Maus mit Rissen in der Stoffhülle und begann mit den Krallen, ihre Innereien herauszuholen. Dabei verstreute er weiße Baumwollflocken über das gesamte Zimmer und fixierte Corinne herausfordernd mit seinen gelben Augen. Sie lachte. »Er ist nur wütend auf mich, weil ich ihn aus dem Sessel vertrieben habe.« Der Kater begann zu schnurren und strich an meinen Beinen entlang. Ich bückte mich und fuhr mit der Hand durch sein dichtes Fell.

Das amüsierte Corinne erst recht. »Jetzt versucht er, mich eifersüchtig zu machen.«

Drei Monitore standen auf ihrem Schreibtisch, jeder mit einem anderen Bildschirmschoner. Auf dem einen erklang eine Komposition von Bela Bartok zu Regen, der auf ein Feld voller Wildblumen herabrieselte, auf dem nächsten Bildschirm streichelte Meeresbrandung einen Korallenstrand und der letzte zeigte einen Wald in strahlenden Herbstfarben.

»Näher als auf diese Weise komme ich nicht an die Natur heran«, erklärte Corinne grinsend. Sie nahm Platz in einem Sessel, der derart technisch ausgereift erschien, dass man ihn eher als Pilotensitz in einem Kampfjet erwartet hätte. »Er ist maßgeschneidert. Stundenlang zu sitzen, hat unaussprechliche Auswirkungen auf deinen Rücken. Also, hast du nur Namen? Keine Geburtsdaten, sonstige Angaben, nichts?«

»Nur dies.« Ich reichte ihr die Visitenkarte, die Colin Reed mir gegeben hatte. »Die Telefon- und die Faxnummer sind falsch, demnach dürfte das auch auf den Geschäftsnamen zutreffen. Andererseits könnte Eris Haines am MIT studiert haben, und sie hat fürs Verteidigungsministerium gearbeitet. George Shimsky war Chemiker.«

»Damit müsste ich eigentlich etwas anfangen können.«

Ich schaute ihr zu, während sie Websites durchsuchte.

»Okay, über Haines kann ich nichts finden. Es ist gut möglich, dass es nicht ihr richtiger Name ist. Das Gleiche gilt für den Firmennamen. Shimsky machte sein Diplom mit der Bewertung ›Summa cum laude‹ im Jahr 1984 am MIT. Da war er gerade zwanzig Jahre alt. Ein Jahr später hatte er bereits fünf Patente angemeldet. Er arbeitete bei Dow Chemical und FMC. Hat es offenbar in beiden Firmen nicht lange ausgehalten. Gründete seine eigene Beratungsfirma, und dann kam es zur Katastrophe. 1998 kam er bei einer Explosion in seinem Labor beinahe ums Leben. Er wurde schwer verletzt und stieg aus.«

Sie unterbrach sich: »Himmel, hier steht, dass er versuchte, Metalle in Gold zu verwandeln. Wie verrückt kann man eigentlich werden?«, murmelte sie kopfschüttelnd. »Danach kann ich nichts mehr über ihn finden. Wie hieß diese Website, die du erwähnt hast?«

»Alchemy-Archives.com.«

Sie rief die Site auf und ließ sich einige Minuten Zeit, um sie gründlich zu inspizieren. »Da gibt es einige interessante Dinge, aber ich brauche eine Weile, um mir ein genaueres Bild zu machen. Hör mal, Johnnie, ich habe wirklich eine dringende Terminarbeit zu erledigen. Kann ich mich bei dir melden? Ich kümmere mich so bald wie möglich darum.«

»Klar. Ich finde es toll, dass du mir hilfst.«

»Ich bin da, wann immer du mich brauchst – das weißt du.«

»Oh, da ist noch etwas anderes, ein anderer Name – Hanna Jaffrey. Sie studierte an der Universität von Pennsylvania. Könntest du auch sie mal überprüfen?«

»Sonst noch jemand? Man könnte fast meinen, die ganze Welt sei hinter dir her.«

Babylon
titlepage.xhtml
s01-Titel.xhtml
s02-impressum-2011.xhtml
s03_widmung.xhtml
s04_zitat.xhtml
s05_vorbemerkung.xhtml
s06_karte.xhtml
s07_histor-vorbemerkung.xhtml
s08_prolog.xhtml
s09_Teil-1_kap01-04_split_000.xhtml
s09_Teil-1_kap01-04_split_001.xhtml
s09_Teil-1_kap01-04_split_002.xhtml
s09_Teil-1_kap01-04_split_003.xhtml
s09_Teil-1_kap01-04_split_004.xhtml
s10_teil-1_kap04-bild.xhtml
s11_teil-1_kap04-05_split_000.xhtml
s11_teil-1_kap04-05_split_001.xhtml
s12_teil-1_kap05-bild.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_000.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_001.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_002.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_003.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_004.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_005.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_006.xhtml
s13_teil-1_kap05-12_split_007.xhtml
s14_teil-1_kap12-bild.xhtml
s15_teil-1_kap12-18_split_000.xhtml
s15_teil-1_kap12-18_split_001.xhtml
s15_teil-1_kap12-18_split_002.xhtml
s15_teil-1_kap12-18_split_003.xhtml
s15_teil-1_kap12-18_split_004.xhtml
s15_teil-1_kap12-18_split_005.xhtml
s15_teil-1_kap12-18_split_006.xhtml
s16_teil-1_kap18-bild.xhtml
s17_teil-1_kap18-24_split_000.xhtml
s17_teil-1_kap18-24_split_001.xhtml
s17_teil-1_kap18-24_split_002.xhtml
s17_teil-1_kap18-24_split_003.xhtml
s17_teil-1_kap18-24_split_004.xhtml
s17_teil-1_kap18-24_split_005.xhtml
s17_teil-1_kap18-24_split_006.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_000.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_001.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_002.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_003.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_004.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_005.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_006.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_007.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_008.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_009.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_010.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_011.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_012.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_013.xhtml
s18_teil-2_kap25-38_split_014.xhtml
s19_teil2_kap39-autor_split_000.xhtml
s19_teil2_kap39-autor_split_001.xhtml
s19_teil2_kap39-autor_split_002.xhtml
s19_teil2_kap39-autor_split_003.xhtml