Einundzwanzig

Nachdem wir uns von Claire verabschiedet hatten, kehrten wir nach Manhattan zurück, wo wir in der Nähe von Jacob Wards Adresse ein Thairestaurant fanden. Laurel schickte einen Blick zum Himmel, ehe wir hineingingen. »Ich wünschte, es würde bald regnen«, sagte sie. »Diese Hitze ist unerträglich. Sie drückt einem richtig aufs Gemüt.«

Wir suchten uns einen freien Tisch. Der Kellner nahm unsere Bestellungen entgegen und kam mit unseren Getränken zurück. Tomas entschied sich für einen Kaffee, während wir anderen eiskaltes Tsing-Tau-Bier bestellten, das zumindest von innen für ein wenig Kühlung sorgte. Ich trug die Worte »Phrygian cap« in die freien Felder ein. Und eine neue Seite begrüßte uns.

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Laurel seufzte. »Das scheint ja kein Ende zu nehmen.«

»Nein«, korrigierte ich sie, »wir sind dicht davor.« Unter die Felder hatte Hal geschrieben: Du bist dicht vor der Ziellinie.

»Ich habe keine Ahnung, welche Absichten dieser Mann verfolgte. Das Ganze kommt mir vor wie eine enorme Zeitverschwendung«, sagte Tomas wütend.

Ari, wieder einmal der Friedensengel vom Dienst, schaltete sich ein. »Soweit ich mich erinnern kann, John, waren die vorhergehenden Schritte, die Sie uns gezeigt haben, nicht allzu kompliziert.«

»Ich hatte schon den Eindruck, dass die letzte Aufgabe uns einige abenteuerliche Klimmzüge abverlangt hat«, sagte Laurel.

»Für Sie vielleicht, Laurel. Aber er dachte nicht an Sie, als er dieses Rätsel zusammenstellte. Die Aufgaben waren für John gedacht. Warum hat er es eigentlich nicht Ihnen zukommen lassen? Sie sind doch seine Erbin, nicht wahr?«

Netter Versuch, Tomas. Teile und herrsche, wenn du kannst. »Wie Sie wissen, gehörte die Schrifttafel Hal gar nicht.«

Wir saßen schweigend da und versuchten zu lösen, was unserer Meinung nach nur ein Anagramm sein konnte. Ari, der von uns allen die englische Sprache am schlechtesten beherrschte, fand diese Aufgabe besonders schwierig. »Ich denke die ganze Zeit an meine Arbeit. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.«

»Meinen Sie die Geschichte, an der Sie in Washington gearbeitet haben?«, fragte Laurel.

»Ja.«

Als er erkannte, dass ich offensichtlich im Dunkeln tappte, wandte Ari sich an mich. »Ehe ich nach New York kam, haben mir einige Kontaktpersonen in Washington die Gerüchte bestätigt, die über Abu Ghuraib in Umlauf sind.«

»Was ist das?«

»Ein Gefängnis im Irak. Besatzungstruppen schicken Verhörspezialisten hinein, die scharenweise Gefangene foltern. Das Ganze spielt sich außerhalb des regulären militärischen Befehlsbereichs ab. Diese Neuigkeiten sind ein einziger Skandal. Wenn das an die Öffentlichkeit dringt, fliegt der gesamte Nahe Osten in die Luft.«

»Und das wissen Sie zweifelsfrei?«

»Daran arbeite ich, ja.«

Tomas mischte sich ein, wobei sein Zorn diesmal seinem Bruder galt. »Warum kommst du ausgerechnet jetzt damit heraus? Wir müssen uns auf dieses verdammte Spiel konzentrieren.«

Ari hatte darauf eine einfache Antwort: »Wir können nicht alle in der Vergangenheit leben.«

Tomas reagierte darauf mit einer Flut wütender assyrischer Ausdrücke.

Ich unterbrach den Disput, indem ich Tomas nach dem Sinn einiger Eintragungen in Samuels schriftlichem Nachlass fragte. »In seinem Tagebuch nannte Samuel zwei unbedeutende Könige, einer hieß Aza, der andere Mitta. Haben diese Namen irgendeine Bedeutung für Sie?«

Die schlechte Laune, die er schon die ganze Zeit zur Schau trug, steigerte sich zu unverhohlener Wut. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. »Sie kämen viel schneller weiter, wenn Sie sich auf die Suche nach der Schrifttafel beschränken würden, anstatt jedes Wort, das Samuel aufgeschrieben hat, auf die Goldwaage zu legen. Und da ist noch ein Punkt, den wir nicht geklärt haben. Wenn wir die Tafel gefunden haben, will ich, dass sie mir übergeben wird.«

»Ich bringe sie zum FBI«, erwiderte ich knapp.

