Fünf
Sonntag, 3. August 2003, 9:00 Uhr
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Bärenhunger und der Erkenntnis, dass ich dringend sowohl mit meinem Anwalt als auch mit der Polizei reden musste. Ich hatte in der vergangenen Nacht völlig panisch reagiert und sollte das auf irgendeine Art und Weise wettmachen. Ich hinterließ bei meinem Anwalt, Andy Stein, eine Nachricht, in der ich ihn bat, mich gleich am Montagmorgen anzurufen.
Bei News One wurde keine Meldung gebracht, aber die Times hatte immerhin fünf Zentimeter einer Spalte für Hal reserviert. Eris und ihr seltsamer Begleiter wurden jedoch nirgendwo erwähnt. In der Meldung wurde ein Detective, Paul Gentile aus dem Zehnten Bezirk, zitiert, der meinte, nichts spreche für ein Verbrechen. Das war der allgemein übliche Kommentar bei Opfern, die sich selbst das Leben genommen hatten. Normalerweise finden Drogenfälle wie dieser keinerlei öffentliche Erwähnung, aber wenn eine reiche Persönlichkeit an einer Überdosis stirbt, wird es natürlich in den Nachrichten gemeldet.
Ich brauchte drei Anrufe, um in Paul Gentiles Büro durchgestellt zu werden, doch dort erfuhr ich nur, dass er erst in ein paar Stunden erwartet werde. Ich vereinbarte für die Mittagszeit einen Termin mit ihm.
Ich duschte und schlüpfte in ein sommerlich leichtes Prada-Hemd und ein Jackett mit Hose, die ich mir während meiner letzten Reise nach Mailand hatte maßschneidern lassen. Es war sicher nicht falsch, sich in Schale zu werfen, wenn man der Polizei einen Besuch abstattete. Ich brühte eine Kanne Kaffee auf, stellte Cornflakes und Milch auf den Tisch und gönnte mir eine reichliche Portion. Die ungeöffnete Post der letzten Wochen bildete auf der Küchenanrichte einen regelrechten Turm, der jeden Moment umzukippen drohte. Ich hatte seit dem Unfall nur wenig Lust gehabt, mich mit irgendwelchem Alltagskram herumzuschlagen. Ich blätterte die Briefe durch, während ich aß. Rechnungen über Rechnungen und Beileidsbekundungen. Ich fand auch Dianes handgeschriebene Karte in dem Stapel.
Die Rechnungen erinnerten mich daran, dass ich wegen Samuels Nachlass noch nichts unternommen hatte. Diese traurige Aufgabe lag noch vor mir. Ein Umschlag von einer Firma, von der ich noch nie gehört hatte, Teras Distributing, befand sich ebenfalls in dem Stapel. ERINNERUNG 25. JULI stand in roten Lettern darauf. Darin wurde bestätigt, dass Gegenstände, die Samuel gehörten, über einen diplomatischen Kurierdienst an das Lager der Firma in New York geschickt worden seien. Das Paket befinde sich dort in sicherer Verwahrung und warte darauf, abgeholt zu werden.
Nachdem ich die Telefonnummer auf dem Formular gewählt hatte, erklärte ich dem Mann, der meinen Anruf entgegennahm, ich sei Samuel Diakos, und nannte ihm die Bearbeitungsnummer. Er bat mich zu warten. Als er sich wieder meldete, meinte er, das Paket sei bereits abgeholt worden.
»Wer hat die Annahme bestätigt?«
»Das waren Sie.« Er hielt kurz inne. »Sir?«
Ich legte auf, wobei mir schlagartig ein Licht aufging. Ich wusste jetzt, was Hal getan hatte. Er hatte meine Hausschlüssel nie zurückgegeben, seitdem er für einige Zeit nach dem Tod seiner Mutter bei mir gewohnt hatte. Er hatte damals erklärt, er müsse für einige Zeit aus seiner Wohnung raus, weil er die Erinnerung an sie nicht ertragen könne. Da ich sowieso die meiste Zeit unterwegs war, hatte ich Mitleid mit ihm. Er musste in meiner Wohnung gewesen sein, während ich im Krankenhaus lag, hatte wohl die Post durchsucht und die Nachricht des Frachtlagers gefunden.
