Neunzehn

Dienstag, 5. August, 7:30 Uhr

Das Museum of Modern Art war dienstags für das allgemeine Publikum geschlossen. Ich erreichte Claire telefonisch zu Hause und sie meinte, wir könnten uns gegen Mittag in der Dependance des MoMA in Queens treffen.

Ich rief Laurel an, die mir erklärte, sie habe nach unserem Gespräch am Vorabend kein Auge zutun können. Außerdem habe sie noch niemanden aus ihrem Freundeskreis erreicht und werde deshalb vorerst in der Stadt bleiben. Sie versprach mir, den Vormittag mit Tomas und Ari zu verbringen und mittags zum MoMA zu kommen.

Während ich mich anzog, schaltete ich die Fernsehnachrichten von NY1 ein. In einem kurzen Lagebericht über den Irakkrieg wurde gemeldet, dass mittlerweile im Durchschnitt täglich zwanzig Tote aus der Zivilbevölkerung zu beklagen seien und dass die Entführungen und Hinrichtungen wahrscheinlich in verstärktem Maße fortgesetzt würden. Ein paar Meldungen später folgte ein Bericht über eine Schießerei unweit der Penn Station. Gezeigt wurde ein Imbisswagen mit Einschusslöchern in den Aluminiumseitenwänden. Dann war Rapunzel zu sehen, wie er mit auf den Rücken gefesselten Händen zu einem Streifenwagen eskortiert wurde. Offenbar hatten Eris und der Mann im Narrenkostüm den Minisender in Rapunzels Lieferwagen aufgespürt. Aus dem Kommentar des Reporters ging hervor, dass Rapunzel wegen Handels mit verbotenen Substanzen und wegen Waffenbesitzes beschuldigt werde. Von Eris und ihrem Einsatzkommando war nicht die Rede.

Endlich mal eine gute Nachricht.

Ich musste mir darüber klar werden, ob ich meine Pistole mitnehmen wollte. Es tröstete mich einigermaßen, dass Eris offenbar meine Spur verloren hatte, und das Mitführen von nicht angemeldeten Schusswaffen war in New York absolut illegal – ich konnte es keinesfalls riskieren, damit erwischt zu werden. Selbst wenn sie mich wiederfinden sollten, konnte ich wohl kaum eine Schießerei auf offener Straße anzetteln und Gefahr laufen, unschuldige Passanten zu verletzen. Widerstrebend wickelte ich die Pistole in ein Handtuch und verstaute sie in meinem Reisekoffer, ehe ich das Haus verließ.

Draußen war die Morgenluft frisch und klar. Ich kaufte eine Times und machte mich auf den Weg zum Westway Diner, um dort zu frühstücken.

Ein Spruchband über dem Schaufenster verkündete, dass dieser Imbiss zum besten in Manhattan gekürt worden sei. Touristen würden sich zweifellos davon beeindrucken lassen, da die New Yorker gewöhnlich wussten, wo man am besten essen konnte, doch nur bis sie an anderen Imbissrestaurants vorbeikamen und feststellen mussten, dass auch sie die besten in Manhattan waren. Es kam im Gunde nur darauf an, wer, weshalb und zu welchem Zeitpunkt eine derartige Umfrage durchgeführt hatte. Ich hatte jedoch an dem Frühstück nichts auszusetzen, und der Kaffee weckte auf jeden Fall meine Lebensgeister.

Indem ich mir noch einmal die Fragen durch den Kopf gehen ließ, mit denen ich mich am Vortag herumgeschlagen hatte, nahm ich etwas wahr, das irgendwo am Rand meines Bewusstseins zu lauern schien. Während ich aß, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Und dann fiel es mir ein. Es kam mir fast so vor, als hätte der Kellner, anstatt mir die Rechnung vorzulegen, mir einen Haufen Gold auf den Teller geladen.

Es war Corinnes Bemerkung über die Beerdigung von Hals Mutter. Obgleich ich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Stadt gewesen war, wusste ich, dass Minas Beerdigung in der Kirche der Fürbitten in Hamilton Height’s stattgefunden hatte. Falls es dort ein Mausoleum der Familie gab, hätte Hal ungehinderten Zugang dazu gehabt. Es wäre ein hervorragendes Versteck gewesen.

Ich legte einen ausreichenden Geldbetrag auf den Tisch, um die Rechnung zu begleichen, und eilte zur U-Bahn. In der Station 155. Straße stieg ich aus und rannte fast die zwei Blocks bis zur Kirche der Fürbitten.