Seine Lippen verzogen sich zu einer wütenden Grimasse. »Das lasse ich nicht zu.«

Der letzte Rest an Geduld, den ich mir noch bewahrt hatte, verflüchtigte sich in einem heftigen Wutausbruch. »Nach allem, was ich durchmachen musste, erwarten Sie, dass ich Ihnen ein Artefakt überlasse, das einige Millionen Dollar wert ist? Dafür würde man mich ins Gefängnis stecken. Sämtliche Arbeit, die ich in mein Geschäft gesteckt habe, wäre für die Katz.«

Tomas lachte freudlos. »Soweit ich gehört habe, wissen Sie gar nicht, was harte Arbeit heißt. Sie haben von Samuel gelebt. Und nun haben Sie Ihre goldene Gans getötet.«

Ich ballte die Fäuste und Ari legte beschwichtigend eine Hand auf meinen Arm. »Können wir uns vielleicht wieder wie erwachsene Menschen verhalten?«, fragte er. »Die Leute schauen schon herüber.«

Die Restaurant-Managerin blickte zu unserem Tisch und hob missbilligend die schmalen dunklen Augenbrauen. Ich senkte die Stimme. »Erklären Sie mir mal etwas. Bisher habe ich die Hauptlast getragen. Laurels und mein Leben sind in Gefahr. Mein Bruder ist tot. Laurels Ehemann ist tot. Was haben Sie eigentlich beigesteuert? Warum können Sie nicht ein wenig entgegenkommender sein?«

Der Blick, mit dem Tomas mich bedachte, war so kalt, dass er sogar eine Klapperschlange gelähmt hätte. »Glauben Sie, ich würde nicht zur Kasse gebeten? Sie wissen nicht das Geringste von mir. Die Gefahr, in der wir jetzt schweben, ist nichts im Vergleich zu dem Risiko, das ich eingehe, um die Schrifttafel dorthin zu bringen, wohin sie gehört. Irgendjemand muss sich schließlich auch um diese Angelegenheit kümmern.«

Laurel knüllte ihre Serviette zusammen und warf sie auf den Tisch. »Das reicht. Das Ganze gerät allmählich außer Kontrolle. Es ist sowieso Zeit, Ihren Professor zu besuchen, Tomas.«

Draußen fühlte es sich an, als wäre die Luft noch heißer geworden. Ein typischer August in New York. Jeder, der die Möglichkeit dazu besaß, hatte die Stadt verlassen. Was den Rest betraf, so konnte man, wenn man genau hinsah, den Dampf aus ihren Ohren aufsteigen sehen.

Jacob Ward wohnte in der 44. Straße West in einem Block vierstöckiger Klinkerbauten, deren winzige Vorgärten durch elegante schwarze Eisengitter vom Bürgersteig getrennt wurden. Das Actor’s Studio, wo Elia Kazan und Lee Strasberg ihre Technik des Method Acting entwickelt hatten, war ein nicht zu übersehender Blickfang in der Straße. Legionen von Filmstars – Brando, De Niro und Marilyn Monroe, um nur ein paar zu nennen – hatten hier ihr Handwerk gelernt und perfektioniert.

Als wir eintrafen, geleitete Ward uns in seine großzügig angelegte Eingangshalle. Er war ausgesprochen freundlich, als er zu Tomas sagte: »Sie haben Glück, dass Sie mich zu Hause antreffen. Meine Kinder sind mit meiner Frau und unserer Haushälterin in Westhampton. Ich bin nur wegen zweier wichtiger Termine hierhergekommen.«

»Haben Sie seit unserem letzten Gespräch eigentlich etwas von Hanna gehört?«, fragte Tomas.

»Nein, leider nicht. Aber das überrascht mich nicht. Wir haben nie regelmäßig miteinander korrespondiert.«

Er schüttelte mir die Hand. »Ich hörte, Sie seien Samuel Diakos’ Bruder. Ich kannte seine wissenschaftliche Arbeit. Das mit seinem Unfall tut mir leid.« Ich murmelte ein Dankeschön. Er ging mit uns nach unten und schlug vor, dass wir uns in den Garten setzten.

