Zweiunddreißig
Die unverwechselbare Vorderfront des Irakischen Nationalmuseums, die die Titelseiten der internationalen Presse in diesem Frühling beherrscht hatte, stand an der Kreuzung Qahira und Nasir hinter einem hohen schmiedeeisernen Zaun. Die sandfarbene Fassade des Eingangs – zwei durch eine Brücke über einem Bogengewölbe miteinander verbundene quadratische Türme – war ein attraktives Beispiel gelungener Museumsarchitektur.
Ein schwarzes Loch zwischen dem mittleren Fries und dem Dach des Gewölbebogens – der Geschosstreffer einer amerikanischen Kanone – erschien wie der Punkt eines Ausrufezeichens. Der Zugang durch den Bogen war jetzt unpassierbar, da er durch einen Panzer versperrt wurde.
Ein wenig spät, dachte ich grimmig. Wahrscheinlich stand er dort nur zur Schau. Der Komplex sah ziemlich verlassen aus. Sein Anblick erinnerte mich an die aufgegebenen Fabriken des sogenannten Rost-Gürtels, die um die Wende zum 20. Jahrhundert von einstmals blühenden Industrieunternehmen gebaut wurden und mittlerweile keinerlei Zweck mehr erfüllen.
Ich kannte die Geschichte des Museums. Auf dem Höhepunkt der britischen Macht im Nahen Osten, als die Grenzen des modernen Irak festgelegt wurden, gegründet, war es anfangs nur ein einziger Raum in einem Gebäude in Bagdad gewesen. Als mehr Platz gebraucht wurde, errichtete man am Tigrisufer ein kleines Museum. Im Jahr 1926 eingeweiht und eröffnet, war das Museum das Produkt einer engen Zusammenarbeit zwischen dem irakischen König Faisal und einer bemerkenswerten Engländerin namens Gertrude Bell. Al-Khatun wurde sie genannt. Sie war Forscherin, Schriftstellerin und Archäologin und widmete einen großen Teil ihres Lebens dem Schutz der mesopotamischen Kultur.
Das Museum, wie man es heute kennt, wurde in den 1960er-Jahren erbaut. Die Hauptgalerien waren in Gebäuden untergebracht, die um einen rechteckigen Innenhof angeordnet waren. Seit der Gründung des Museums war es immer wieder zu Plünderungen gekommen, doch die schlimmsten Übergriffe fanden während des Golfkriegs statt. Seitdem war es für die Öffentlichkeit geschlossen.
Nachdem ich durch das Tor gegangen war, reichte ich den Pass, den Ward mir wieder zurückgegeben hatte, einem amerikanischen Marineinfanteristen, der mir den richtigen Eingang zeigte. Eine ältere Frau mit Hornbrille und einem Hijab, die sich als Hanifa al-Majid vorstellte, erwartete mich. Dies war Tomas’ Kollegin. Ich hatte mit jemand viel Jüngerem gerechnet. »Herzlich willkommen, Sir«, sagte sie, nachdem ich sie begrüßt hatte. Ihr Englisch war holprig, aber wir konnten uns ganz gut miteinander verständigen.
Ich erinnerte mich daran, wie oft ich in meiner Jugend davon geträumt hatte, mit Samuel durch diese Flure zu wandern. Dass ich jetzt tatsächlich an diesem Ort war, überwältigte mich für einen kurzen Moment. Unser Weg führte uns durch die assyrische Galerie. An ihrem Eingang saßen die massigen Lamassu mit ihren Stierkörpern, ihren Flügeln, den Menschenköpfen, Haarzöpfen und gehörnten Helmen. Jede Statue verfügte über fünf Beine, die dergestalt angeordnet waren, dass sie von vorne, hinten und von der Seite betrachtet jedes Mal vierbeinig erschienen. Der Boden der Galerie war mit Schutt und Abfall übersät, aber die lebensgroßen Reliefs der assyrischen Könige und Apkallu ringsum im Saal waren Gott sei Dank unversehrt. Ich blieb vor dem wundervollen Porträt eines Mannes stehen, der die Zügel zweier Pferde in der Hand hielt. Es war wenigstens genauso perfekt ausgeführt, wie die viel später von den Römern und den Griechen geschaffenen Skulpturen.