Samuel bewahrte in seinem Arbeitszimmer eine Kopie seiner Personalpapiere auf, seit sie ihm vor vier Jahren in einem Hotel in Beirut gestohlen worden waren. Ich brauchte ein paar Minuten, um den Mut aufzubringen, seine Räumlichkeiten zu betreten. Dort öffnete ich seine Schreibtischschublade. Er bewahrte die Ersatzpapiere in einer Kunststoffhülle auf, die mit einem roten Gummiband umwickelt war. Das Gummiband war verschwunden. Hals Nachlässigkeit verriet die ganze Geschichte. Das Objekt, das er gestohlen hatte, war Samuels Eigentum gewesen. Das erklärte das Wie, das Wer und in etwa das Wann. Das Warum war simpel. Er brauchte das Geld.
Samuel war für Hal immer wie ein guter Onkel gewesen. Da er wusste, wie weh es getan haben musste, als Hals eigener Vater ihn vernachlässigt hatte, gab Samuel sich die größte Mühe, diesen Mangel auszugleichen – indem er stets an Hals Geburtstag dachte, ihn ins Theater und in alle möglichen Museen mitnahm. Gelegentlich war ich richtig eifersüchtig, die Aufmerksamkeit meines Bruders mit Hal teilen zu müssen. Und so hatte dieser Bastard sich bei uns revanchiert!
Das Wissen um Hals Diebstahl erfüllte mich erneut mit Traurigkeit. Es erinnerte mich wieder daran, wie viel ich in so kurzer Zeit verloren hatte.
In Samuels Büro herrschte die Atmosphäre eines für immer verschlossenen und verlassenen Ortes. Ich nahm den leichten Tabaksgeruch wahr, der von den Pfeifen in ihrem Gestell im Regal herüberdrang. Seine Abwesenheit war geradezu greifbar. Als ich seine Papiere an ihren angestammten Platz zurücklegte, fiel mein Blick auf ein gerahmtes Aquarell auf seinem Schreibtisch. Es war das einzige Stück, das vom Haus seiner Eltern in Griechenland übrig geblieben war. Seine Mutter, die ums Leben gekommen war, als die Nazis das Dorf in Brand setzten, hatte es mit äußerster Sorgfalt gemalt. Sie hatte es einem Handwerker im Ort gegeben, um den Rahmen zu reparieren, und dessen Werkstatt war von dem Feuer verschont worden. Als Samuel einige Jahre nach Kriegsende zu einem kurzen Besuch dorthin zurückkehrte, hatte der Mann ihm das Bild ausgehändigt.
Ich wollte die Uhr auf die Zeit vor dem Unfall zurückdrehen, um zu hören, wie Samuel durch die Haustür hereinkam, wie er es immer zu tun pflegte, eine Ausgabe der Times zusammengefaltet unter dem Arm und in den Händen unser Frühstück und zwei Milchkaffee. Wir wechselten uns jeden Sonntag ab. In der einen Woche ging er zu Katz’s und brachte Salami und viereckige Kartoffel-Knishes nach Hause. In der nächsten Woche war ich an der Reihe und ging zu Murray’s, um frische Bagels und frischen Räucherlachs aus Neuschottland zu holen.
Samuel hatte diese Ausflüge zu Katz’s genossen, und nicht nur wegen der Speisen. Sie lieferten ihm einen Grund, durch die Lower East Side zu spazieren, den Ort, an dem er zuerst gelandet war, als eine Familie nach dem Krieg für ihn die finanzielle Patenschaft übernahm, damit er nach Amerika auswandern konnte. Er liebte die alten Mietshäuser aus rotem Klinker, die mittlerweile in immer größerer Zahl zu luxuriösen Eigentumswohnungen umgebaut wurden, und die Straßen mit ihrem Spaghettigewirr von überirdischen Strom- und Telefonleitungen und den zahllosen Discountläden mit ihren von Tür zu Tür reichenden Schaufensterfronten.