Es gibt Menschen, die strahlen eine Lebensenergie aus, die jeden in ihrer Umgebung verblassen lässt. Ward, ein unbestrittener Star im Hörsaal, lenkte viel davon in seine Lehrtätigkeit. Er sah eher aus wie ein Börsenmakler als wie ein Professor. Er hatte ein vierschrötiges, gerötetes Gesicht, durchaus attraktiv, wenngleich ein wenig zu feist. Sein Anzug und sein Oberhemd waren maßgeschneidert; auffällig, aber durchaus elegant geschnitten. Dazu trug er eine Duchamp-Krawatte und einen Ferragamo-Gürtel aus karamellfarbenem Leder. Eine protzige goldene Armkette zierte sein Handgelenk. Seine Fingernägel glänzten viel zu stark, um natürlich zu sein, und ich erkannte, dass sie ihr makelloses Aussehen einer professionellen Maniküre verdankten.

Im Garten nahmen wir in gemütlichen Liegesesseln Platz und erhielten als Erfrischung eisgekühltes Perrier-Mineralwasser mit Limonenscheiben. Dichter Efeu bedeckte die Außenwand des benachbarten Hauses wie ein grüner Wasserfall. Über uns flatterte ein Papierpapagei im Geäst eines Baums. Eine Gruppe großer Pflanzen mit breiten, dunkelgrünen Blättern und trompetenförmige weiße Blumen drängten sich wie Urwaldpflanzen auf den Seitenbeeten. Zwei Tontöpfe rechts und links der Küchentür waren mit Petunien bepflanzt, die den pudrigen, übertrieben süßen Duft eines längst aus der Mode gekommenen Altweiberparfüms verströmten.

Ward deutete mit seinem Trinkglas auf den Baum. »Würden Sie glauben, dass wir hier zwei Kardinäle haben? Mitten im Herzen der Stadt. Für mich ist dieses Viertel immer noch Hell’s Kitchen, obgleich sie ihm mit ›Clinton‹ einen neuen Namen gegeben haben. Eine Idee der Immobilienmakler. Aber ziemlich durchsichtig, würde ich meinen.«

»Soll das eine Anspielung auf Ihren ehemaligen Präsidenten sein?«, fragte Tomas.

Ward kicherte. »Nein, der hat sich in Westchester verkrochen.« Er beugte sich vor und setzte das Glas auf seinem Knie ab. »Ich bin zwei Straßen von hier aufgewachsen. In einer bescheidenen Etagenwohnung im dritten Stock. Meine Frau Miriam hat einiges geerbt. Die Kinder wurden älter und sie wollte etwas mit ihrer Zeit anfangen, daher nahmen wir unser Kapital und erwarben zwei dieser Anwesen. Uns gehört das direkt hinter uns und eins in der 47. Straße. Miriam hat sie von Grund auf renovieren lassen. In ein paar Jahren steigen die Immobilienpreise auf Höchstniveau und dann stoßen wir die anderen beiden Hütten ab.« Er lachte. »Dabei sieht es so aus, als wäre das Pennyglas bald leer. Aber nicht dies hier. Ich habe jedenfalls nicht vor, es aus der Hand zu geben.«

Es schien, als wäre es seine spezielle Eigenart, sehr persönliche Informationen mit jedem zu teilen, den er gerade erst kennengelernt hatte. Doch ich spürte, dass er mit dieser Taktik bewirkte, dass die Leute sich entspannten und ihre Befangenheit ablegten. Nach meiner Schätzung musste das Pennyglas noch ziemlich voll sein. Der Wert seines Immobilienbesitzes bewegte sich im Bereich von zwanzig Millionen und mehr, nicht mitgerechnet das, was sie in Westhampton besaßen.