Meine Führerin rief mich weiter. Unsere Schritte hallten in der Leere der Flure wider. Ich war zutiefst betrübt über das, was gestohlen oder zertrampelt und daher für immer verloren war. Nichts ändert sich. Alle mesopotamischen Städte waren im Altertum zerstört worden. Mehr als zweitausend Jahre später geschah genau das Gleiche ein zweites Mal.
Ich konnte erkennen, dass große Anstrengungen unternommen wurden, die Unordnung zu beseitigen, obgleich viele Bereiche noch in Trümmern lagen. Wir wanderten durch einen breiten Korridor mit kleinen, quadratischen Maueröffnungen auf einer Seite, durch die Tageslicht eindringen konnte. Auf einem Podest an der Seite stand eine Statue ohne Kopf. Als sie meinen Blick gewahrte, errötete Hanufa und meinte: »Der Kopf fehlte schon immer. Er verschwand vor längerer Zeit. Es waren keine Plünderer.« Ich konnte ihre tiefe Trauer über den augenblicklichen Zustand des Museums nachempfinden.
Ein irakischer Wächter mit einem AK-47-Sturmgewehr saß in einer der Restaurationswerkstätten an einem kleinen Tisch, umgeben von Regalen mit Hunderten von Tongefäßen jeglicher Art. Scherben lagen haufenweise herum; einige sogar noch mit den Registrierungsnummern des Museums versehen, aber alle ein Opfer der Plünderer, die hier gewütet hatten. Ich fragte mich, ob dies der Raum war, in dem Samuel die Schrifttafel aufbewahrt hatte.
Sie deutete auf die Trümmerhaufen. »Es tut mir leid – dass es hier so schlimm aussieht. Wir haben keinen elektrischen Strom. Die meisten Angestellten sind geflüchtet. Es wird lange dauern, all das wieder in Ordnung zu bringen.« Die arme Frau sah aus, als trüge sie die Last des gesamten Museums auf ihren Schultern.
Ich ging etwas schneller, um zu ihr aufzuschließen. »Haben Sie vielleicht ein Telefon? Ich muss ein dringendes Gespräch führen.« An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie mich nicht verstanden hatte. Ich tat so, als würde ich ein Telefon ans Ohr halten, und sie begriff, was ich meinte. Sie schüttelte den Kopf. »Nein – leider nicht.«
Abermals verließ mich alle Hoffnung. Der Versuch hatte sowieso wenig Aussicht auf Erfolg. Selbst wenn sie ein Telefon gehabt hätte, wäre ein Anruf nach New York sicherlich so gut wie unmöglich gewesen.
Sie nahm ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber vom Schreibtisch und schrieb eine Notiz, die sie mir hinschob. Sie lautete: Folgen Sie mir, bitte. Ich wollte etwas sagen, doch sie legte zwei Finger auf meine Lippen zum Zeichen, dass ich schweigen solle. Sie nahm das Blatt Papier, drehte es um und schrieb auf die andere Seite: Jemand wartet auf Sie. Sie stand auf und sagte laut genug, so dass der Wächter es hören konnte: »Bitte kommen Sie, ich hole Tee für uns.«
Mehrere Flure und Säle später trafen wir einen Orientalen mit grau meliertem Haar und Sonnenbrille. Die Frau machte einige Gesten in seine Richtung, als biete sie mich ihm wie ein Geschenk dar, lächelte mich flüchtig an und entfernte sich eilig. Mazare streckte mir eine Hand entgegen und sagte Hallo.
Ich wich einen Schritt zurück. »Ich hoffe, Sie haben heute nicht wieder irgendwelchen Sprengstoff bei sich. Und was für eine Überraschung. Sie sprechen ja Englisch.«
Er grinste. »Das Ganze tut mir leid.«
»Es tut Ihnen leid? Sie haben mich verdammt noch mal beinahe getötet!«
»Ich habe versucht, Sie zu warnen. Sie sollten näher zu mir kommen. Sie haben meine Zeichen zu spät verstanden.«
»Das war auch etwas schwierig mit vier Leuten im Rücken, die nur auf eine Gelegenheit warteten, mich zu erschießen.«
Sein Lächeln erstarb und er schaute auf die Uhr. »Tomas und ich gehen jetzt ein hohes Risiko ein, um Sie zu retten. Wenn Sie bei Ward bleiben, sind Sie morgen tot. Kommen Sie mit mir oder lassen Sie’s. Ich rate Ihnen, sich schnell zu entscheiden.«
Ich erinnerte mich an den Tunnel in der unterirdischen Stadt und daran, dass Mazare mir gewinkt und dabei etwas gemurmelt hatte. Möglicherweise hatte er tatsächlich versucht, mich zu warnen.