Ich wünschte mir diese Gedanken aus dem Kopf. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich so sein wie jeder andere. Mit der U-Bahn zu einem langweiligen Job fahren. Mich einschränken müssen, um meine Hypothekenzahlungen leisten zu können. Nach der Arbeit mit Freunden ein Bier trinken. Jeder andere sein, nur nicht ich.
Ich konnte mich immer darauf verlassen, dass mein Bruder der Anker in den Stürmen war, die mein Leben durcheinanderwirbelten. Ich rief mir seinen Anblick ins Gedächtnis: von kleiner Gestalt, topfit nach Jahrzehnten anstrengender Tätigkeit in seinem Gewerbe, die Haut wettergegerbt, in den Augen ständig ein launiges Lächeln. Er war vorsichtig und stets pünktlich und besaß ein absolut präzises Gedächtnis. Er war das totale Gegenteil des geistesabwesenden Akademikers.
Ich erinnerte mich an einige dieser lange zurückliegenden Sommerabende zu Hause. Samuel rauchte seine Pfeife, während ich glücklich und zufrieden mit meiner Eisenbahn spielte und das eiserne Bodengitter des Balkons als Schienen benutzte. Freunde erzählten mir, dieser Hang zu fantasiebetonten Spielen käme daher, dass mir eine Vaterfigur gefehlt habe. Samuel war einfach zu oft und zu lange unterwegs, um diese Rolle auszufüllen. Aber in jüngster Zeit war ich zu einer anderen Schlussfolgerung gelangt. In meinen Augen war er immer so etwas wie ein Gott gewesen. Und damit kann man nicht konkurrieren. Ähnlich müsste es sein, so stellte ich mir vor, einen Prominenten als Vater zu haben, einen Megarockstar oder einen Helden des Sports. Das Licht, das deren Söhne aussandten, wäre im Vergleich mit ihnen immer nur ein trüber Schein.
In meinen jüngeren Jahren bekam ich das Wort Heiliger nahezu regelmäßig zu hören. »Dein Bruder ist ein wahrer Heiliger, so wie er sich mit dir beschäftigt, weißt du«, sagten die Leute. »Du gehörst natürlich zur Familie, aber das musste er nicht tun.« Der Direktor einer der Privatschulen, die ich besuchte, sagte einmal zu mir: »Ich gebe dir eine zweite Chance nur aus Respekt vor deinem Bruder. Dieser Mann muss die Geduld eines Heiligen haben.«
Nun, da ich älter war, ernsthafter nachdachte und nicht impulsiv aus momentanen Entschlüssen heraus handelte, musste ich lernen, mit meiner selbstzerstörerischen Neigung zu leben. Samuel entschied im Zweifelsfall immer zu meinen Gunsten. »Das ist eben deine Natur«, sagte er, nachdem er mir wieder einmal aus einer meiner Kalamitäten herausgeholfen hatte. »Du bist jung, du hast deinen Weg im Leben noch nicht gefunden. Du beweist eine Menge Mut, John. Ich wünsche mir oft, ich wäre ein wenig mehr wie du.«
Der Erkenntnis, dass Samuel offenbar durch meine Aktionen zu Tode gekommen war, konnte ich mich immer nur für einen kurzen Moment stellen. Hatte jemand meinen Wagen von der Seite abgedrängt oder war das nur ein Trick, den mir meine Einbildung spielte, irgendeine Fantasie, die ich mir zurechtgelegt hatte? Ich war unfähig, der restlichen Welt gegenüber meine Schuld einzugestehen. Sollte der Schmerz doch mein Herz auffressen. Ich hatte es nicht besser verdient.