Er hob sein Glas und schlug die Beine übereinander. »Ehe wir uns Nahum zuwenden, würde ich gerne wissen, weshalb Sie sich ausgerechnet für ihn interessieren. Er ist ziemlich unbedeutend. Daniel oder Ezechiel wären aus archäologischer Sicht um einiges interessanter.«

Tomas lächelte. »Ich stamme aus Mosul. Nahum hat den größten Teil seines Lebens in dieser Region verbracht, daher hat er für mich eine ganz spezielle Bedeutung.«

»Ich verstehe. Eine Vorbemerkung noch zur biblischen Interpretation. Sie beruht im Wesentlichen auf Mutmaßungen. Trotzdem hat sie sich zu einer kleinen Industrie entwickelt. Ich stütze mich auf den Masoretischen Text der hebräischen Bibel. Darauf basiert auch das Alte Testament der Christen. Zusätzlich zu direkten archäologischen Beweisen bediene ich mich auch noch anderer Quellen – mesopotamischer Schriften, römischer und griechischer Historiker –, um bestimmte Interpretationen zu verifizieren.« Tomas nickte zustimmend.

»Dann will ich Ihnen zuerst ein paar Hintergrundinformationen geben. Die erste vollständige Version der hebräischen Bibel lag erst um etwa 560 v. Chr. vor, also in der Zeit nach dem babylonischen Exil. Bis zum frühesten Text, der uns heute zur Verfügung steht, den Qumran-Rollen, klafft eine Lücke von dreihundert Jahren. Fragmente des Buchs Nahum finden sich in Nummer 4Q169 der Schriftrollen, dem sogenannten Pescher-Nahum, daher hatte ich das Glück, mich teilweise auch daran orientieren zu können.«

Wir befanden uns in der Obhut eines wahren Meisters und er genoss die Aufmerksamkeit seines Publikums sichtlich. »Wissen Sie, was ein muraqqa ist?«

»Das ist ein persisches Album, nicht wahr?«, sagte ich. »Wunderschöne Bücher mit aufeinanderfolgenden Papierbögen, die zusammengeklebt und mit Bildern, kunstvoller Schrift und verschlungenen Randverzierungen versehen wurden.«

»Genau die meine ich«, erwiderte Ward. »Ich betrachte die Bibel unter diesem Aspekt. Die Geschichten des Alten Testaments stammten ursprünglich aus mündlicher Überlieferung. In Schriftform finden wir sie erst seit Anfang des siebten Jahrhunderts vor Christus, als immer mehr Menschen in Juda lesen konnten. Ähnlich wie ein muraqqa ist die Bibel eine Sammlung von einzelnen Teilen. Im Laufe der Zeit wurden ganze Abschnitte entfernt, verändert oder durch neue ersetzt. Die Wortwahl und die jeweiligen Bedeutungen wechselten.« Er lachte. »Ich kenne Kollegen, die jahrelang wegen der Bedeutung von ein paar Sätzen miteinander gestritten haben.«

»Wurden in einigen Fällen die Änderungen nicht gezielt und mit Absicht vorgenommen?«, fragte Laurel.

Ward stimmte ihr zu. »Auf einiges trifft das sicher zu. Die Autoren der Bibel wollten einen theologischen Standpunkt darlegen, und Ereignisse wie der Untergang Ninives wurden beschrieben, um diese jeweiligen Gedanken zu illustrieren, und weniger um ein historisches Ereignis zu dokumentieren. Im christlichen Alten Testament wimmelt es von falschen Deutungen. Auge um Auge ist so ein Beispiel – was denken Sie, wenn Sie das hören?«

»Dass die Strafe dem Vergehen gerecht werden soll«, sagte Ari.

»Richtig. Aber ursprünglich sollte damit ausgedrückt werden, dass keine strengere Strafe verhängt werden soll, als das Verbrechen verdient. Also fast das Gegenteil der allgemein vorherrschenden Auffassung.«

»Es ist wie bei diesem alten Party-Spiel«, sagte ich. »Die Gäste stellen sich in einer langen Reihe auf und die erste Person flüstert ihrem Nachbarn einen Satz ins Ohr und beim letzten Gast in der Reihe klingt der Satz plötzlich ganz anders als zu Beginn.«

»Sie haben es erfasst. Ich habe noch ein anderes Beispiel: Armageddon. Was bedeutet das?«

»Weltuntergang?«, meine Laurel fragend.

»Nein. Es ist ein realer Ort, ein griechisches Wort, das eine Örtlichkeit bezeichnet – Har Megadon, den Berg und die Ebene von Megiddo, wo die letzte Schlacht stattfinden soll. Dieser Bedeutungswechsel ist bei weitem nicht so krass, aber er belegt, was ich meine. Keine Geschichte bleibt länger als nur für ein Paar Generationen unverändert. Was einmal alt war, ist plötzlich wieder ganz neu. Manchmal kommt es mir so vor, als sei diese Feststellung eine nahezu perfekte Beschreibung der Realität.«

»Sie reden von den mesopotamischen Mythen«, sagte ich.