»Ich kann nicht mit Ihnen gehen. Sie halten in New York eine Frau gefangen. Sie werden sie töten, wenn ich fliehe.«
Mazare schüttelte resignierend den Kopf und ich las in seinem Gesicht aufrichtiges Mitgefühl. »Diese Frau – Laurel ist ihr Name, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich habe großes Mitleid mit Ihnen. Sie ist tot. Im Fluss ertrunken.«
O Gott! Das durfte nicht wahr sein! »Sind Sie sicher? Woher wissen Sie das? Hat Tomas es Ihnen erzählt?«
»Nicht Tomas – Ari. Er hat es in Erfahrung gebracht. Heute erst. In den Nachrichten hieß es, sie sei von der High Bridge in den Harlem River gesprungen, aus Trauer über den Tod ihres Mannes.«
So undeutbar sein Gesichtsausdruck auch war, diesen Hinweis auf die High Bridge und den Harlem River konnte er sich nicht aus den Fingern gesogen haben. Die Geschichte klang durchaus logisch. Als Ward und Eris mich nach Bagdad entführten, war sie zu einer Belastung geworden. Ward konnte mir immer noch damit drohen, ihr etwas anzutun, weil ich keine Möglichkeit besaß, seine Angaben zu kontrollieren. Mazare sprach wieder. Ich hörte ihm nicht zu, da die Neuigkeit mich am Boden zerstört hatte.
Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Ich sagte, wir müssen gehen. Sofort.« Er zerrte mich zu dem verstaubten Toyota-Kombi, der in einer schattigen Gasse draußen parkte. Er öffnete die Hecktür und stieß mich hinein, ehe er selbst einstieg und den Zündschlüssel ins Schloss steckte und startete.
»Bleiben Sie hinten, wo Sie niemand sehen kann. Ich bringe Sie zu Tomas.«
Ich ließ mich gegen die Seitenwand sinken und interessierte mich überhaupt nicht dafür, wohin unsere Fahrt ging. Er fuhr ein paar Minuten lang, bremste dann, kurbelte das Fenster nach unten und sagte ein paar arabische Worte zu einem Wächter. Eine Minute angespannten Schweigens verstrich, ehe er wieder aufs Gaspedal trat und weiterfuhr.
Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Mazare brach keine Geschwindigkeitsrekorde. Das heißt, er fuhr zwar mit einem Affenzahn, aber letztendlich nicht schneller als die meisten Iraker. Eine Viertelstunde später hielt er abermals an. »Kommen Sie jetzt nach vorne«, sagte er. Ich kletterte seufzend auf den Beifahrersitz. Wir parkten hinter einer Reihe ausgebombter Gebäude. Der Abfallgestank von draußen war betäubend. Überall lagen faulige Fischreste und Knochen herum.
»Sind das Ihre Kleider?«
»Die Hose und die Schuhe gehören mir. Das Jackett und das Hemd haben sie mir in New York verpasst.«
Er öffnete das Handschuhfach und holte etwas heraus, das aussah wie ein Mobiltelefon. Während er einen der Knöpfe auf dem Apparat gedrückt hielt, fuhr er damit in einem knappen Abstand über die Ärmel, die Revers und die Rückseite des Jacketts.
»Schlüpfen Sie aus dem Jackett und ziehen Sie das Hemd aus der Hose.« Er wiederholte den Vorgang mit meinem Hemd, warf dann einen Blick auf das Display des Geräts, schaltete es aus und steckte es wieder weg.