Eine Mauer aus taubengrauem Kalkstein schirmte den Friedhof vor der Straße ab. Mitten im Eingang hatte man zu Ehren von John Audobon, dem das Grundstück einst gehört hatte, ein hohes, mit in Stein gehauenen Vögeln und anderem Getier verziertes keltisches Kreuz aufgestellt. Das Gelände erinnerte eher an einen Park. Uralte Ulmen spendeten den Rasenflächen, die trotz der langen Hitzeperiode noch saftig grün waren, reichen Schatten. Neben Grabstätten mit umzäunten Grabsteinen waren zahlreiche Gräber auch nur mit schlichten Holzkreuzen markiert. Viele Gräber waren so alt, dass die Namen der Verstorbenen mit den Steinplatten, in die sie einst eingraviert worden waren, verschmolzen. Kein Besucher war zu sehen.

Der Anblick all der Grabsteine erinnerte mich daran, dass ich keine lebenden Angehörigen mehr besaß. Nach Samuels Tod war Evelyn die einzige Verwandte, die ich noch hatte. Ich hätte sie längst besuchen sollen. Obgleich erst Mitte fünfzig, hatte ihre Arthritis sich derart verschlimmert, dass sie mittlerweile auf ständige Pflege angewiesen war. Sie war ein paar Wochen nach meinem vierten Geburtstag zu uns gekommen. Es war erstaunlich, dass Samuel überhaupt so lange alleine durchgehalten hatte. Ein gelehrtenhafter, älterer Mann mit einer Vorliebe für Ruhe und Ordnung dürfte mit einem ungestümen Kleinkind nicht allzu leicht fertiggeworden sein. Die Geschichte von Evelyns Herkunft blieb mir stets verborgen, da sie niemals über ihre Jugend im Nahen Osten sprach. Kinder sind in ihrer Neugier kaum zu bremsen, wenn es um Geheimnisse geht, aber irgendwie wusste ich, dass Fragen nach ihrer Jugend oder weshalb sie aus ihrer Heimat geflüchtet war, nicht gestellt werden durften.

Während der Grundschule wickelte sie mir jeden Morgen ein sorgsam zubereitetes Pausenbrot in Wachspapier und eine der braunen Papiertüten, die sie nach ihren Einkaufstouren stets aufbewahrte. Sie packte das Paket in meinen Rucksack und begleitete mich die fünf Blocks bis zur Schule. Als ich älter wurde, war mir dieses Ritual zunehmend peinlich. Sie trug stets schwarze Kleidung, umflatterte mich wie eine wachsame Krähe und ließ mich nie aus den Augen. Sogar im Winter, den sie hasste, schlüpfte sie in ihre viel zu großen Galoschen und machte sich mit mir auf den Weg, wobei sie sich ständig über das Glatteis und die Schneehaufen beklagte. Ich konnte ihre Erscheinung im Vergleich mit den Müttern anderer Kinder an meiner Seite nicht ertragen und tat alles, um mich von ihrer schwerfällig einherstapfenden Gegenwart an meiner Seite zu befreien, aber trotz ihrer freundlichen und verständnisvollen Art konnte ich sie nie abschütteln.

Erst als ich im Teenageralter aufs Internat kam, erkannte ich, wie viel sie mir bedeutete. Von allen Menschen fiel es mir bei ihr am schwersten, sie von Samuels Tod zu informieren.

Ein Rundweg gestattete den Zugang zu einer Gruppe repräsentativer Mausoleen; nur die erschienen mir geräumig genug, um etwas darin zu verstecken. Wie kleine Villen standen sie am Rand des Weges. Zwei fielen mir sofort ins Auge, doch die trugen die falschen Namen: Garret Storm und Stephen Storm. Garrets letzte Ruhestätte war ein kunstvoller gotischer Prunkbau mit einem breiten schmiedeeisernen Tor und einem Giebeldach, dessen Rand mit eisernen Spitzen versehen war und auf dessen Mitte ein Kreuz prangte.

Ich suchte Minas Grab und hielt Ausschau nach Vanderlin, ihrem angenommenen Namen, und Janssen, ihrem Mädchennamen. Aber nach fünfzehn Minuten erfolgloser Suche gab ich es auf. Eines der größeren Mausoleen, ein vom Alter dunkelbraun verwitterter und mit Moos bewachsener Klinkerbau, trug überhaupt keinen Namen. Seine Tür war mit einem rostigen Vorhängeschloss gesichert. Falls Mina in einem Mausoleum zur ewigen Ruhe gebettet worden war, dann musste es dieses sein. Ich machte ein paar Schritte darauf zu, um nachzusehen, ob es kürzlich geöffnet worden war.

»Hallo, Sie da!«

Ein Mann kam auf mich zu. Er trug eine schwarze Lederweste, Bluejeans und ein Satinhemd. Eine klotzige Kette baumelte um seinen Hals.

