Zehn

»Bewegen Sie mal die Beine«, befahl der Arzt.

Ich versuchte es, schaffte es jedoch nicht.

»Sie sind gelähmt. Das hatte ich befürchtet.«

Es war nicht die Stimme des besorgt dreinblickenden Arztes, der mich im Krankenhaus zusammengeflickt hatte, sondern die einer engelhaften Ärztin. Ihr Haar schimmerte im Licht silbern; ihre eisblauen Augen, gesäumt mit blonden Wimpern, waren klar und wunderschön.

Das Gesicht des Engels verformte sich und ich sah Eris vor mir.

Eine Woge des Grauens drohte mich zu verschlingen.

Ich lag auf meinem Bett, nackt bis zur Taille, beide Handgelenke mit Handschellen an den stählernen Bettrahmen gefesselt. Ich versuchte, mich aufzubäumen, mich umzudrehen und die Beine oder auch nur eine meiner Zehen zu bewegen. Ich urinierte und konnte es nicht verhindern. Vom Bauch abwärts war mein Körper wie tot.

Ich wollte etwas sagen, aber die Worte kamen heraus wie das Bellen eines sterbenden Seehunds. Ich räusperte mich mehrmals, ehe ich es schaffte, etwas zu flüstern. »Was haben Sie mit mir gemacht?«

»Wir müssen reden.«

»Sie verdammtes Biest.«

»Bitte keine vulgären Schimpfworte in meiner Gegenwart.«

»Sagen Sie mir, was Sie getan haben.«

»Sie wurden stillgelegt. Wie ein Automotor, dem man ein paar Zündkerzen herausgeschraubt hat.«

»Haben Sie das Gleiche auch mit Hal getan?«

Eris runzelte die Stirn. »Wir sind nicht hierhergekommen, um über Hal zu sprechen. Sie können noch immer die Arme benutzen. Schreiben Sie mir auf, wo die Schrifttafel versteckt ist, oder ich ziehe ein paar weitere Zündkerzen heraus.«

Ich senkte die Stimme noch weiter, um sie zu zwingen, näher an mich heranzurücken. Wenn sie nahe genug käme, könnte ich versuchen, sie mit einem Kopfstoß zu treffen und ihr möglichst viel Schaden zuzufügen.

Sie schluckte den Köder nicht. »Reden Sie lauter. Ich kann Sie nicht verstehen.«

»Ich sagte, dass ich es nicht weiß. Mein Bruder Samuel hat sie hierhergebracht. Hal hat sie aus einem Lagerhaus entwendet und irgendwo versteckt. Sie haben ihn getötet und sich damit selbst ins Knie geschossen.«

»Sie haben heute Abend einen Mann getroffen, Tomas Zakar. Ich glaube, Sie beide haben sich über die Wiederbeschaffung der Schrifttafel unterhalten. Es hat keinen Sinn, mich anzulügen.« Sie betrachtete mich eindringlich, behielt aber genügend Abstand, so dass ich nicht an sie herankam. »Begreifen Sie alles, was ich sage?«

»Ich möchte wissen, was Sie mir gespritzt haben«, krächzte ich.

»Sie sind ein Weichei, John. Sie haben keine Ahnung, was richtige Angst ist.« Sie saß in einem Sessel neben mir, so dass ich sie sehen konnte. Sie hatte ihre Strickjacke ausgezogen. Auf ihrem Oberarm befand sich eine grüne Tätowierung. Es war ein Kreis mit einem Kreuz, das unten herausragte, wie das Symbol für »weiblich«. Ich hatte das gleiche Symbol für Venus auf der Alchemie-Website gesehen.

Ich beobachtete, wie sie ihr Oberteil bis zum Ansatz ihrer Brüste hochzog. Ihr gesamter Bauch war mit einem Netz feuerroter Striemen und Narben überzogen. Nicht ein Quadratzentimeter normale Haut war zu sehen.

Sie zog das Top wieder herab. »Ich kenne mich mit Schmerzen bestens aus. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einiges darüber beibringen.«

»Wie ist das passiert?«

»Während des Krieges in Bosnien. Zeigen Sie sich endlich kooperativer. Sehr viel Zeit bleibt Ihnen nicht mehr.«

»Das Ganze ist völlig sinnlos. Ich sagte Ihnen doch, dass ich keine Ahnung habe, wo die Tafel ist.« Offenbar hatte ich ihr Alter während der Party völlig falsch geschätzt. Wenn sie während des Kriegs in Bosnien gewesen war, musste sie viel älter sein, als ich angenommen hatte.