»Wonach haben Sie gesucht?«
»Mittlerweile sind sie in der Lage, Minipeilsender in Nähten zu verstecken. Wir müssen vorsichtig sein.«
Ich atmete mehrmals tief durch, um mich zu beruhigen, und dachte daran, welches Risiko dieser Mann wegen mir einging. »Vielen Dank. Ich weiß, wie gefährlich das ist, was Sie tun.«
Er zuckte die Achseln. »Ich tue, was Tomas von mir wünscht.«
Seine dunklen Augen musterten mich eindringlich, und er richtete den Zeigefinger auf mich wie ein Lehrer, der sich anschickt, seinem Schüler eine Strafpredigt zu halten. »Dort, wo wir jetzt hinkommen, sind Sie nur in meiner Begleitung sicher. Reden Sie mit niemandem.«
Wir überquerten eine Brücke und bogen in die Al-Rashid Straße ein, Bagdads Hauptgeschäftsstraße. In der Nähe der Brücke waren an den Gebäuden die Spuren des Krieges deutlich zu sehen: geborstene Fensterscheiben, herausgesprengte Fensterrahmen, Rußfahnen auf den Fassaden, schwarze Löcher in den Hausmauern.
Auf der Straße herrschte dichter Verkehr. Ständig die Hupe zu betätigen, gehörte zum Fahren genauso wie Bremsen oder Schalten. Autobusse schoben sich rücksichtslos in jede freie Lücke, halbwüchsige Jungen mühten sich mit Handkarren voller Waren ab, Automobile kämpften um jeden freien Zentimeter Fahrbahn. Ich kam mir fast vor wie auf dem Broadway.
Mit einem Ruck kamen wir zum Stehen. Wir wurden von allen Seiten eingekeilt. Abgase sättigten die Luft, die zum Atmen fast zu dick war. Mazare rang die Hände und fluchte.
Schließlich fand er eine Seitenstraße, wo er den Kombiwagen parkte. »Wir gehen zu Fuß weiter«, sagte er. Die Hitze setzte uns unbarmherzig zu. Ich stolperte neben ihm her, während Bilder von Laurel durch meinen Kopf geisterten. Wahrscheinlich hatten sie sie mit irgendeinem Beruhigungsmittel betäubt, um ihren Selbstmord überzeugender aussehen zu lassen. Hatte einer von Wards Männern sie auf den Arm genommen, sie über das Geländer gewuchtet und ihren Körper in die Tiefe fallen lassen? Selbst wenn sie unter Drogen gestanden hatte, dürfte sie einen kurzen Moment totaler Panik durchlebt haben, während sie dem dunklen Fluss in der Tiefe entgegenstürzte. Was für eine schreckliche Art zu sterben.
Hätte ich irgendetwas anders machen können? War ihr Schicksal vielleicht schon in dem Moment besiegelt gewesen, als wir anfingen, Hals Rätsel zu lösen? Alles, was ich berührte, war offenbar auf irgendeine Art und Weise zum Untergang verurteilt oder dem Tod geweiht.
Mazare schien sich ein wenig zu entspannen, als wir uns unter die Passanten mischten, obgleich er sich alle zwei Minuten umdrehte und zurückschaute.
Er vollführte eine ausholende Geste. »Das ist die Al-Mutannabi-Straße mit dem Buch-Bazar. Wir haben hier immer noch einiges an Kultur anzubieten, egal wie konsequent die Amerikaner versuchen, sie zu vernichten.« Falls er versuchte, mich zu beschämen, so gelang ihm das sehr gut.
»Kannten Sie meinen Bruder Samuel?«, fragte ich entrüstet.
»Ich habe ihn einmal getroffen.«
»Er war Amerikaner und tat alles, was er konnte, um die irakische Kultur zu retten. Er liebte diese Stadt.«
»Nun, dann haben seine Bemühungen aber nicht viel Erfolg gehabt.«
»Das ist aber nicht allein seine Schuld.«
Mazare lachte verächtlich und ich senkte den Blick. Auf der Al-Mutannabi fuhren keine Fahrzeuge, zumindest nicht, solange der Bazar geöffnet war. Es war eine kleine Zone des Friedens verglichen mit dem Treiben, durch das wir kurz vorher gefahren waren. Alte Gebäude, die zum Teil Buchläden beherbergten, schirmten die Straße ab. Bücherstapel bestimmten das Innenleben dieser Gebäude. Draußen dienten billige Plastikplanen auf dem Boden als notdürftiger Schutz des restlichen Warenangebots: jahrgangsweise geordnete Magazine, Prospekte, raubkopierte DVDs und dicke Schinken in englischer und arabischer Sprache. Hohe Stahlschränke, deren Türen offen standen, waren vollgestopft mit halb vermoderten alten Zeitungen.