»Genau. Nehmen Sie nur die alte Geschichte von Kain und Abel. Haben Sie sich nie über die darin enthaltenen Ungereimtheiten gewundert?«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich jemals eingehender darüber nachgedacht habe.«

»Da sind Abel, der Schäfer, und Kain, der Bauer. Warum war Gott so erzürnt über Kains Geschenk? War es nicht völlig natürlich, dass Kain ihm, als Bauer, die ›Früchte des Feldes‹ zum Geschenk machte? Warum war diese Gabe geringer als Abels, des Schäfers, der sich für ein Tier aus seiner Herde entschied?«

Tomas, offensichtlich bestrebt, sich von mir nicht übertreffen zu lassen, äußerte seine Meinung dazu. »Schafe waren wertvoller, weil sie auch als Opfergaben dienten.«

Ward trank einen Schluck Perrier und stand auf. Er unterstrich seine Ausführungen gerne mit ausladenden Gesten, und wenn er saß, litt sein Vortragsstil. »Man muss die Geschichte vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser Zeit betrachten«, sagte er. »Die meisten in Juda ansässigen Hebräer waren Nomaden und Schäfer. Ihre natürlichen Feinde waren Stadtbewohner. Kain ist Bauer und ist daher enger mit festen Ansiedlungen als mit dem Nomadenleben verbunden. Im späteren Verlauf der Genesis werden Sie sehen, dass Kain nach seinem Exil als Städtegründer in Erscheinung trat. Er symbolisierte die Städte, die in der Genesis als Orte der Sünde beschrieben werden – eine Auffassung, die sich übrigens bis auf den heutigen Tag gehalten hat. Alle loben und feiern die Natur, während Städte als notwendiges Übel betrachtet werden.«

Ward blieb vor dem Tisch stehen und zwang uns, zu ihm aufzuschauen. »Ich erlaube mir an dieser Stelle ein wenig künstlerische Freiheit und behaupte, dass die Autoren der Hebräischen Bibel eine große Nation bilden wollten. Das gelang ihnen auf glänzende Weise. Aber sie mussten die Bedrohung, die von ihren Feinden – den kanaanitischen und assyrischen Städtebauern – ausging, deutlich machen.«

»Ich denke, Sie gehen mit Ihrer Interpretation ziemlich weit. Sie können nichts von dem, was Sie behaupten, eindeutig beweisen.« Tomas schien sich über Wards Behauptung zu ärgern. Falls er früher tatsächlich in einem Priesterseminar studiert hatte, vertrat er notgedrungen die traditionellen Lehrmeinungen.

Ward vollführte mit dem Glas in der Hand eine ausholende Geste. Ich konnte die Eiswürfel im Mineralwasser leise klirren hören. »Die Genesis ist eine Parabel, aufgeschrieben von Nomaden, die sich durch Stadtstaaten bedroht fühlten. Lesen Sie mal die frühere mesopotamische Version der Geschichte von Kain und Abel. Sie ist völlig anders. Dort treten die beiden Hauptpersonen, Schäfer und Bauer, als Könige auf. Und es ging um eine Frau und nicht um irgendwelche Geschenke für Gott. Ein erheblich glaubwürdigerer Grund für einen Streit.«

Ich wusste, dass Samuel diese Auffassung geteilt hatte. Er glaubte, dass Mythen nicht erfunden wurden, sondern sich aus realen Ereignissen entwickelten, wofür die Geschichte von der Sintflut ein perfektes Beispiel war. Ehe das geschriebene Wort eingeführt wurde, konnten Informationen ausschließlich mündlich weitergegeben werden, und die Informationen, die für zukünftige Generationen lebenswichtig waren, mussten so dramatisch wie möglich formuliert werden – in Form von Gedichten. Die Reimform und der Sprachrhythmus vereinfachten die Weitergabe enorm.

