Zwölf
An der Lösung von Hals Rätsel zu arbeiten hatte oberste Priorität, aber ich war von der Droge immer noch angeschlagen und brauchte ein wenig Zeit, um nachzudenken und mich zu orientieren. Ich wollte das Gewimmel der Stadt und den ständigen Verkehrslärm hinter mir lassen. Und die Sonne im Gesicht spüren.
Als ich mein Gebäude verließ, lief ich vor eine Wand aus warmer Luft. Es war draußen heiß genug, um direkt auf den Steinplatten der Bürgersteige Hamburger zu grillen. Die Luft war zum Schneiden dick und legte sich wie eine schwere Last auf meine Schultern. Von den Abgasen tausender Fahrzeuge hatte der Himmel am Horizont eine bräunliche Farbe angenommen. Schwefliger Geruch stieg durch die Gullydeckel auf und erinnerte mich daran, dass sich, wie in einer Stadt des Altertums, eine weitere Metropole unter Manhattan ausbreitete: ein Netz von Rohren, stillgelegten U-Bahn-Tunneln, alten Steinbrüchen und unterirdischen Flüssen, alle schon seit langem begraben und vergessen.
Ich holte meinen Wagen aus dem Parkhaus an der Thompson, das ich immer benutze, und kämpfte mich durch den Morgenverkehr nach Coney Island, während meine Gedanken sich weiterhin mit Hals Rätsel beschäftigten.
Als ich auf eine freie Rasenfläche mit Blick auf den Strand zusteuerte, reichte mir auf der Promenade eine Meerjungfrau einen Handzettel. Sie trug eine hellblonde, flatternde Lady-Godiva-Perücke, die über ihren Rücken herabwallte und die dicken schwarzen Wimpern unterstrich, die fast fingerlang erschienen. Ihr Oberkörper war in Chiffon gehüllt, der den Blick sofort auf ihre Brüste lenkte, ohne jedoch deren ganzes Geheimnis zu offenbaren. Ein langer, mit Strasssteinen besetzter Fischschwanz vervollständigte das Kostüm. Unten schauten grüne Satinschuhe hervor. Die Meerjungfrauen-Parade von Coney Island fand immer im Juni statt. Sie hatte sich offenbar ein wenig verspätet.
Ich fand eine freie Parkbank und setzte mich. Scharen von jungen Frauen aalten sich auf Strandmatten, spielten Volleyball oder spazierten am Wasser entlang. Ein Duft von Kokosöl und Vanille lag in der Luft. Eine der Volleyballspielerinnen trug nur ein rotes Bikinihöschen und ein mikroskopisch kleines Oberteil, das von locker gebundenen Knoten an Ort und Stelle gehalten wurde. Jedes Mal, wenn sie nach dem Ball sprang, hüpfte eine ihrer Brüste heraus. Sie hatte eine perfekte Technik entwickelt, den Ball zu schlagen und ihr Oberteil wieder zurechtzurücken, ehe ihre Füße den Sand berührten.
Nicht gerade der geeignete Ort für jemanden, der sich konzentrieren muss, dachte ich.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Hals Rätsel zu, als mein Mobiltelefon zwitscherte.
»Ist dort John Madison?«
»Ja«, sagte ich. »Wer spricht dort?«
»Hier ist Joseph Reznick. Sie haben mit meiner Sekretärin gesprochen. Sie sagten, Sie müssten dringend mit mir reden.«
»Danke, dass Sie mich zurückrufen. Andy Stein meinte, ich sollte mich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Richtig, jetzt erinnere ich mich an Sie.«
»Können wir uns irgendwo treffen, um über meine Lage zu beraten?«
»Wie wäre es gegen fünf? Klappt das?«
Hätte ich das Rätsel bis dahin gelöst? Konnte ich es mir leisten, mich auch nur für eine Stunde davon ablenken zu lassen? Nein. Ich musste dranbleiben. »Können wir das irgendwie auf morgen verschieben?« Der Mann musste mich für einen kompletten Idioten halten, dass ich erst dringend um einen Gesprächstermin bat und ihn dann absagte. Wenn ja, dann ließ er es sich nicht anmerken.
»Nun, das würde auch mir besser passen. Um die gleiche Uhrzeit?«
»Klingt gut.«
»Wurden Sie schon von der Polizei verhört?«
»Ja, es war ziemlich heftig.«
»Wurden Sie von niemandem vertreten?«
»Nein.«
»Willigen Sie nicht ein, wenn man Sie abermals verhören will. Wenn man Sie beschuldigt, nennen Sie nur Ihren Namen und sagen Sie sonst nichts. Irgendwann müssen Sie Ihnen gestatteten, einen Anwalt anzurufen. Sie werden nichts sagen, ehe wir uns nicht miteinander unterhalten haben. Es gibt kein Verhör, solange ich nicht neben Ihnen sitze.« Er nannte mir die Nummer seines Direktanschlusses und meinte, ich solle ihn sofort anrufen, falls ich wieder von der Polizei hören sollte.
