Fünfzehn
Auf dem Weg zum Hotel schlug ich Laurel vor, dass wir im Foyer des Waldorf lieber ein wenig warten sollten, ehe wir zu Tomas hinauffuhren, um uns vergewissern, dass uns niemand gefolgt war. Daher ließen wir uns sofort in zwei abseits stehende Sessel fallen, als wir dort eintrafen.
Unsere Haushälterin, Evelyn, hatte sich die englische Sprache beigebracht, indem sie sich alte Kinofilme ansah. So musste ich schon in frühester Jugend miterleben, wie Cary Grant aus dem Oak Room des Plaza Hotels entführt wurde, King Kong auf dem Empire State Building herumturnte und Lana Turner den Männern im Waldorf Astoria die Köpfe verdrehte. Da mein junger Geist noch nicht zwischen Fantasie und Realität unterscheiden konnte, weigerte ich mich während eines Schulausflugs zum Empire State Building standhaft, zur Aussichtsplattform hinaufzufahren, aus Angst, dass mich eine riesige, haarige Hand packen und in die Tiefe schleudern könnte. Einige meiner ersten Eindrücke von New York gewann ich durch diese Filme. Sie verliehen New York einen Zauber, den kein anderer Ort aufbieten konnte, was einer der vielen Gründe war, weshalb ich diese Stadt so leidenschaftlich liebte.
Zu besonderen Gelegenheiten nahm Evelyn mich ins Waldorf mit. Durch das Foyer zu gehen, war für sie, als betrete sie einen Königspalast. Wir bewegten uns in dem Hotel wie andere Leute in einer Kunstgalerie oder einem Museum und beendeten gewöhnlich unseren Besuch mit einem Mittagessen im Peacock Alley – für sie ein Waldorf-Salat mit kandierten Walnüssen und für mich Erdbeeren auf Blätterteig mit weißer Schokoladenmousse.
Seit den Sechzigerjahren, als ein Großteil der einzigartigen Art-Deco-Ausstattung unter Teppichen und hinter schweren Wandvorhängen verborgen worden war, hatte das Waldorf einen langen Prozess der Wiederauferstehung durchlaufen. Die Werke von Louis Rigal – seine dreizehn bemerkenswerten Wandgemälde und das runde, aus 148.000 Teilen bestehende Marmormosaik – waren wieder in ihrer ganzen Pracht zu bewundern. Der zentrale Blickpunkt der Halle, die große Uhr von der Weltausstellung in Chicago 1893, ließ alle fünfzehn Minuten ihr ehrwürdiges Big-Ben-Signal ertönen.
Menschen eilten geschäftig durch die Halle. Niemand schien sich über Gebühr für uns zu interessieren. Ich musterte Laurel von der Seite. Sie hatte den Blick gesenkt und knetete ein Papiertaschentuch zwischen den Fingern. Ich vermutete, dass der Mann im Narrenkostüm immer noch in ihrem Kopf herumgeisterte und ihr Angst bereitete. Sie hatte schon jetzt eine große Last zu schultern, und die Neuigkeiten, mit denen ich zu ihr gekommen war, überforderten sie möglicherweise. In der kurzen Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, fühlte ich mich auf eine Art und Weise zu Laurel hingezogen, wie ich es lange nicht mehr erlebt hatte. Sie fing meinen Blick auf und beantwortete ihn mit dem Anflug eines Lächelns. »Lass uns raufgehen«, sagte ich. »Ich glaube, wir haben nichts zu befürchten.«
Im zweiten Stock hielt der Fahrstuhl an und eine ältere Frau mit einem schweren, viel zu süßen Parfüm stieg ein. Ihr Haar, dem man ansah, dass es seit Jahrzehnten gefärbt wurde, war zu einer furchteinflößenden Helmfrisur aufgetürmt, steif und übertrieben hell. Sie betrat die Kabine und stellte sich in die Mitte, so dass Laurel und ich uns zur hinteren Wand zurückziehen mussten.