Ward unterbrach meine Überlegungen. »Zurück zu Nahum. Als ich begann, das Buch zu studieren, bat ich einen befreundeten Schriftsteller, es für mich zu beurteilen. Es ist nicht sehr bekannt; er hatte noch nie davon gehört. Daher näherte er sich ihm von einem völlig neuen Standpunkt aus. Als Erstes überraschte mich, wie gut es ihm gefiel. Er meinte, es sei geradezu poetisch und in jeder Hinsicht überzeugend. Was ihn jedoch gleichzeitig verwirrte, war, dass Ton und Darstellungsweise sich nach dem ersten Kapitel grundlegend änderten. Das bestätigte, was ich glaube, auch wenn andere Gelehrte widersprechen.«

»Und was glauben Sie?«, fragte ich.

»Dass das gesamte erste Kapitel und der Anfang des zweiten Kapitels lange nach Fertigstellung des ursprünglichen Textes geschrieben und hinzugefügt wurden, ohne dass Nahum noch daran beteiligt war. Interessanterweise unterstützt die King-James-Bibel diese Theorie, da sie mit dem zweiten Kapitel beginnt, an der Stelle, die in der hebräischen Bibel als Kapitel 2, Vers 2 bezeichnet wird.«

Ein paar Regentropfen fielen. Der Himmel hatte sich schiefergrau verfärbt. Ein Wolkenbruch drohte. Wir standen hastig auf und eilten in die Küche. »Ich glaube, sich nach draußen zu setzen, war doch keine so grandiose Idee«, sagte Ward. »Ziehen wir doch nach oben in die Bibliothek um.«

Ward geleitete uns in ein Zimmer im ersten Stock. Die hintere Wand seiner Bibliothek bestand aus Regalen, die vollgestopft waren mit Büchern über Kunst und Fotografie mit Schwerpunkt New York; außerdem standen dort zahlreiche alte, nach Moder riechende Werke mit hebräischer Schrift auf den Rücken. Ein ganzes Regalbrett war für Werke über den Symbolismus in der religiösen Kunst reserviert. Zwischen sie hatte sich auch der ein oder andere Roman verirrt. Ich zog ein Exemplar des Großen Gatsby heraus, blätterte darin und stellte fest, dass es eine signierte Erstausgabe war.

Ich nutzte die Unterbrechung, um die Toilette im zweiten Stock aufzusuchen. Sie war mit einer Badewanne und einer Dusche ausgestattet, in welcher der Duschkopf an der Decke befestigt war, so dass das Wasser regengleich herabrieseln konnte. Dazu ein eigenwillig geformtes Porzellanwaschbecken, elektrische Zahnreinigungsapparaturen, die jeden Zahnarzt vor Neid hätten erblassen lassen, handbemalte Mailänder Fliesen, ein Fußboden aus Kiefernholzbrettern und makellos weiße Handtücher.

Ich warf einen Blick auf die Uhr und stieß einen lauten Fluch aus, als mir klar wurde, dass ich das Treffen mit Reznick, dem Strafverteidiger, völlig verschwitzt hatte. Mir war einfach zu viel durch den Kopf gegangen. Eilig wählte ich die Nummer seines Büros, konnte dort jedoch niemanden erreichen und musste mich damit begnügen, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen.

Als ich mich zum Gehen wandte, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Ein silberner Range Rover parkte direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Seine getönten Scheiben verhinderten, dass ich erkennen konnte, wer darinsaß. Ein Knoten bildete sich in meiner Magengrube. Ich öffnete das Fenster einen Spalt breit, konnte den Motor laufen hören und roch die Abgase. Ich musste irgendeinen Weg finden, das Fahrzeug näher in Augenschein zu nehmen, ohne dass Jacob Ward irgendetwas von meinen Problemen erfuhr.

Als ich in die Bibliothek zurückkehrte, stand er in imposanter Vortragshaltung vor dem Kamin und dozierte über irgendeinen biblischen Mythos.

»Ich denke, dass in Kürze die ersten Teilnehmer Ihres nächsten Treffens vor der Tür stehen«, sagte ich. »Ich hoffe, wir nehmen nicht zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch.«

Er schaute auf die Uhr. »Wenn Sie jetzt schon kämen, wären sie eine Stunde zu früh hier. Ich habe noch über eine Stunde Zeit. Aber wie kommen Sie darauf?«

»Vor Ihrem Haus steht ein Geländewagen mit laufendem Motor.«

Er ging zum Fenster, blickte hinaus und lachte schallend. »Es ist halb sechs. Das ist mein Nachbar Lawrence Barry. Meine Kinder nennen ihn Larry-Barry, den Dreißig-Minuten-Mann. Er taucht jeden Tag um diese Uhrzeit hier auf und sitzt genau eine halbe Stunde lang in seinem Wagen.