Über einem Verkaufsstand für Plakate hing ein Bild von Saddam Husseins Gesicht, das mit einem schwarzen Kreuz bedeckt war. An einem benachbarten Stand war ein gerahmtes Porträt mit arabischer Unterschrift zu sehen. »Wer ist das?«, wollte ich von Mazare wissen.
»Ayatollah Muhammad Muhammad Sadiq al-Sads. Er ist im Februar des Jahres 1999 in Najaf einem Attentat zum Opfer gefallen. Ein im Irak von allen verehrter Mann«, antwortete er.
Fast alle Kaufinteressierten waren männlichen Geschlechts; nur wenige Frauen waren auf der Straße zu sehen. Wir gingen an einem freien Platz vorbei, der von drei Männern auf einer Plattform besetzt wurde. Zwei knieten und der dritte stand hinter ihnen und hatte einen Knüppel in der Hand, den er bewegte, als schlüge er auf die Männer ein. Ein begeistertes Publikum verfolgte das Geschehen mit lauten Kommentaren. »Schauspieler«, sagte Mazare. »Eine alte Tradition.«
Die Straße beschrieb eine leichte Kurve. Am Ende der Straße konnte ich die in der Sonne glitzernden Fluten des Tigris erkennen. Ein kleines Stück weiter auf unserem Weg deutete Mazare auf ein halbrundes einstöckiges Gebäude, vor dem lange Tischreihen aufgestellt waren. »Das Al-Shabandar. Eine berühmte Adresse in Bagdad.«
Das Kaffeehaus war gut besetzt, wieder nur mit Männern, von denen so gut wie alle rauchten. Einige sogen süßen orientalischen Tabakrauch durch ihre Wasserpfeifen, andere hatten Zigaretten angezündet. Ich glaubte, auch den Vanillegeruch von Haschisch wahrzunehmen. Man konnte die Vielzahl der Düfte in der Luft beinahe auf der Zunge schmecken. Gläser mit dampfendem Tee standen auf den Tischen. An der Decke drehte sich langsam ein Ventilator. Gerahmte Gemälde und Fotos in allen Größen und Formaten zierten die Wände – Porträts, Landschaften, Stillleben. Ein Stromgenerator brummte. Dominosteine klapperten. Zwei Backgammonspiele waren im Gange.
Ein Helikopter überflog uns in dem Moment, als wir uns setzten. Seine Rotoren ließen das Gebäude erzittern. Wenige Sekunden später ertönte in nächster Nähe eine mächtige Explosion. Eine Mörsergranate, vermutete ich.
Alles Leben im Raum erstarb.
Mazares Miene verfinsterte sich und er schüttelte den Kopf. »Sehen Sie uns an«, sagte er. »Wir stinken vor Angst.«
Ich beugte mich vor und senkte die Stimme. Zu wissen, das Laurel tot war, hatte alles von Grund auf verändert. Ich wollte mit dieser ganzen Affäre nichts mehr zu tun haben, egal wie. »Hören Sie, können Sie mich aus Bagdad rausbringen? Nach Jordanien oder in die Türkei? Ganz gleich wohin, es ist mir egal. Ich brauche Tomas nicht zu treffen und bin sicher, dass er auch froh sein wird, mich nicht zu sehen. Ich bin nämlich nur gezwungenermaßen hier.«
Er verwarf diese Möglichkeit sofort. »Davon hat Tomas nichts gesagt. Ich gehe uns Kaffee holen.«
Er kam mit zwei Tassen zurück und stellte sie auf den Tisch. Der aromatische Mokkaduft hätte eigentlich meinen Gaumen kitzeln sollen, verfehlte seine Wirkung jedoch total. Mazare blickte wahrscheinlich zum hundertsten Mal auf die Uhr, dann nach draußen und kontrollierte die Gesichter der Passanten. Wurde vielleicht schon nach mir gesucht? Er stellte seine Kaffeetasse unberührt auf den Tisch.