Ich gab mir einen inneren Ruck und nahm das neue Problem in Angriff. Dieses abhandengekommene Objekt – was konnte das sein? Es konnte nur aus dem Irak stammen. Beim letzten Mal, als ich mit Samuel gesprochen hatte, erzählte er mir, dass gestohlene Stücke von den US-Armeebehörden sichergestellt würden. Wenn Samuel nun irgendetwas an sich genommen hatte, um es vor Plünderern zu schützen, warum hatte er es dann nicht einfach dort abgeliefert? Es war gewiss nicht die berühmte sumerische Vase von Warka. Diese war beim Museum von drei Männern aus einem Wagen hinausgeworfen worden. Die Vase war in vierzehn Stücke zerbrochen, konnte jedoch wieder zusammengesetzt werden – es war allgemein in der einschlägigen Szene bekannt, dass Diebe schon mal ein Objekt zerbrachen, es stückweise per Post nach Europa oder in die Vereinigten Staaten schickten und es dann zusammensetzten, sobald sie alle Teile beieinanderhatten. Es war auch nicht die Harfe von Ur. Sie war erheblich beschädigt worden, als die Intarsien herausgebrochen worden waren, aber sie war nicht gestohlen worden und den berühmten goldenen Stierkopf, der den Resonanzkörper verzierte, hatte man zu seinem Schutz rechtzeitig entfernt.
Dass Samuel das hohe Risiko einging, eine Antiquität nach New York herüberzuschicken, legte die Vermutung nahe, dass es sich um ein sehr wertvolles Stück handelte. Mesopotamische Artefakte konnten einen Wert von einigen Tausend bis hin zu mehreren Millionen Dollar haben, je nachdem, in welchem Zustand sie sich befanden und was für Inschriften sie trugen. Obgleich die Plünderungsaktionen längst beendet worden waren, musste dieses Objekt aus irgendeinem Grund immer noch gefährdet gewesen sein. Anderenfalls hätte Samuel es sicherlich zurückgegeben. Mittels sorgfältiger Elimination glaubte ich, die Möglichkeiten einengen zu können, worum es sich handeln mochte. Mindestens fünfzehn größere Objekte und knapp zehntausend kleinere – Rollsiegel, Schmuck und kleine Figuren – waren und blieben verschwunden. Der wertvolle Löwe von Nimrod, ein Elfenbeinrelief aus dem Jahr 850 v. Chr., war nicht mehr aufzufinden, ebenso ein wunderschöner, aus Kupfer gehämmerter Kopf der römischen Siegesgöttin, der in den parthischen Ruinen auf der Ausgrabungsstätte von Hatra gefunden worden war. Hatte er vielleicht eines dieser beiden Stücke retten wollen?
Während eines unserer letzten Telefongespräche, ehe er nach Hause zurückkehrte, hatte Samuel von der Verwüstung des Museums berichtet. »Es hätte alles noch schlimmer kommen können«, hatte er gemeint. »Dankenswerterweise war das Personal so weitsichtig, mehrere Galerien rechtzeitig auszuräumen und Hunderte von Objekten zu verstecken. Das amerikanische Ermittlungsteam, das anschließend seine Arbeit aufnahm, war hervorragend. Sie entschieden sich für die Taktik, bei der Rückgabe von Raubgut keine lästigen Fragen zu stellen, und scheuten weder Zeit noch Mühe, dies auf den Märkten und in den Moscheen bekannt zu geben. Sie erzielten damit recht gute Ergebnisse, doch die waren im Vergleich mit den Verlusten nur Tropfen auf einem heißen Stein.«
Wenn also das Personal viele der bedeutenden Objekte versteckt hatte, warum hielt Samuel es dann für notwendig, eines davon an sich zu nehmen? Solange ich keine weiteren Informationen darüber hatte, worum es sich dabei handelte, konnte ich auch über die Motive meines Bruders keine Klarheit gewinnen. Als wir uns über die Plünderung des Museums unterhalten hatten, war er am Telefon regelrecht zusammengebrochen und hatte geweint. Daher muss es ihn geradezu innerlich zerrissen haben, seine Prinzipien über Bord zu werfen, um ein gestohlenes Objekt zu behalten.
Das Telefon klingelte. Mein Festnetzanschluss. Nur wenige Leute kannten die Nummer und noch weniger Leute benutzten sie.