»Sir«, sagte er, »Sie dürfen nicht hier rein.«

»Ich dachte, es wäre für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Tor stand weit offen.«

»Können Sie nicht die Hinweisschilder lesen? Darauf steht, dass Sie die Erlaubnis der Friedhofsverwaltung brauchen. Und Sie müssen einen Termin vereinbaren.«

»Tut mir leid. Meine Großtante ist kürzlich gestorben, während ich für einige Zeit außer Landes war. Sie soll hier beerdigt worden sein.«

»Ich verstehe.« Er kniff die Augen zusammen und musterte mich prüfend. »Was war ihr Geheimnis?«

»Ich verstehe nicht.«

»Ihr Geheimrezept für ein langes Leben. Die Menschen würden ein Vermögen dafür bezahlen.«

Offenbar machte er einen Witz auf meine Kosten. Ich wartete auf die Pointe.

»Die letzte Person, die hier beerdigt wurde, starb 1836. Damit wäre Ihre Tante reife einhundertsiebenundsechzig Jahre alt geworden. Ich hoffe für Sie, dass Sie ihre Gene geerbt haben.« Er brach in schallendes Gelächter aus.

»Dann hat man mir offensichtlich die falsche Grabstätte genannt.«

Tränen glitzerten in seinen Augenwinkeln, aber es waren keine Tränen des Mitleids. »Erwähnte man etwas von Trinity?«

»Ja, das hat man mir gesagt.«

»Gehen Sie zum Kolumbarium. Wir sind der einzige Friedhof in Manhattan, auf dem Sargbestattungen vorgenommen werden, doch mittlerweile gibt es nur noch Einäscherungen. Wahrscheinlich finden Sie die sterblichen Überreste Ihrer Tante dort.«

Eine Nische im Kolumbarium war sicherlich viel zu klein, um dort etwas Bedeutendes zu verstecken, aber ich würde auf jeden Fall nachschauen. Vielleicht hatte Hal dort eine Notiz oder weitere schriftliche Hinweise hinterlegt.

Die Angestellte im Urnenhaus erklärte mir, ich müsste auch für einen Besuch in ihrer Einrichtung einen Termin beantragen. Als ich ihr klarmachte, ich müsse New York noch an diesem Nachmittag verlassen, lenkte sie jedoch ein. »Wie lautete der Name?«

»Janssen.«

Ihre Finger flogen über die Tastatur ihres PCs. Sie blickte auf den Bildschirm und schüttelte dann den Kopf. »Kein Eintrag für Janssen. Vielleicht auf dem Friedhof, aber nicht hier in der Urnenhalle.«

»Okay. Könnten Sie denn mal unter Minerva Vanderlin nachschauen?« Ich buchstabierte den Namen.

»O ja. Da ist er. Die Nische gehört ihr nicht mehr. Ihr Sohn hat ihre Asche abgeholt.«

»Und wann ist das gewesen?«

Sie blickte wieder auf den Bildschirm. »Am 25. Januar. Vor einem halben Jahr.«

Die Urne, die ich im Schrank des Stadthauses gesehen hatte, dürfte höchstwahrscheinlich ihre sterblichen Überreste enthalten haben. Er hatte sicherlich ihre Asche an einem Ort ihrer Wahl verstreut, wie die Leute es sich des Öfteren nach ihrem Tod wünschen, und dann die Urne benutzt, um darin die Edelsteine aufzubewahren.

Ich ging wieder zur U-Bahn und war wütend. Hal hatte mich abermals überlistet. Ich war so sicher gewesen, auf der richtigen Spur zu sein. Die Enttäuschung war bedrückend.

Während ich auf den Zug wartete, hoffte ich, dass er einen Wagen mit Klimaanlage haben würde; ein Hauch kühler Luft wäre mir jetzt hochwillkommen. Der Weg vom Friedhof hierher war nur kurz gewesen, aber ich war trotzdem in Schweiß gebadet. Ein paar Schritte entfernt zogen zwei Jungen für die wartenden Fahrgäste eine kleine Show ab. Sie trugen beide weite Hosen der Größe XL, obgleich keiner entsprechend beleibt war, und übergroße T-Shirts, eines mit dem Konterfei Tupac Shakurs auf der Vorderseite, das andere mit einem Bild von Sean John. Der kleinere der beiden Jungen hatte ein Paar Air Jordan 13er Basketballschuhe an den Füßen, die ihn mindestens zweihundert Dollar gekostet haben mussten.

Ich beobachtete ihre Manöver und bewunderte ihre Geschicklichkeit. Ein Junge ergriff plötzlich die Fußgelenke des anderen. Dieser machte das Gleiche bei seinem Partner, so dass sie mit ihren beiden Körpern einen lebendigen Ring bildeten. Sie schlugen Purzelbäume über den Bahnsteig und taten das mit einer Eleganz, die sogar einen professionellen Akrobaten in Erstaunen versetzt hätte. Die Zuschauer applaudierten und warfen zur Belohnung ein paar Münzen auf den Bahnsteig, die von den Jungen eilends aufgesammelt wurden, ehe der Zug in den Bahnhof rollte. Dann schaukelten und ratterten wir mit zunehmendem Tempo über die Gleise, und ich genoss die Kühlhauskälte des U-Bahn-Waggons.

Babylon
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