Kehrte etwa wieder etwas Gefühl in meine Beine zurück? Ich glaubte, den weichen Stoff der Bettlaken und einen stechenden Scherz in meinen Beinen zu spüren.

»Sie fangen an, mir auf die Nerven zu gehen«, seufzte Eris. Sie holte eine Injektionsspritze, die mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt war, aus ihrer Tasche. »Dieses Zeug nennt man China Cat. Es ist Heroin, das speziell behandelt wurde, um seine Reinheit zu steigern. Wenn ich Ihnen das injiziere, sterben Sie.« Ich spürte, wie die Nadelspitze über meine Haut kratzte, als sie sich vorbeugte.

Ich musste ihr irgendetwas geben. »Na schön, ich verrate es Ihnen. Aber nehmen Sie die Nadel weg.«

Sie drückte etwas fester, so dass die Nadelspitze sich tiefer in mein Fleisch bohrte. »Reden Sie.«

»Hal hat einen Hinweis hinterlassen, wo sie zu finden ist.«

Eris zögerte.

»Hören Sie, ich habe keine Lust, wegen einer Steinplatte zu sterben. Das müssen Sie mir glauben.«

Ich konnte die Nadel spüren, als sie den Druck weiter verstärkte. »Das ist nicht gut genug.«

Das Gefühl kehrte nun stärker in meine Beine zurück. Es fühlte sich wie ein kaltes Brennen an, das von den Fußsohlen zu den Schienbeinen hinaufwanderte. Bildete ich es mir nur ein oder nahm die Wirkung der Droge tatsächlich ab? Das wäre jedoch bedeutungslos, wenn sie die Spritze benutzte. Angst krampfte meine Eingeweide zusammen. Dann fiel mir die Kopie von Hals Spiel ein.

»Sie kannten Hal nicht. Wenn er sich zwischen einem Rendezvous mit Beyoncé und einem Brettspiel hätte entscheiden müssen, wäre seine Wahl auf das Brettspiel gefallen. Er hat eine Karte mit dem Versteck in Form eines Rätsels hinterlassen. Bisher habe ich es noch nicht lösen können, aber ich werde es schaffen.«

»Wo ist es?« Ihre Augen hellten sich auf.

»Schauen Sie in meiner Gesäßtasche nach.«

Sie nahm die Nadel weg und griff in meine Tasche. Ich war erleichtert, als sie tatsächlich ein Stück Papier hervorholte – ich war mir nicht völlig sicher gewesen, dass die Kopie tatsächlich noch dort war.

Eris betrachtete sie, als wäre es eine Landkarte, die sie zu Salomos Schatz führen konnte. »Die werden wir an uns nehmen. Vielleicht brauchen wir Sie dann gar nicht mehr.«

Hieß das, dass ich freigelassen wurde, oder würde man mir eine Ladung Heroin verpassen? »Sie brauchen mich«, sagte ich. »Diese Rätsel kann nur jemand lösen, der ihn gut gekannt hat.«

»Sie meinen, es ist eine Art Code?«

»So etwas Ähnliches. Ein Wort-Code. Wahrscheinlich eine Reihe von Anagrammen.«

»Zeigen Sie es mir.«

Ich versuchte den Kopf zu heben, war aber immer noch zu schwach, um ihn länger in der Luft zu halten. »Das kann ich im Augenblick nicht, aber Sie werden die Tafel ohne mich niemals finden. Ihnen würde ein Vermögen durch die Lappen gehen.«

»Wir haben andere Möglichkeiten …«

Als ich versuchte, sie anzusehen, verschwamm sie ständig vor meinen Augen.

Stimmen erklangen vor meiner Tür, gefolgt von lautem Klopfen. »John … John, bist du da?« Wildes Gekicher. Das war Nina, die ihre laute Party verlassen hatte wie ein Dachs seinen Bau. Dann eine männliche Stimme. »Er ist nicht da. Komm, gehen wir einfach rein und holen es.«

Wieder Nina. »Er sagte, er würde zu meiner Party kommen. Was ist, wenn er gerade jetzt hierherkommt?« Lautes Kichern. »Vielleicht sollten wir wirklich reingehen.«

Nina, du musst reinkommen. Geh nicht weg, betete ich im Stillen.

Eris sprang erschrocken hoch, machte ein paar Schritte zur Zimmertür und lauschte.

Wieder der Mann. »Gib mir den Schlüssel. Ich gehe rein und hole, was wir brauchen.«

Öffne die Tür. Gott helfe mir, mach sie einfach auf.