Die Tür von Tomas’ Zimmer öffnete sich bereits nach dem ersten Klopfen. Ein offenbar freundlich gesonnener Löwe packte meine Hand mit seinen beiden Tatzen und sagte: »Kommen Sie herein, John. Sie sind auf das Herzlichste willkommen.« Ich bemerkte eine tiefe Strieme in der Handfläche des Mannes, als er die Hand wegzog.
Tomas richtete sich in einem Sessel in einer Ecke des Zimmers halb auf und deutete auf den Löwen. »Mein Bruder Ari.«
Laurel begrüßte ihn höflich, als ich sie ihm vorstellte. Sie schien von der Umgebung ehrlich beeindruckt zu sein. Als Ari zur Seite trat, sahen wir, dass wir uns in einer zwei Räume umfassen Suite befanden, deren Wohnbereich mit nachgemachten Chippendale-Möbeln, frischen Blumen auf den glänzenden Tischen, geschmackvollen Fenstervorhängen und kaffeebraunen und cremefarbenen Teppichen und Tapeten ausgestattet war. Die hohen Decken waren mit kunstvollen Stuckreliefs verziert. Die Umgebung vermittelte einen Eindruck von gediegenem, aber unaufdringlichem Luxus. Eine Kamera, wie sie gerne von Fernsehjournalisten benutzt wird, lag auf einem der Sessel neben einem abgenutzten Rucksack. Die Suite, deren Fenster auf die Park Avenue hinausgingen, erfreute sich innerhalb des Hotels sicherlich einer bevorzugten Lage.
Ich nahm an, im Zimmer seien Räucherstäbchen verbrannt worden, bis ich in einem Aschenbecher eine vor sich hin qualmende Zigarette entdeckte. Daneben lag eine offene Packung Gitanes Brunes. Der Tisch war übersät mit Speisenbehältern. Die Anwesenheit einer weiteren Person verwirrte mich, und ich war verärgert, dass Tomas seinen Bruder nicht erwähnt hatte, als ich ihn anrief. Außerdem schien Tomas über unseren Besuch nicht sehr erfreut zu sein. Ich kam mir vor wie eine Motte, die sich in ein Hornissennest verirrt hatte.
Der Löwe gab Tomas mit einer Geste zu verstehen, er solle seinen Sessel frei machen. Er gehorchte mit einem unüberhörbaren Seufzer. Ob Tomas nicht aufstehen wollte oder nur seinen Unmut darüber ausdrückte, herumkommandiert zu werden, war nicht eindeutig festzustellen. Ich musste unwillkürlich an die beiden Jungen denken, die ich kurz vorher am Strand beobachtet hatte.
Widerstrebend setzte ich mich. Was hätte ich sonst tun sollen? Es wäre unhöflich gewesen, wenn wir unter einem fadenscheinigen Vorwand gleich wieder gegangen wären.
Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass Ari mit seiner hellbraunen Mähne, seinen Sommersprossen und dem krausen Haar auf Armen und Handrücken Tomas’ Bruder war. Er trug eine Levis und ein Jeanshemd und hatte hellgrüne Augen, in deren Winkeln sich feine Fältchen bildeten, wenn er lachte, was er fast ständig tat. Der Unterschied in Aussehen und Temperament zwischen ihm und seinem Bruder Tomas war frappierend. Er war mir auf Anhieb sympathisch.
»Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?«, fragte Ari. »Wir haben einen ganzen Schrank voll Getränke.« Er öffnete eine Zimmerbar voller Miniflaschen. Ich bedankte mich, nahm sein Angebot jedoch nicht an. Laurel bat um eine Flasche Poland Spring.
»Bitte, essen Sie etwas«, drängte er uns und lächelte. »Alles kommt aus dem Khyber Pass. Dort haben Sie sich doch mit Tomas getroffen, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Das Essen dort ist hervorragend.« Ari deutete auf die Behälter. »Das Mantu ist köstlich, dann haben wir zwei Arten Hummus, dazu Knödel, Joghurt mit Minze, Ashak, Baklava – mit reichlich Honig und Nüssen. Greifen Sie zu.«
Wir bedienten uns und begannen zu essen.