»Vielen Dank. Übrigens, Andy sagte, Sie würden sich vielleicht über meine Lage informieren.«
»Ich habe ziemlich gute Verbindungen, ja. Es gibt zwei Punkte: Ihren Unfall und Hal Vanderlins Tod. Im zweiten Fall hängt alles in der Luft. Die Polizei hat nicht viel in der Hand, aber es ist ja auch noch ziemlich früh. Was den Unfall betrifft, fühlen die sich in einer ziemlich starken Position. Nur eine Sache hält sie davon ab, Sie wegen grob fahrlässiger Verkehrsgefährdung zu beschuldigen. Aber darüber sollten wir bei unserem Termin reden. Sie können mich auch nachts erreichen, falls es nötig sein sollte.«
Ich beendete das Gespräch und war froh, dass ich wenigstens eine Person kannte, die auf meiner Seite stand. Wenn sie mich anklagen sollten und damit durchkämen, wanderte ich ins Gefängnis. Bei dieser Vorstellung würde mir übel.
Die Neuigkeiten beunruhigten mich derart, dass ich mich nicht mehr so intensiv auf Hals Rätsel konzentrieren konnte, wie ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Ich schaute mich um, betrachtete meine Umgebung und versuchte, an etwas anderes zu denken. Auf einer Bank nicht weit entfernt von mir saßen ein Mann und zwei Jungen und nahmen ihr Mittagessen ein. Mehrere Fastfood-Kartons stapelten sich neben ihnen. Die Jungen, beide bekleidet mit identisch gestreiften T-Shirts, großzügig geschnittenen Shorts, die ihnen bis zu den Knien reichten, und Sandalen, waren etwa sechs Jahre alt. Sie kabbelten sich während der gesamten Mahlzeit. Einer stibitzte eine Pommes frites und der andere bewarf ihn dafür mit Ketchup-Tüten. Ich vermutete, dass der Mann ihr Vater war, denn er kommandierte sie mit jener Art von Befehlston herum, der alleine für Väter reserviert ist. Die meisten Bemerkungen waren an den dunkelhaarigen Jungen gerichtet, den Ketchup-Werfer, der, wie ich zugeben musste, einfach unerträglich war. Ihre Zankerei störte mich enorm.
Ich drehte mich zur Seite, streckte die Beine aus und legte den Kopf zurück, um möglichst viele Sonnenstrahlen einzufangen. Ich dachte an die vielen Tage in meiner Kindheit, die ich hier mit Samuel zugebracht hatte, und überlegte, ob irgendetwas in dem kleinen Kasten, den er mir gegeben hatte, für meine Suche von Bedeutung sein könnte. Der Inhalt war mir bestens vertraut, nachdem ich ihn im Laufe der Jahre immer wieder herausgeholt und betrachtet hatte: die sieben Goldmünzen mit ihren geheimnisvollen Bildern, das Medaillon aus Kupfer, der goldene Schlüssel. Nichts schien in irgendeiner Verbindung zu der Schrifttafel zu stehen.
Laute Rufe rissen mich aus meinen Gedanken. Die beiden Jungen hatten sich entfernt, und aus ihrer Kabbelei war ein heftiger Streit geworden. Der hellhaarige Junge traktierte seinen Bruder mit einem orangefarbenen Plastikbaseballschläger. Der dunkelhaarige Junge duckte sich, ging auf Distanz und kam dann zurück, um sich mit einem Fußtritt zu revanchieren. Dabei hatte er eine seiner Sandalen verloren. Beide schrien dabei so laut sie konnten; Papa blieb auf seinem Platz, vom Anblick des roten Bikinis wie verzaubert. Die Schreie der Kinder holten ihn zurück in die Wirklichkeit. Er stürmte los wie ein Stier auf den Torero. Er packte den dunkelhaarigen Jungen und versetzte ihm einen Klaps auf den Hintern, der kräftig genug war, dass ich ihn auf meiner Bank hören konnte. Der Junge stimmte ein lautes Geheul an und brach in Tränen aus. Ich krümmte mich innerlich, weil ich mir vorstellen konnte, was den zweiten Jungen erwartete.
Aber nein. Der Mann bückte sich, umarmte ihn und redete leise auf ihn ein. Er hob den Baseballschläger auf, ergriff die Hand des Jungen, ging mit ihm zum Wagen hinüber und half ihm beim Einsteigen. Der dunkelhaarige Junge blieb zurück.
Der Mann setzte sich in den Wagen und ließ den Motor laufen. Schließlich, immer noch weinend, aber mittlerweile etwas ruhiger, setzte der Junge sich in Bewegung, trottete zum Wagen und stieg ein. Während sie wegfuhren, kam ein leichter Wind auf und wirbelte die Fastfood-Kartons und die Tüten und Servietten durcheinander.