»Nein, das sollte ich lieber tun. Für den Fall, dass er doch da ist – dich kennt er nicht.« Ein kratzendes Geräusch. Das Knarren einer Tür, die geöffnet wurde. Flüstern.

Eris starrte mich drohend an und gab mir ein Zeichen, still zu sein. Sie verstaute das Rätsel in ihrer Tasche, zerzauste sich die Haare und öffnete ein paar Knöpfe ihrer Bluse.

Nina redete wieder. »Er wird total durchdrehen, wenn er da drin ist und schläft.«

»Wo steht er?«

»Im Esszimmer.«

Ihre Füße bewegten sich über den Teppichboden. Eris kam ins Wohnzimmer. »Hi«, hörte ich sie sagen. »Sie haben sich nicht gerade den günstigsten Moment ausgesucht.«

Nina sog zischend die Luft ein.

Ich wollte etwas rufen, aber die Droge hatte meine Stimmbänder immer noch voll im Griff.

»Oh!«, hörte ich Nina sagen. »Es tut mir schrecklich leid. Ich dachte nicht, dass jemand hier ist. Ich bin Johns Nachbarin.«

Ich sammelte meine gesamte Kraft und legte sie in meine Stimme. »Nina, hör nicht auf sie. Sie lügt.«

»Er ist betrunken«, sagte Eris schnell.

»Das bin ich nicht. Nina komm rein. Ins Schlafzimmer. Ich muss dich sprechen.«

»Hey.« Die Stimme des Mannes. »Was zum Teufel?« Die Wohnungstür schlug zu. Nina und ein Mann erschienen in der Schlafzimmertür. Innerhalb von Sekunden wechselte Ninas Gesichtsausdruck von Schock zu beschwipstem Lachen. Ihr Freund reagierte mit einem verärgerten Grinsen.

Sie schlug die Hände vors Gesicht, um ihr Kichern ein wenig zu dämpfen. »Oh, John. Ich wollte mir nur etwas Wein ausborgen. Wir haben keinen mehr. Ich entschuldige mich in aller Form.«

»Wo ist Eris? Die Frau?«

Der Mann wurde ernst. »Sie ist abgehauen. Sie ist weg.«

Nina hatte Mühe, einen weiteren Lachanfall zu unterdrücken. »Ich hätte niemals vermutet« – sie deutete auf mich und das Bett –, »dass du auf … so etwas stehst.«

»Ich werde noch nicht einmal versuchen, das zu erklären. Nehmt euch eine Kiste Wein, aber schneidet erst diese Dinger auf. In Samuels Schreibtischschublade liegt ein geeignetes Messer.«

Sie fand das Messer und kam zurück. Schneiden musste ihr Begleiter, weil die Plastikfesseln so dick und widerstandsfähig waren. Als ich endlich befreit war, versuchte ich, die Beine über die Bettkante zu heben, schaffte es aber nur, mich herumzuwälzen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Eine Woge der Benommenheit und Übelkeit überrollte mich. Nina, die endlich begriff, dass irgendetwas überhaupt nicht stimmte, fragte, ob sie die Polizei rufen solle.

»Nein, das hätte keinen Sinn. Kannst du mir einfach nur einen Kaffee aufbrühen? Und zwar einen starken.«

Ihr Freund meinte beiläufig, er hoffe, dass es mir bald wieder gut gehe, und kehrte dann schnellstens zu der Party zurück. Ich versuchte mehrmals, mich aufzurichten, und schaffte es, als Nina mit dem Kaffee hereinkam. Sie schlug vor, bei mir zu bleiben, bis ich wieder auf dem Damm war, doch ich bestand darauf, dass sie zu ihren Gästen zurückkehrte.

Ich trank den Kaffee und massierte meine Beine so lange, bis ich sie wieder benutzen und ins Wohnzimmer humpeln konnte. Ich schaute nach, ob die Wohnungstür geschlossen war, und sah meine Schlüssel auf dem Tisch in der Diele, wo ich sie deponiert hatte. Dann begab ich mich leicht schwankend ins Bad und stellte mich für eine halbe Stunde unter die Dusche.

Ich hörte den Motorenlärm und das Poltern der Müllwagen, die ihre Runde machten, um die Mülltonnen zu leeren. In der Ferne ertönte das Sirenengeheul eines Streifenwagens. Vier Uhr morgens. Ich schloss die Augen. In was für einem seltsamen Loch war ich gelandet? So wie es im Augenblick aussah, befand ich mich nach wie vor im freien Fall und war noch nicht auf seinem Grund angekommen.

Babylon
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