Um die zwanzig Minuten würde ich mir gestatten. So lange würde ich bleiben, mich dann entschuldigen und gehen.
Ari wandte sich zu mir. »Das mit Samuel ist einfach schrecklich. Unser lieber Freund. Wir können noch immer nicht glauben, dass er von uns gegangen ist.«
Ich empfand immer noch jede Beileidsbekundung wie einen unausgesprochenen Vorwurf, aber ich bedankte mich trotzdem.
Wir unterhielten uns darüber, wie ihnen die Stadt gefiel und wie lange sie zu bleiben beabsichtigten. Tomas redete wenig, aber ich bemerkte, wie er ab und zu verstohlen zu Laurel schaute. Wir erfuhren, dass Ari Fotojournalist war und für die BBC über den Irakkrieg berichtete. Trotz Aris Bemühungen um Ungezwungenheit verlief unsere Unterhaltung eher stockend und mit einem gewissen unbehaglichen Unterton, der Ausdruck der im Raum herrschenden Anspannung war.
Schließlich ergriff Tomas das Wort. »John, Sie können frei reden. Ari und ich habe keine Geheimnisse voreinander.«
Es war absolut naheliegend, dass er Mitglieder seiner Familie ins Vertrauen zog, aber es störte mich dennoch.
»Was ist passiert?«, fragte er und deutete auf meine Lippe.
»Eris Haines hat mir gestern Abend einen Besuch abgestattet und mich beinahe umgebracht.«
Ari kam herüber und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich konnte die Wärme seiner Handfläche durch den dünnen Stoff meines Oberhemdes spüren. »Mein lieber Freund, Sie sind nicht mehr alleine. Samuel hätte alles unternommen, um Sie zu schützen. Das übernehmen wir jetzt. Bitte glauben Sie mir.«
Wahrscheinlich meinte er es ernst, aber ich fragte mich, ob sein Bruder seine Gefühle teilte. Ich hatte eher den Eindruck, dass Tomas mich lieber den Wölfen zum Fraß vorwerfen würde, als mich in die Herde aufzunehmen.
»Hat Tomas Ihnen alles erzählt?« Ari bejahte das mit einem Kopfnicken. »Ich habe Haines nichts gesagt, weil ich gar nicht weiß, wo sich die Schrifttafel befindet. Hal hat so etwas wie eine Spur gelegt Es ist ein Rätsel, das gelöst werden muss, um das Versteck zu finden.«
Tomas schaltete sich ein. »Warum sollte er so etwas getan haben? Es ergibt keinen Sinn. Zuerst stiehlt er Samuel die Tafel und dann lässt er Ihnen so etwas wie einen Plan zukommen, damit Sie sie wiederfinden?«
»Er hat mit mir ein übles Spiel getrieben. Ich glaube, er hat Eris Haines erklärt, ich wüsste, wo die Tafel deponiert ist. Dann hat er dieses seltsame Spiel entwickelt, wobei er genau wusste, dass ich es nicht rechtzeitig durchschauen würde, um mein Leben zu retten.«
»Er hat Ihnen ganz bewusst eine Falle gestellt? Warum sollte Ihr Freund so etwas tun?«
»Hal war psychisch ziemlich kaputt und drogensüchtig. Irgendwann hat er sich gegen mich gewandt. Und jetzt könnten Laurel und ich ein wenig Hilfe gebrauchen.« Auf ein Stück Papier aus Laurels Handtasche zeichnete ich mit meinem Kugelschreiber ein Quadrat, das ich in vier Reihen und vier Spalten aufteilte. In die sich daraus ergebenden sechzehn Felder schrieb ich die Zahlen. Dann hielt ich meine Zeichnung hoch, so dass Ari sie betrachten konnte. »Hat das irgendeine Bedeutung für Sie?«
Ari schüttelte den Kopf und winkte Tomas herüber.