So fängt es gewöhnlich an, dachte ich. Wenn ein Kind dem anderen vorgezogen wird, entwickelt das andere im Laufe der Zeit einen tiefen Hass auf die ganze Welt.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Schrifttafel zu und ließ mir noch einmal alle Fakten durch den Kopf gehen. Samuel hatte den Text als eines der prophetischen Bücher des Alten Testaments mit dem Titel die »Last von Ninive« erkannt. Nachdem jemand versucht hatte, es zu stehlen, hatte er es weggeschlossen und sich sogar geweigert, es von seinen Assistenten genauer untersuchen zu lassen. Er hielt den Text nicht nur für echt, sondern glaubte, dass er eine geheime Botschaft enthielt. Die sich auf was bezog? Offenbar auf den alchemistischen Prozess der Goldherstellung. War das nur das Produkt der Fantasie eines alten Mannes, oder steckte in allem doch ein Körnchen Wahrheit?
Ein weiterer Anruf unterbrach meinen Gedankenfluss.
»Ich bin ja so froh, dass ich dich endlich erreiche«, sagte Laurel, als ich mich meldete.
»Ist alles in Ordnung?« Ihre Stimme zitterte, als hätte sie gerade wieder geweint.
»Nein. Die Frau, die du mir beschrieben hast – Eris, nicht wahr?«
»Ja, so heißt sie.«
»Sie hat versucht, sich an mich heranzumachen. Ich brauchte etwas fürs Frühstück. Und als ich von Gristedes zurückkam, hatte ich das seltsame Gefühl, verfolgt zu werden. Gip fing sie gerade noch ab, als sie nach oben wollte und so tat, als sei sie eine Botin, die etwas abzuliefern hat. Sie verließ das Haus, als er sie zur Rede stellen wollte.«
»Wahrscheinlich hat sie das Stadthaus durchsucht und nichts gefunden. Deshalb will sie offensichtlich deine Wohnung durchstöbern.«
»Da kann ich ihr nur viel Glück wünschen. Während der letzten beiden Monate habe ich mir Minas Sachen vorgenommen und Hal dabei geholfen zu entscheiden, was davon verkauft werden soll. Ich denke, ich hätte es sofort bemerkt, wenn er hier irgendetwas versteckt hätte.«
»Er hätte es tun können, während du nicht zu Hause warst.«
»Das ist natürlich möglich.« Sie klang nicht überzeugt.
»Hör mal, wie wäre es, wenn ich zu dir rüberkomme? Du solltest nicht alleine sein.«
»Könntest du das? Dann würde ich mich um einiges besser fühlen.«
Während der Rückfahrt in die Stadt schaltete ich das Radio ein. »Money for Nothing« von den Dire Straits drang aus dem Lautsprecher. Ob die Musik mir half, meine Gedanken zu ordnen, weiß ich nicht, doch während ich mir den Kopf darüber zerbrach, welche geheime Bedeutung in Nahums Prophezeiung stecken könnte, kam mir wieder dieser Geistesblitz, und diesmal entzündete er ein Feuer.
Ich hatte Hals Rätsel gelöst.
Als ich vor ihrer Tür erschien, begrüßte Laurel mich mit einem Kuss auf die Wange. Ich kann nicht behaupten, dass mir die Rolle als Retter in der Not nicht gefiel.
»Was ist mit deiner Lippe passiert?« Sie berührte vorsichtig die Schwellung in meinem Gesicht.
»Das ist nicht so schlimm. Viel größere Sorgen mache ich mir wegen dir. Und ich habe eine gute Nachricht. Möglicherweise habe ich die Lösung für Hals Spiel.«
»Wirklich?«
Wir gingen ins Arbeitszimmer, wo ich für sie eine Skizze anfertigte.
»Vier Buchstaben fehlen: r, a, n, s. Hal hat mit voller Absicht nicht alle Buchstaben benutzt, die ihm zur Verfügung standen. Alle Worte in dem Gerüst sollten miteinander verbunden sein, doch zwischen der linken und der rechten Gruppe besteht keine Verbindung. Ich musste nach einem Verbindungswort suchen. Indem ich die fehlenden Buchstaben zwischen dem t und dem Wort Mutation einfügte, erhielt ich das richtige Wort: Transmutation, die Bezeichnung für die Umwandlung unedler Metalle in Gold.«
»Du liebe Güte«, sagte Laurel. »Es ist mir richtig peinlich, dass ich das nicht gesehen habe. Besonders inspiriert ist das aber nicht. Gewöhnlich war Hal ein wenig origineller.«
Ich hatte das Bild des zweiten Rätsels bereits in meinem BlackBerry gespeichert, so dass Laurel nicht sehen konnte, wie ich die Überleitung vollzogen hatte. Ich rief das Bild auf und zeigte es ihr. »Erkennst du es?«, fragte ich.
»Natürlich. Melencolia 1 von Albrecht Dürer. Es hängt in Hals Arbeitszimmer.«