»Nur um einen Parkplatz zu kriegen?«

»Man kann nicht vor achtzehn Uhr parken. Ein Bewohner in unserem Block machte einmal den Fehler, diesen Platz zu besetzen, fünf Minuten bevor Larry erschien. Der Mann war gerade erst eingezogen und hatte keine Ahnung, dass er einen Riesenfehler gemacht hatte. Er erlebte danach jeden Morgen eine unangenehme Überraschung. Ein Kratzer im Lack in der Nähe des Türgriffs, eine leere Cola-Flasche auf der Motorhaube, Hundedreck an der Stoßstange. Jeden Tag war es irgendetwas anderes. Nach zwei Wochen wurde ihm klar, was los war, und seitdem ist dieser Platz für Larry reserviert. Ich lasse meinen Wagen immer auf dem Universitätsparkplatz stehen und fahre mit der U-Bahn nach Hause. Mir ist dieses ganze Theater einfach nur lästig.«

Ward ging hinaus, um für uns etwas zu trinken zu holen, und kam mit einer Karaffe Eiswasser und einem Teller voller Kekse zurück. Er ließ sie herumgehen. »Das sind die besten. Mit Halbbitterschokolade und Erdnussbutter. Sie kommen aus Levain’s Bakery. Es ist immer gut, etwas Süßes zum Knabbern zu haben, wenn einen am Nachmittag der Hunger quält.«

Er hatte wirklich das unbestreitbare Talent, Leuten ein Gefühl der Gemütlichkeit und Ungezwungenheit zu vermitteln. Ich konnte verstehen, weshalb er so beliebt war. Aber ich nahm auch einige nicht ganz so harmonische Zwischentöne wahr. Er zog ganz eindeutig eine Show ab. Ich fragte mich, was für ein Mensch sich hinter dieser Fassade verbergen mochte.

Ich schaute zu Laurel. Sie war blass, wirkte nervös und lächelte nicht, als sie meinen Blick auffing. Ich erkundigte mich, wie sie sich fühle. Sie meinte, sie habe leichte Kopfschmerzen, könne es aber noch einige Zeit aushalten.

Ward schien nichts zu bemerken und fuhr fort. »Nahum heißt so viel wie ›Tröster‹. Das ist ein wenig seltsam. Wen tröstet er? Ganz sicher nicht die Assyrer. Man könnte annehmen, dass die Judäer mit Zufriedenheit zur Kenntnis nahmen, welches schlimme Schicksal ihre Feinde heimgesucht hatte. Aber in dem Werk sind auch versteckte Warnungen für sie enthalten, was ihnen blüht, wenn sie fremde Götter verehren.«

Ward ließ den Blick in die Runde schweifen, um sich zu vergewissern, dass wir ihm weiterhin aufmerksam zuhörten. Man konnte fast im Hintergrund den gedämpften Trommelwirbel hören. »Ich glaube, dass das Buch Nahum keine Prophezeiung enthält, sondern ein Augenzeugenbericht über die Niederwerfung und Zerstörung Ninives durch die Meder und die Babylonier ist. Ich wies ja bereits darauf hin, dass das erste Kapitel viel später hinzugefügt wurde.

Sie können sich gewiss vorstellen, dass ich damit keine sonderlich populäre Auffassung vertrete, aber ich habe einen interessanten Verbündeten«, dozierte Ward weiter. »In der King-James-Version der Bibel finden wir das Buch Nahum sprachlich in der Zukunftsform. Wahrscheinlich hatten seine Übersetzer den Eindruck, dass der hebräische Text, der im Wesentlichen im Präsens verfasst war, nicht ›prophetisch‹ genug klang. Und es gibt noch eine Anzahl weiterer Hinweise, die enthüllen, dass Nahum durchaus über die Schlacht Bescheid wusste.