»John Madison«, meldete ich mich.
»John, ich bin’s, Andy Stein. Wie geht es Ihnen?«
»Nun ja, hier hat sich mittlerweile einiges angesammelt. Ich finde es nett, dass Sie mich sogar am Sonntag anrufen, Andy.«
»Kein Problem. Hören Sie, Sie wissen, dass ich mehr im Handelsrecht zu Hause bin. Ich kann Ihnen in Ihrer … Angelegenheit nicht helfen, aber ich habe mich mit einem Strafverteidiger, Joseph Reznick, in Verbindung gesetzt. Er ist einer der besten. Ich habe ihm Ihre Situation kurz skizziert. Sie sollten mit ihm reden – und zwar bald.«
»Klar doch. Wie kann ich ihn erreichen?« Ich notierte mir die Telefonnummer und die E-Mail-Adresse des Mannes, während Andy weiterredete.
»Ach ja, eine Sache noch – er ist nicht billig.«
»Von was für einem Betrag reden wir?«
»Ich habe keine Ahnung. Die Lage ist nicht ganz eindeutig, oder? Er wird sicherlich einen Vorschuss haben wollen.«
»Was meinen Sie, wie viel das sein wird?«
»Zweitausend mindestens.«
Ich hatte fünf Kreditkarten. Nur auf einer war noch ein Guthaben, und das war nicht besonders hoch. Woher ich Geld nehmen sollte, konnte ich im Augenblick nicht sagen. Bei meinem Job gab es immer nur fette und magere Zeiten, und im Augenblick stand ich, bildlich gesprochen, dicht vor dem Verhungern. In der Vergangenheit hatte Samuel mir immer über meine Engpässe hinweghelfen können, aber diese Möglichkeit fiel aus, solange sein Nachlass nicht geregelt war.
»Haben Sie eine Idee, wie lange es dauert, bis die Erbschaftsangelegenheiten mit Sams Hinterlassenschaft geregelt sind?«
»Unter diesen Umständen? Wenn im Zusammenhang mit dem Unfall irgendwelche Schuldfragen geklärt werden müssen, dann lässt sich das nicht abschätzen. Ich verwalte keine Nachlässe, aber möglicherweise müssen Sie einige Zeit warten.«
Die Haussprechanlage summte, während ich den Hörer auflegte. Es war Amir, der mir Bescheid gab, dass ein Kurier einen Umschlag für mich abgegeben habe und er ihn zu mir heraufbringe.
»Ich staune, dass du noch hier bist«, sagte ich, während ich die Tür öffnete.
Amir sah ziemlich erschöpft aus. »Der Mann von der Tagschicht kam viel zu spät, daher hatte ich keine andere Wahl. Ich wollte dir das noch persönlich aushändigen, ehe ich Feierabend mache.« Er reichte mir einen schlichten weißen Geschäftsumschlag mit meinem Namen und meiner Adresse in Maschinenschrift darauf.
»Wer hat das gebracht?«
»Ein Fahrradkurier. Es tut mir wirklich leid, aber er war so schnell wieder draußen, dass ich ihn nicht bitten konnte, sich ins Postbuch einzutragen.«
Ich bedankte mich bei Amir, und er machte sich auf den Nachhauseweg. In dem Umschlag fand ich einen USB-Speicherstick in einem Luftpolsterumschlag. Es gab keinen Hinweis, wer mir den Stick geschickte hatte. Ich fuhr meinen Laptop hoch und steckte das Ding ein. Auf dem Bildschirm öffnete sich eine Textseite.
Hallo John,
betrachte das bitte als eine Art Schatzkarte. Ich habe meine Anwälte angewiesen, dir dies in dem Fall zu schicken, dass mir etwas zugestoßen sein sollte.
Mittlerweile weißt du vermutlich, dass ich ein Objekt von großem Wert erworben habe, und zwar eine neo-assyrische Steintafel aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. Mit einem in Keilschrift verfassten Text darauf. Wie man weiß, handelt es sich dabei um eine biblische Prophezeiung. Ich nehme mir die Freiheit, das Wort »erwerben« zu benutzen. Tatsächlich gehörte diese Tafel Samuel.