»Das ist Albrecht Dürers magisches Quadrat«, erklärte Tomas. »Aber ich erkenne keinerlei Beziehung zum Buch Nahum. Hal war doch Wissenschaftler und Professor, nicht wahr?«
»Er lehrte Philosophie. Ein Dürer-Experte erzählte uns, dass der Künstler seinen Namen in seinem Bild versteckte, indem er ein magisches Quadrat benutzte.«
Laurel bat mich, Dürers Biografie noch einmal aufzurufen. »Da«, sagte sie, als das Bild erschien. »Etwa in der Mitte der Seite steht, dass sein Vater den Namen von Thürer in Dürer umänderte.«
»Das hilft auch nichts. Selbst wenn wir ein th für das d einsetzen und den Buchstaben Zahlen zuordnen und sie unter Hinzunahme des Vornamens addieren, erhalten wir eins, fünf und neun und es gibt nur zwei freie Felder.«
Für einige Zeit beschäftigten wir uns mit Kombinationen aus Buchstaben und Zahlen. Ich empfand diese Bemühungen als ziemlich sinnlos und stand kurz davor aufzugeben, als Laurel sich mit einer Frage zu Wort meldete. »Hat Phillip Anthony nicht erwähnt, dass Albrecht Dürers Vater nach Nürnberg ging? War er Deutscher oder anderer Nationalität?«
»Kein Ahnung. Ich schaue mal nach.« Die Biografie bestätigte, was Phillip uns erzählt hatte. »Er war Ungar.«
»Und wie lautete der Name auf Ungarisch?«
»Moment … Ajitos. Das heißt so viel wie Tür, genauso wie Dürer.«
»Und passt das?«
Ich addierte die Zahlenwerte der Buchstaben. »Ajitos ohne den Vornamen ergibt vierundsiebzig. Versuchen wir es mal.« Als ich die Zahlen eintrug, rührte die Seite sich nicht.
Ich wollte schon Schluss machen, als mir etwas anderes einfiel. »Könnte es sein, dass wir das falsche Alphabet nehmen? Dürer hat vielleicht das alte lateinische Alphabet benutzt. Und das hat kein j.«
»Das ist interessant. Denk an die gemeinsamen Wurzeln: Dur und Tur heißen beide Tür, nicht wahr?«, sagte Laurel. »Was ergäbe das dann im Ungarischen, wenn man das alte lateinische Alphabet benutzt?«
»Ajto heißt auf Ungarisch Tür. Und in Zahlen ausgedrückt, wenn man das alte lateinische Alphabet ohne j benutzt, wäre das … vierunddreißig, die Konstante in Albrecht Dürers magischem Quadrat.«
»Das ergibt einen Sinn«, sagte Tomas. »Jetzt erinnere ich mich. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass es im magischen Quadrat achtundsechzig mögliche Kombinationen für die Vierunddreißig gibt.«
Phillips Aufgabe fiel mir ein: Es gibt achtundsechzig verschiedene Weisen, wie Dürer seine Bilder signierte, aber ich vermute, dass du sowieso nie dahinterkommen wirst. Phillip hatte uns die Antwort bereits in seiner Galerie verraten.
Als ich die Drei und die Vier in die freien Felder einsetzte, wechselte die Seite und das Siegel des Senats der Vereinigten Staaten erschien. Darunter befanden sich Felder für ein Wort mit acht und eins mit drei Buchstaben.
Ich suchte im Internet Informationen über das Siegel und konnte lesen, dass es im Jahr 1866 von Louis Dreka entworfen worden war. Es war rund, mit den Worten »United States Senate« auf dem äußeren Kreis. In der Mitte befand sich ein Schild mit dreizehn Sternen und Streifen und den lateinischen Worten E pluribus unum quer darüber. Über dem Schild waren eine seltsame, nach oben spitz zulaufende Mütze zu sehen und darunter gekreuzte Rutenbündel, wie ich sie von alten römischen Darstellungen kannte.