In den beiden ersten Zeilen von Kapitel 2, Vers 4 ist von roten Schilden und in Scharlach gekleideten Soldaten die Rede. Das ist eine ziemlich genaue Beschreibung der Meder. Laut babylonischen Berichten leitete Kyaxares II., König der Meder, die Schlacht und wurde dabei von den Ummamandu, einem skythischen Stamm aus dem Norden, und den Babyloniern unterstützt. Die Meder waren tapfere Kämpfer, die am liebsten rote Kleidung trugen, um mögliche Wunden, die sie sich im Kampf zugezogen hatten, zu verbergen. Das hielt die Kampfmoral der eigenen Männer hoch und vermittelte den Feinden einen Eindruck von Unbesiegbarkeit.

Nahums Kapitel 2, Vers 7, ›Die Tore (oder Schleusen) an den Strömen werden erbrochen: da verzagt der Palast‹, wird oft als Beweis herangezogen, dass das Buch eine Prophezeiung enthält.« Er wandte sich an Tomas. »Vielleicht können Sie uns an dieser Stelle weiterhelfen.«

Ausnahmsweise schien Tomas erfreut zu sein, in die Diskussion miteinbezogen zu werden. »Bisher wurden keine Beweise für eine Überschwemmung Ninives gefunden. Für Feuer schon – die Stadt wurde zu großen Teilen niedergebrannt. Bisher wurden erst fünf der fünfzehn Tore Ninives ausgegraben: Halzi, Shamash, Adad, Nergal und Mashki. Rüstungen und Skelette, die an den Toren Halzi und Adad gefunden wurden, ließen einige Archäologen zu der Schlussfolgerung gelangen, dass an diesen Stellen die Angriffe am heftigsten erfolgten. Aber wir wissen, dass zwei Tore rechts und links des Punktes standen, wo der Fluss Khosr in die Stadt floss. Es ist durchaus möglich, dass diese Stellen – ich meine die Flusstore – zuerst angegriffen und geschleift wurden und dass die Soldaten auf diesem Weg ungehindert in die Stadt eindringen konnten. Wahrscheinlich ist es das, was in dem Text gemeint ist.«

»Eine derart genaue Schilderung legt die Vermutung nahe, dass es sich um einen Augenzeugenbericht handelt und nicht um eine Prophezeiung«, pflichtete Ward ihm bei. »Was die Person Nahums betrifft, ganz gleich, ob das sein richtiger Name war oder nicht, stelle ich mir Folgendes vor: Er war ein begabter hebräischer Schreiber, der als junger Mann nach Ninive verschleppt wurde und für den berüchtigten Tyrannen Assurbanipal arbeiten musste. Der König hatte die umfangreiche Bibliothek aus Schrifttafeln, die in Ninive ausgegraben wurden, zusammengetragen. Sie bestand zum größten Teil aus Kopien babylonischer Texte, daher wissen wir, dass er viele talentierte Schreiber brauchte. Im Buch Nahum sind zahlreiche assyrische Begriffe enthalten, was ich als weiteren Beweis für meine Theorie werte. Nahums eigene Vorfahren erlebten wahrscheinlich den Terror der assyrischen Angriffe auf Samaria am eigenen Leib. Das alleine würde den ganz persönlichen Hass erklären, der in seinem Text zum Ausdruck kommt.«

Ich hatte eine Frage. »Als Ninive unterging, musste Nahum da nicht nach den Maßstäben der damaligen Zeit ein alter Mann gewesen sein?«

»Ja«, antwortete Ward. »Wahrscheinlich über sechzig und mit nicht mehr sehr vielen Jahren vor sich.« An den Fingern zählte er die nächsten Punkte auf. »Zuerst einmal ist das Buch so etwas wie ein Brief, mit dem Nahum seinen Kontaktpersonen in Juda einen genauen Bericht von den Kämpfen zukommen lässt. Zum Zweiten schickt er damit den Menschen in Juda eine Nachricht und warnt sie davor, Götzen und fremde Götter zu verehren. Drittens hat der Text noch eine weitere Funktion – nämlich die Macht zu schwächen, die die Göttin Ischtar über die Herzen und Gedanken der Menschen ausübt. Und viertens befriedigt das Buch Nahums eigenes Bedürfnis, seinen Rachegefühlen Luft zu machen. Er nimmt Ninives Untergang mit unverhohlener Genugtuung zur Kenntnis.«

Keiner von uns erwähnte natürlich den fünften Punkt: Nahums verborgenen Hinweis auf das Versteck der von Assurbanipal auf seinen Feldzügen erbeuteten Schätze.

Babylon
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