Ich suchte nach irgendetwas, um das unbehagliche Schweigen zu brechen. »Haben Sie mit Eris Türkisch gesprochen?«
»Ich bin Assyrer, wuchs jedoch in Istanbul auf. Wir Assyrer sind weit verstreut. Über ganz Europa. Einige leben sogar in Ihrer Heimat.«
Ein schriller Pfiff ertönte irgendwo auf der Straße. Mazare sprang auf.
»Kommen Sie. Lassen Sie den Kaffee stehen. Wir müssen sofort weg von hier.«
Er hatte es eilig, und ich hatte Mühe, in seiner Nähe zu bleiben. Er wollte nicht mit mir reden und presste die Lippen so fest zusammen, dass sie einen schmalen weißen Strich bildeten. Seine Blicke zuckten hin und her und suchten die Straße ab. Wir kehrten auf Umwegen zu unserem Kombi zurück.
Als wir wieder losfuhren, meinte ich: »Ich finde diese Stadtrundfahrt ja ganz nett, aber welchen Sinn hat das alles?«
»Es ist nicht so einfach, Wards Leuten zu entkommen. Sie verfolgen uns. Wir müssen sie irgendwie abhängen.«
»Und wohin fahren wir jetzt?«
»Zum Suq al-Haramia, dem Markt der Diebe. Kennen Sie ihn?«
»Ich habe schon mal davon gehört.«
Wir fuhren auf der Khulfafa-Straße nach Norden und entfernten uns vom Stadtzentrum. Am Rand von Sadr City trafen wir eine amerikanische Patrouille. Mazare hielt am Straßenrand, um sie passieren zu lassen. »Nach dem Anschlag auf die jordanische Botschaft ist es hier wieder schlimm geworden.« Er lachte spöttisch. »Nein, das ist falsch. Schlimm ist es hier eigentlich jeden Tag. Gibt es in Ihrer Sprache ein Wort für einen Zustand, der schlimmer ist als die Hölle? Wenn ja, dann trifft er auf das zu, was hier zurzeit im Gange ist.«
Mir kam der Gedanke, dass ich die letzte Woche in der gleichen Situation gelebt hatte. »Was ist passiert?«
»Eine Lkw-Bombe hat siebzehn Menschen getötet. Pkw wurden umgeworfen, teilweise aufs Dach gekippt. Und gestern haben sie vor dem Rabiya Hotel einen amerikanischen Humvee angegriffen. Dann kamen die Soldaten auf diesen Markt. Einige Männer probierten Gewehre aus, die sie kaufen wollten, und schossen damit in die Luft. Die Soldaten feuerten, weil sie glaubten, sie würden beschossen. Darüber herrscht große Wut. Nein, dieser Krieg wird noch lange nicht zu Ende sein.«
Wir ließen den Wagen abermals stehen und gingen zu Fuß weiter. Der Platz war riesengroß. Eine Schwarzmarktversion der Londoner Portobello Road. Samuel hatte erzählt, man könne dort fast alles kaufen, und er hatte recht. Trotz der Ereignisse vom Vortag hatte ein Waffenhändler die Ladefläche seines Kleinlasters mit Gewehren vollgepackt. Eine Gruppe Männer inspizierte sie, aber niemand hatte offenbar Lust, einen Probeschuss abzufeuern.