So wie ich es sehe, hast du sie nicht verdient.
Ich hatte Vorbereitungen getroffen, sie zu verkaufen und den Erlös einzustreichen. Nachdem ich eine vielversprechende Anfrage erhielt, trat ich in Verhandlungen ein. Die Aussicht auf so viel Geld muss mein Urteilsvermögen getrübt haben, denn unvorsichtigerweise verriet ich meine Identität. Mir ist jetzt klar, dass das Wissen von der Existenz dieses Objekts mein Schicksal besiegelt hat.
Als mir die Gefahr, in der ich schwebte, zum ersten Mal bewusst wurde, entwickelte ich dieses kleine Spiel. Löse die vier Rätsel nacheinander, und du wirst die Schrifttafel finden.
Sicherlich fragst du, warum ich es mir anders überlegt habe. Wärest du nicht die letzte Person, die ich als Nutznießer aussuchen würde?
Ich denke, das ist meiner närrischen Natur zuzuschreiben. Jedes Mal, wenn du dich mit einem meiner Rätsel herumschlägst, kannst du mich, wenn du genau hinhörst, in meinem Grab über dich lachen hören.
Deine Gegner bei diesem Spiel sind clever. Ich spüre, wie sie näher kommen und mich mehr und mehr in die Enge treiben: Sie sind zu fünft, und ich befürchte, dass sie am Ende gewinnen werden. Mein einziger Trost ist, dass dich das gleiche Schicksal erwartet.
Wirst du rechtzeitig erfahren, wer sie sind? Und auf die vage Chance hin, dass du erfolgreich sein wirst: Wird die Gier dich übermannen, oder wirst du das Richtige tun und die Schrifttafel zurückgeben? Ich neige zu der Annahme, dass du keine Skrupel hast und den Weg wählen wirst, der dir den größten persönlichen Nutzen verspricht.
Aber du kannst mich gerne eines Besseren belehren …
Hal
Ich starrte auf den Bildschirm. Eins zu null für Diane Chen. Hier war die geheime Mitteilung.
Hals Betrug reichte viel tiefer, als ich angenommen hatte. Es ging überhaupt nicht gegen Samuel. Hal hatte auf mich gezielt. Als er glaubte, in Gefahr zu sein, hatte er seine Widersacher hinter mir hergeschickt und sich offensichtlich köstlich darüber amüsiert. Ich hasste es, auf diese Art und Weise manipuliert zu werden.
In mir regte sich die vage Hoffnung, dass er einer Täuschung zum Opfer gefallen war. Aber er war wegen dieser Sache umgebracht worden; demnach mussten seine Feinde glauben, dass das Objekt echt war. Wie bitter, die letzten Tage seines Lebens damit zu vergeuden, mir eine derart gemeine Falle zu stellen.
Die Menschen meinen immer, dass das Gras auf der anderen Seite des Zauns viel grüner ist. Hal war neidisch auf mich gewesen. Er hatte nie auch nur geahnt, wie einsam ich mich fühlte, wenn Samuel im Zuge seiner Tätigkeit für längere Zeit nicht zu Hause war. Als durchgeistigtes, zurückhaltendes Kind hatte er sich gegenüber seinem Vater nie behaupten können. Peter Vanderlin hatte sich ein Alphamännchen gewünscht und stattdessen einen schüchternen, introvertierten Sohn bekommen. Nach einem besonders heftigen, verletzenden Tadel von Seiten seines Vaters hatte Hal mich wütend angefunkelt. »Er sagte, er wünsche sich, du wärst sein Sohn und nicht so ein jämmerlicher Hosenscheißer wie ich.« Seine Abneigung gegen mich hatte in all den Jahren nicht nachgelassen.
Hal forderte dafür jetzt einen hohen Preis.
Als ich wieder auf den Bildschirm blickte, war der Brief verschwunden und eine neue Seite erschien und zeigte den ersten Schritt in Hals Spiel.