Das Zitat auf Latein, E pluribus unum – »aus vielen Eines« –, war viel zu lang, um die freien Felder auszufüllen. Weder die römischen Rutenbündel unten noch die Freiheitsmütze über dem Zitat passten. Wir hatten keine Ahnung, was Hal damit hatte ausdrücken wollen.
Ari wandte sich an mich. »Tomas und ich wissen zu schätzen, dass Sie zu uns gekommen sind. Sie hätten dies alles für sich behalten können, und wir hätten nichts über das Schicksal der Schrifttafel erfahren. Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie so ehrlich zu uns waren. Kann ich das so verstehen, dass wir ab jetzt zusammenarbeiten?«
»Mehr oder weniger. Jeder gewinnt auf diese Art und Weise, aber ich verlange vollkommene Offenheit.«
Tomas wusste sofort, auf was ich hinauswollte. »Das sind vertrauliche Informationen. Ich kann nicht mehr preisgeben.«
Ich stand auf. »Sie lassen mir keine Wahl. Dann gehe ich.«
Ari kam herüber und legte erneut eine Hand auf meine Schulter. »Sie sollten hierbleiben. Jetzt wissen Sie, wie gefährlich diese Leute sind. Wir können Ihnen nicht helfen, wenn wir nicht wissen, wo sie sich aufhalten.«
»Mir wird schon nichts passieren, wenn ich dieses Rätsel rechtzeitig lösen kann. Ich melde mich.«
Er ließ die Hand sinken und bestürmte Tomas. »Es hat keinen Sinn. Erzähl ihm den Rest.«
Eine hitzige Diskussion in einem, wie ich vermutete, arabischen Dialekt entspann sich zwischen den beiden. Schließlich gab Tomas nach. »Sie versprechen, dass Sie für sich behalten, was ich Ihnen mitteile?«
»Natürlich.«
»Wir können Ihnen wirklich nicht viel mehr erzählen. Samuel glaubte, dass im Buch Nahum das Versteck der Beute genannt wird, die im siebten Jahrhundert vor Christus während einer von König Assurbanipal durchgeführten militärischen Operation im heutigen Anatolien in der Türkei zusammengetragen wurde. Er entdeckte diesen Hinweis, als er auf eine assyrische Schrifttafel mit einer Liste der Beutestücke stieß, die Assurbanipal irgendwo in Assyrien versteckte.«
Das war durchaus möglich. Ich wusste, dass die Assyrer die Angewohnheit hatten, die Beute genau aufzulisten, die sie nach erfolgreichen Feldzügen in die Heimat schafften. »Was war es genau?«
»Das wissen wir nicht. Samuel wollte sich nicht darüber äußern. Er machte nur einige Andeutungen. Er sagte, der Schatz stünde mit einer berühmten Legende in Verbindung und es gebe da gewisse übernatürliche Bezüge – etwas, das über das menschliche Begriffsvermögen hinausgehe.«
»War es eine griechische Legende oder stammte sie aus Vorderasien? Hatte es etwas mit der Umwandlung von unedlen Metallen in Gold zu tun?«
Tomas zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Auf der Schrifttafel gibt es Zeichen, die in den Fragmenten der Bibeltexte nicht zu finden sind. Da wir die Tafel nicht zur Verfügung haben, fehlt uns auch der Text, mit dem Samuel gearbeitet hat.«
»Und weiß der amerikanische Händler, der die Tafel erwerben will, darüber Bescheid?«
»Samuel nahm an, dass dem Händler zumindest so viel bekannt war. Der Wert der Schrifttafel liegt nicht nur in ihrem Alter und ihrer kulturellen Bedeutung. Er glaubte, dass Nahum damit Hinweise auf den Aufbewahrungsort von Assurbanipals Beute geben wollte. Da Hanna Jaffrey sich seitdem auffällig rargemacht hat, nehme ich an, dass sie dem Händler alle wichtigen diesbezüglichen Hinweise übermittelt hat.«
Diese neue Information ließ meine Gedanken durcheinanderwirbeln. Hatte Assurbanipal auf seinen Beutezügen einen Schatz wertvoller Objekte zusammengerafft? Die Schrifttafel selbst musste einen Wert von mindestens zwanzig Millionen haben. Wenn sie den Weg zur Kriegsbeute eines assyrischen Königs wies, war ihr wahrer Wert unschätzbar. Und dennoch erschien Tomas’ Geschichte, vor allem da er nur mit einer vagen Beschreibung aufwarten konnte, kaum glaubhaft.
