Einunddreißig

Samstag, 9. August 2003, 9:00 Uhr

Am nächsten Morgen traten wir aus dem Hotel in den gleißenden Sonnenschein. Sogar die Palmen schienen in der zermürbenden Hitze zu welken. Patrouillierende Soldaten musterten uns flüchtig und wandten dann die Blicke ab. Was unsere kleine Gruppe betraf, so standen wir alle unter äußerster Anspannung – vor allem Ward konnte sich kaum unter Kontrolle halten. Immer wieder wies er seine Helfershelfer mit scharfen Worten zurecht.

Mein Streitwagen stand schon bereit. Ein zerbeultes, orangefarbenes Taxi. Es war ein Datsun, gebaut Mitte der Achtzigerjahre. Es war schon erstaunlich, dass der Fahrer es überhaupt in Gang brachte.

Eris fuhr in einer Limousine zusammen mit Ward voraus. Dann folgte das Taxi, und den Schluss bildete der weiße Humvee mit den beiden Söldnern.

Ward hatte nicht zu viel versprochen. Die Adresse befand sich tatsächlich in der Nähe. Sobald wir das Wohngebiet erreicht hatten, dauerte es nur noch zehn Minuten, bis wir an einer Kreuzung anhielten. Die Häuser in dieser Gegend glichen Palästen – zumindest stellte ich es mir so vor, weil viele von ihnen hinter hohen Mauern verborgen waren. Viele wurden auch durch entschlossen dreinblickende Wächter geschützt. Offenbar wohnten hier eine Menge einflussreicher Leute. Aber sogar in diesem Viertel, einem der reichsten von Bagdad, konnte ich zerbombte Bauten sehen. Ich erinnerte mich, in den Nachrichten gehört zu haben, dass zwei Privathäuser mitsamt ihren zahlreichen Bewohnern zerstört worden waren, als ein nahe gelegenes Restaurant irrtümlich als Unterschlupf Saddam Husseins identifiziert und bombardiert wurde.

Ward stieg aus, kam zu mir und beugte sich ins Fenster. »Das Taxi fährt einen halben Block weiter bis vor das Haus. Der Humvee bleibt hier stehen und mein Wagen wird weiter oben in der Straße anhalten. Der Rest liegt ganz bei Ihnen.«

Mein Ziel lag von der Straße aus unsichtbar hinter einer massiven Mauer aus Basaltblöcken. Ich stand vor dem Tor, einer aufwändigen Gitterkonstruktion. Dahinter konnte ich einen gepflasterten Vorplatz und einen vor einem zweistöckigen Haus geparkten Mercedes sehen. Der Wagen war silbermetallic lackiert und nicht das Fahrzeug, das wir in der Türkei benutzt hatten. Junge Bäume überragten die Mauer und Kletterpflanzen zierten deren Krone. Ich drückte auf einen Klingelknopf, der sich in der Mitte eines auf Hochglanz polierten Messingschilds befand, und betete im Stillen um ein Wunder.

Nichts geschah. Ich murmelte einen Fluch. Konnte sich die Aktion unter Umständen als tragikomischer Reinfall entpuppen, wenn sich herausstellen sollte, dass niemand zu Hause war? Ich drückte abermals auf den Knopf und hörte ein Klicken, als sich die Haustür öffnete. Eine kleine Gestalt in langer Hose und Polohemd blickte zu mir heraus. Ein Mann, aber nicht Tomas.