Ein anderer Händler stand hinter zwei großen Behältern – in der Mitte halbierte rostige Ölfässer, die mit Wasser gefüllt waren. Das Wasser schäumte von Fischen, die sich darin tummelten. Mazghouf, ein grüner Karpfen, der im trägen Wasser des Tigris lebte. »Giftige Fische«, sagte Mazare. »Früher waren sie mal gut. Jetzt ist dieser Fluss nur noch mit Dreck gefüllt.«
Auf einer schmutzigen Decke war eine seltsame Warenkollektion ausgebreitet: halb ausgedrückte Zahnpastatuben, rosafarbene Damenrasierer, halbvolle Flaschen Detol, Portionsschälchen Erdnussbutter und MREs – die Fertigmahlzeiten, mit denen die amerikanischen Soldaten verpflegt wurden. Mazare deutete zum Fluss. »Sie sieben den Abfall der Militärposten durch und verkaufen dieses Zeug weiter.«
Auf einem Tisch in der Nähe waren Telefone, DVD-Player, TV-Geräte und Computer aufgestapelt – Plünderungsgut oder Diebesbeute aus Privathäusern. Der nächste Händler bot seltsam aussehende Fleischbrocken an. Mazare verriet mir, dass es Schafslungen waren. Fliegenschwärme kreisten über der Ware. Das rohe Fleisch hatte sich bereits grünlich verfärbt und dampfte in der Hitze. Als ich mich vor Ekel schüttelte, zuckte er nur die Achseln. »Die Menschen verhungern. Was erwarten Sie?«
Ein weiterer schriller Pfeifton erklang. Niemand reagierte darauf, doch Mazare holte sein Telefon heraus und wählte eine Nummer. Nach einigen hastig hervorgestoßenen Worten packte er meinen Arm und wir kehrten auf einem anderen Weg zu unserem Wagen zurück. Ich hatte den Eindruck, dass die Dinge sich nicht so entwickelten, wie sie sollten, und nahm an, dass ihm die Optionen ausgingen, daher war ich überrascht, als er meinte: »Tomas stößt zu uns, wenn wir das nächste Mal anhalten. So Gott will.«
Diesmal verriet Mazare mir nicht, wohin die Fahrt ging. Wir wandten uns nach Südwesten und gelangten zu einer verkehrsreichen Straße, mehr konnte ich nicht feststellen. Er bog von der Straße in eine Einfahrt ein und wir wurden langsamer. Laut einem Hinweisschild befanden wir uns auf dem am Nordtor gelegenen Friedhof der im Jahr 1917, während des Kriegs gegen die Türken, gefallenen Soldaten des Commonwealth. Hatte Tomas sich bei Hal eine Scheibe abgeschnitten und sich ein ähnliches Versteck gesucht wie in New York?
Das verrostete Eisentor stand offen. Wir fuhren auf einem Weg, der eigentlich für Fußgänger reserviert war. Mazare wendete den Wagen, holte sein Telefon heraus und führte ein weiteres Gespräch. Nachdem er es beendet hatte, sagte er: »Wir warten hier auf Tomas. Er wird bald kommen.«
Ein breiter Hauptweg wurde von hohen, vergammelten Palmen gesäumt. Zwischen ihnen wucherte mannshohes Gras. Der Weg führte zu einem Mausoleum in Gestalt einer auf vier Säulen ruhenden Steinplatte über einem wuchtigen Sarkophag, offenbar die Grabstätte einer im Gegensatz zu den schlichten Kreuzen und verwitterten Gedenksteinen auf den Gräbern ringsum bedeutenden Persönlichkeit.
»Ist dies ein englischer Friedhof? So viele Gräber, es muss eine furchtbare Schlacht gewesen sein.«
Mazare schüttelte den Kopf. »Nicht alle sind im Kampf gefallen.«
»Wie denn?«
»Die Cholera.« Er deutete auf die Reihen weißer Kreuze. »Sie wurden krank und schissen sich hier zu Tode. So weit weg von zu Hause. Warum sind sie überhaupt hierhergekommen?«
Darauf wusste ich keine Antwort.
Vielleicht war es nur der Gegensatz zwischen der Stille des Friedhofs und dem Verkehrslärm in der Stadt, aber die Ruhe hier hatte alles andere als etwas Friedvolles. Kein Vogel zwitscherte sein Abendlied; keinerlei kleines Getier huschte durchs Gras. Wir warteten.
Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit und die Sonne stand dicht über dem Horizont. Ein Schatten, der nicht zu den Objekten in unserer näheren Umgebung passen wollte, erregte meine Aufmerksamkeit. Er erschien viel zu groß und bewegte sich eindeutig in unsere Richtung. Es war, als wäre ein Standbild zum Leben erwacht. Shim kam in Sicht.
Der weiße Humvee bretterte auf den Friedhof. An seiner Stoßstange Wards Limousine. Mazare stieß einen Warnschrei aus und ging auf Tauchstation. Er holte eine halbautomatische Pistole unter dem Sitz hervor. Ich streckte mich nach dem Türgriff. Mazare packte mich und zog mich zurück.