Tomas bemerkte meinen skeptischen Gesichtsausdruck. »In Anatolien gab es Gold, Silber und Edelsteine. Außerdem stand die Goldschmiedekunst dort in hoher Blüte. Es ist durchaus möglich, dass der König auf eine Ansammlung wertvoller Artefakte gestoßen ist.«
»Der Sohn Assurbanipals war doch zu der Zeit, als Ninive geschleift wurde, König, nicht wahr?«, fragte ich ihn.
Tomas nickte bejahend.
»Als dem König klar wurde, dass er die Schlacht verloren hatte, sammelte er all seine Schätze, die Königin und seine Konkubinen um sich, ließ von seinen Bediensteten einen riesigen Scheiterhaufen errichten und anzünden. Sein gesamter Besitz ging mit ihm in Flammen auf.«
Tomas verzog das Gesicht. »Das ist ein Märchen. Es gibt keinen einzigen Beweis, dass es sich so abgespielt hat.«
»Aber Sie erwarten, dass ich Ihnen glaube, dass irgendwo da draußen ein Schatz darauf wartet, gefunden zu werden? Was soll es denn sein? Lassen Sie mich raten – der verschollene Schmuck der Königin von Saba vielleicht?«
»Sie waren es doch, der mehr darüber wissen wollte. Jetzt erzähle ich es Ihnen und Sie machen sich über mich lustig.«
Besorgt, dass das empfindliche Pflänzchen der Harmonie zwischen uns vorzeitig verdorrte, schaltete Ari sich eilends ein und spielte den Friedensengel. »Du kannst dir dessen unmöglich sicher sein, Tomas.«
»Einen gewissen Grad von Glaubwürdigkeit kannst du mir getrost zubilligen.« Die gegen mich gerichtete Kritik in Tomas’ Worten war nicht zu überhören. »Schließlich bin ich hier der Einzige, der sich in mesopotamischer Kultur einigermaßen auskennt.«
Ich hob beschwichtigend die Hand. »In Ordnung, ich habe verstanden. Aber wollen Sie ernsthaft behaupten, dass in all der langen Zeit niemand darauf gestoßen sein soll? Das ist einfach absurd.«
»Es gibt im Irak zwölftausend archäologische Ausgrabungsstätten«, meinte Tomas giftig. »Und das sind nur die offiziell registrierten Orte. Viele wurden bisher nicht eingehend untersucht.«
Laurel und Ari wechselten vielsagende Blicke, als die Diskussion hitziger wurde. Schließlich ergriff sie meine Hand. »Ihr streitet euch im Augenblick über Phantome. Wenn ihr die Schrifttafel gefunden habt, wird sich alles aufklären. Aber wie dem auch sei, ich bin todmüde. Ich brauche erst einmal eine Mütze Schlaf.«
Am Empfang verwendete ich den größten Teil des Guthabens auf meiner Visa-Karte, um für Laurel und mich Zimmer für zwei Nächte zu buchen.
»Hast du noch Lust auf einen Drink?«, fragte Laurel, als wir vor ihrer Tür standen. »Ich möchte im Augenblick nicht alleine sein.«
»Klar. Warum nicht?« Ich ließ mich aufs Bett fallen, während sie zwei Miniflaschen Scotch aus der Zimmerbar holte. »Ohne alles ist ganz okay«, sagte ich. Sie reichte mir mein Glas und ließ sich neben mir nieder.