Er wandte sich um, sagte etwas zu jemandem, der hinter der Tür stand, und kam dann auf mich zu. In etwa drei Metern Entfernung blieb er stehen, redete auf mich ein und machte keinerlei Anstalten, die Tür zu öffnen. Seine Worte klangen ähnlich wie das Assyrisch, das Tomas sprach. Ich lächelte und zuckte die Achseln. »Tomas Zakar«, sagte ich. »Ist er da?«

Der Mann schaute noch einmal zur Haustür, dann drückte er auf eine Taste einer Fernbedienung, die er in der Hand hielt. Das Tor schwang auf und schloss sich sofort wieder automatisch, nachdem ich hindurchgegangen war. Der Mann gab mir durch Handzeichen zu verstehen, dass ich ihm ins Haus folgen solle, und deutete einladend auf einen Sessel in der Eingangshalle. Die Minuten verstrichen. Der Raum vermittelte trotz seiner sparsamen Möblierung den Eindruck von Eleganz. Mehrere Kelims in leuchtenden Rot- und Beigeschattierungen hingen an den Wänden. Ein Strauß Rosen füllte eine hohe Bodenvase aus Alabaster. Ich fragte mich bei diesem Anblick, wo man in einer belagerten Stadt frische Blumen finden konnte.

Ein zweiter Mann kam herein, bekleidet mit der langen schwarzen Soutane eines Priesters. Sein Haar war dunkel, doch seine Augen leuchteten in einem hellen Blau und verliehen ihm ein geradezu ätherisches Aussehen. Er deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« Ich glaubte, in seinen Worten einen britischen Akzent wahrzunehmen.

Ich bemühte mich um mein ehrlichstes und zugleich harmlosestes Gesicht. »Mein Name ist John Madison. Ich bin soeben mit einer Kulturdelegation in Bagdad angekommen. Tomas Zakar gab mir diese Adresse und bat mich, ihn zu kontaktieren, wenn ich angekommen sei. Ist er vielleicht zu sprechen?«

»Zakar? Wie schreibt sich das?«

»Z-A-K-A-R. Zakar«, wiederholte ich.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Das tut mir schrecklich leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Hier ist niemand mit diesem Namen. Es ist zweifellos ein Missverständnis.«

»Das glaube ich nicht. Er gab mir diese Karte.«

Der Mann schenkte mir ein mattes Lächeln. »Das ist seltsam. Mein Vater besitzt dieses Anwesen seit einigen Jahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemandem ein solcher Irrtum unterlaufen konnte. Sind Sie alleine hierhergekommen?«

»Ja.«

»Dann rate ich Ihnen, sich in Acht zu nehmen.« Er deutete würdevoll zum Fenster. »In der Stadt werden jeden Tag Geiseln genommen. In dieser Straße wohnen zwei Ärzte. Der Sohn des einen wurde vor drei Wochen entführt. Er wurde noch immer nicht freigelassen, damit er zu seinen Eltern zurückkehren kann. Der andere Arzt fürchtet sich mittlerweile so sehr, dass er sich mit seiner Familie in seinem Haus verbarrikadiert hat. Es ist ein Wunder, dass Sie es überhaupt geschafft haben, lebend vom Hotel zu meinem Haus zu kommen.«

Ich wurde allmählich ungeduldig. Ich musste Ward irgendetwas mitbringen. »Sehen Sie, ich weiß Ihre Sorge um mein Wohlergehen und alle möglichen privaten Probleme, die Sie haben, zu würdigen, aber ich muss unbedingt mit Tomas sprechen. Ich weiß, dass sein Bruder Ari in London ist. Wir haben uns erst kürzlich in New York getroffen. Sie können mir vertrauen.«

Ein Anflug von Ärger huschte über sein Gesicht. »Sir, ich will Ihnen zugestehen, dass Sie jemand getäuscht hat, aber ich versichere Ihnen, dass ich noch nie von diesen Personen gehört habe. Ich denke, Sie sollten sich jetzt verabschieden.« Er zögerte. »Wohnen Sie in einem Hotel?«

»Ja. Im Al-Mansour.«

»Ich nehme an, Sie sprechen kein Arabisch?«

Ich nickte.