Wirklich tödliche Geräusche setzen meistens eher leise ein. Ich hörte in der Ferne einen Champagnerkorken knallen, gefolgt von einem lauten Donner. Die Druckwelle der Explosion schleuderte mich gegen die Tür. Eine zweite Druckwelle kam gleich hinterher und fixierte mich in meiner Position. Der stählerne Fensterrahmen unseres Kombis glühte und die Hitze versengte meinen Arm. Ich zog ihn eilig zurück. Der weiße Humvee explodierte in einer orangefarbenen Feuerwolke. Seine Türen flogen auf und Eris’ Körper stürzte heraus, ein blutiges Loch in ihrem Oberkörper und das Haar in hellen Flammen. Öliger schwarzer Qualm wallte in die Höhe.
Shim erreichte die Limousine, riss die Tür auf und zog Ward heraus. Dabei achtete er darauf, dass sein massiger Körper sich zwischen Ward und dem Ausgangspunkt der unerwarteten Attacke befand. Einem Presslufthammer nicht unähnlich, wühlte eine ganze Serie von Schüssen die Grasnarbe vor ihm auf. Einer der Wächter rollte sich aus der Limousine heraus und feuerte eine Salve in Richtung Mausoleum. Mazare drückte auf seiner Seite auf den Türgriff, stieß die Tür mit einem Fußtritt auf und feuerte ein paar Schüsse ab. Die Projektile bohrten sich in die linke Seite des Wächters. Sein Körper bäumte sich unter der Wucht der Einschläge auf und brach dann zusammen.
Ich hatte das Gefühl, als würde jeden Moment mein Kreislauf kollabieren, so heftig pumpte mein Herz das Blut durch die Adern. Seltsam war jedoch, dass es mir gleichzeitig so vorkam, als geschähe all das jemand anderem, nicht mir.
Eine zweite Granate traf die Frontpartie der Limousine und schleuderte den Wagen in die Luft wie ein Kinderspielzeug. Er landete auf dem Dach, während uns Granatsplitter um die Ohren flogen. Instinktiv riss ich die Hände hoch. Mazare warf sich zurück, als unser Fenster zerschellte. Ich konnte brennendes Gummi riechen. Ich versuchte mein Glück wieder an der Tür auf meiner Seite, doch meine Hände zitterten so heftig, dass ich kaum den Griff zu fassen bekam. Ich warf mich gegen die Tür und stürzte aus dem Wagen. Mazare folgte mir. Ich wollte aufstehen, war aber plötzlich zu schwach, um auf die Beine zu kommen. Mazare sah mich für einen kurzen Moment an, das Gesicht von Glasscherben zerschnitten, und rannte dann los.
Shim änderte die Richtung und versuchte, Ward hinter die zerstörte Karosserie der Limousine zu schleifen. Weitere Schüsse fielen. Er erschauerte und schwankte, setzte jedoch seine Bemühungen fort. Offenbar hatten die Kugeln bei ihm die gleiche Wirkung, als hätten sie einen der Grabsteine getroffen. Aber der Benzintank der Limousine explodierte, und Shim befand sich zu nahe am Wagen. Eine Feuerwalze rollte über ihn hinweg. Wards Kleidung fing Feuer; er brüllte und rollte über den Boden. Shim krümmte und drehte sich im lodernden Flammenmeer. Er schien zu schrumpfen und sackte zusammen.
Ich versuchte abermals aufzustehen. Eine weitere Salve traf die Motorhaube unseres Kombis. Ein greller Schmerz schnitt durch meinen Kopf. Ich glaubte plötzlich, weiß glühende Grabsteine zu sehen, als würden sie von innen heraus leuchten. Ich musste mich förmlich zum Atmen zwingen. Jemand beugte sich über mich und versuchte etwas zu sagen. Ich konnte einen Mund sehen, der sich bewegte, konnte jedoch kein Wort verstehen, als befände ich mich zwanzig Meter unter Wasser. Die Person verschwand. Und dann befand ich mich wirklich unter Wasser, grüne Fische schlängelten sich um meine Beine, Seetang klebte an meinen Armen, Laurels Körper wiegte sich in der Strömung, ihre Haut silbern wie die einer Meerjungfrau, das braune Haar breit auseinandergefächert, ihre Gliedmaßen bewegend, als tanzte sie. Meine letzte Empfindung war namenlose Überraschung, dass aus einem Friedhof plötzlich ein Fluss entspringen kann …