Ich holte mein Mobiltelefon hervor und entfernte den Batteriedeckel.
»Was tust du?«
»Wie konnte dieser Typ im Narrenkostüm uns aufspüren?«, sagte ich. »Das war kein Zufall – ich habe darauf geachtet, dass uns niemand verfolgt.«
»Sie müssen uns irgendwie überwachen.«
»Ich habe keine Lust, diese Verrückten ständig im Nacken zu haben.« Ich holte den Akku heraus und untersuchte das leere Fach. »Verdammt. Das sieht okay aus. Ich dachte schon, dass Eris so etwas wie einen Peilsender darin versteckt hat.«
Sie nippte an ihrem Glas. Als das Schweigen zwischen uns peinlich zu werden drohte, sagte sie: »Du kannst dich ruhig ausziehen.«
Obgleich die Aufforderung nicht gerade von der romantischen Art war, brachte dieser schnelle Wechsel von belangloser Konversation zu unverblümter Einladung mein Blut in Wallung. Ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als aus meinem Hemd zu schlüpfen.
»Dreh dich um.«
Offenbar hatte sie Hemmungen, sich nackt vor mir zu zeigen, daher tat ich ihr den Gefallen. »Wenn du das Licht löschen möchtest, nur zu. Mir ist es recht.«
»Nein, es ist schon okay.« Sie nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände und streichelte meinen Hals. Ich ergriff eine Hand und hauchte einen Kuss darauf. Sie murmelte etwas, das ich nicht verstand, und zog sie zurück. Das beeinträchtigte meine Begierde in keiner Weise. Ich spürte, wie ich auf ihre Nähe reagierte. Sie ließ ihre Finger zu meinem Nacken wandern. Die Muskeln in meinen Schultern kapitulierten. Zum ersten Mal seit langer Zeit entspannte ich mich.
Ich lehnte mich ein wenig zurück. Strähnen ihres langen braunen Haars glitten über meine Schultern. Sie begann, mit den Fingerspitzen meinen Rücken zu massieren. Ich überließ mich ihren Händen. Bisher lief auch ohne mein Zutun alles bestens.
Dafür hatten ihre nächsten Worte die gleiche Wirkung wie ein Sprung ins eiskalte Wasser. »Da ist irgendetwas unter der Haut auf deinem Rücken. Wahrscheinlich hat Eris es eingepflanzt, während du bewusstlos warst. Wir müssen es herausholen.«
Ich weiß nicht, was mich gründlicher auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen ließ: die Erkenntnis, dass Laurels Fingergymnastik kein Vorspiel zu einem erotischen Intermezzo war, oder dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass man mir dieses Ding eingesetzt hatte.
»Bei all den Blessuren, die dein Körper in der letzten Zeit einstecken musste, hast du diesen Schmerz wahrscheinlich gar nicht bemerkt.«
Ich setzte mich auf den Toilettendeckel, während sie eine Pinzette und eine Hautschere aus ihrem Manikürenecessaire benutzte, um den Gegenstand herauszuangeln. Ein, zwei kleine Stiche und es war vorbei. Sie legte mir ein winziges Objekt in die Hand, nicht viel größer als ein Reiskorn.
»Wirf’s in die Toilette und spül’s einfach runter«, sagte sie.
Ich zupfte ein Kosmetiktuch aus dem Spender auf der Glasablage unter dem Spiegel über dem Waschbecken und wickelte den Gegenstand darin ein. Ich verstaute das kleine Päckchen in der Hosentasche, kehrte ins Hotelzimmer zurück und zog mein Oberhemd wieder an.
Laurel stand mit besorgter Miene in der offenen Badezimmertür. »Willst du das Ding nicht loswerden?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe eine bessere Idee.«