»Das Personal dort ist sehr kompetent und spricht Englisch. Ich würde Ihnen empfehlen, bei Ihrer Suche deren Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie verfügen über alle möglichen Adressbücher und andere Hilfsmittel.« Er ging zur Tür. »Ich fürchte, Sie haben mich in einem ungünstigen Moment aufgesucht. Ich habe zu tun, und Sie müssen mich jetzt entschuldigen.«

Ich bedankte mich bei ihm und ging hinaus. Was hätte ich sonst tun können? Ich hatte etwa zwei Minuten Zeit, um mir eine Geschichte auszudenken, die Ward überzeugen würde. Ich suchte verzweifelt nach einer Idee und fand etwas, von dem ich annahm, dass es funktionieren könnte.

Ward und Eris erwarteten mich schon, als ich zum Taxi kam. »Und?«, fragten sie wie aus einem Mund.

»Tomas war nicht hier, wie Sie vorausgesagt haben. Der Mann, mit dem ich sprach, behauptete, noch nie von ihm gehört zu haben. Aber ich habe etwas gesehen.«

»Und was?« Ward sah mich beschwörend an. Schweißtropfen perlten von seinen Schläfen zu seinem Kinn hinab.

»Der Typ hat gelogen. Zumindest Ari ist dort – dessen bin ich mir ganz sicher.«

»Und wie kommen Sie darauf?«

»Ich sah seine Kamera auf einem Schrank im Empfangszimmer. Dieselbe, die er auch in New York bei sich hatte. Wenn er hier ist, dann dürfte Tomas ganz in der Nähe sein.« Ich dachte, das klang überzeugender, als zu behaupten, ich hätte einen von ihnen in Fleisch und Blut gesehen.

Die rote Farbe seiner Haut verblasste nach und nach; die Anspannung, die zwischen seinen Augen und um seinen Mund tiefe Sorgenfalten hatte entstehen lassen, legte sich. Ward war eindeutig nicht darauf vorbereitet, das Haus in diesem Moment zu stürmen. Bis sie in das Haus eindrangen, seinen Besitzer verhörten und feststellten, dass es dort nichts Greifbares gab, das meine Story untermauerte, würde ich vielleicht einen Weg gefunden haben, um mich aus diesem Albtraum zu verabschieden.

Eris holte ihr Mobiltelefon hervor.

»Wen rufen Sie an?«, fragte ich.

»Es gibt einige Leute, die benachrichtigt werden müssen, wenn Ari Zakar zurückgekommen ist«, erwiderte sie. Sie entdeckte das Fragezeichen auf meiner Stirn. »Es hat nichts mit unserem kleinen Abenteuer zu tun. Ich revanchiere mich damit nur bei einigen wichtigen Leuten für den ein oder anderen Gefallen, den sie uns getan haben.«

»Warum haben sie ein solches Interesse an ihm?«

»Es geht um eine Geschichte, an der er arbeitet. Etwas über Abu-Ghuraib. Es hat nichts mit uns zu tun.« Sie tippte eine Nummer ein und übermittelte die Informationen, die ich ihr gerade gegeben hatte, an die Stimme am anderen Ende. Ich musste unwillkürlich lächeln. Ari konnte sich bei dieser Gefängnis-Story bedanken, dass er sicher in London war.

Als wir ins Hotel zurückkamen, blinkte der Rufknopf des Hoteltelefons. Ward nahm den Hörer ab, während Eris ins Schlafzimmer ging. Sie war im Begriff, mich wieder ans Bettgestell zu fesseln, als Ward sich bemerkbar machte. »Moment mal, es gibt eine neue Entwicklung.«

Ich drängte mich an Eris vorbei. Ward strahlte. »Glückwunsch, Sie hatten Erfolg.«

Ich schaffte es mühsam, mein Erschrecken über diese Nachricht zu verbergen.

»Man hat Ihnen gerade eine Nachricht übermittelt.«

»Ich bin hier offiziell gemeldet?«

»Das mussten wir tun.«

»Und wie lautet die Nachricht?«

»Sie sollen sich mit Tomas’ Kontaktperson am Museum treffen. Um fünfzehn Uhr.«

Babylon
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