Vierundzwanzig

Mittwoch, 6. August 2003, 7:00 Uhr

Ob es an meiner emotionalen Achterbahnfahrt am Vortag lag oder einfach daran, dass ich dringend die Lösung finden musste: Auf jeden Fall entschlüsselte ich sozusagen im Handumdrehen am nächsten Morgen den ersten Teil von Hals Rätsel.

Owl la memoir wurde zu low memorial. Wie in Low Memorial Building, dem Verwaltungsgebäude der Columbia University. Zwar ließen die Worte sich nicht auf sieben Felder verteilen, trotzdem war ich überzeugt, der Auflösung auf der Spur zu sein. Ich würde die Antwort sicherlich auf dem Campus finden.

Ich sah noch einmal in meinem E-Mail-Fach nach, aber es gab keine weiteren neuen Nachrichten. Ich schickte jedoch meinem Anwalt Andy Stein eine Anfrage, ob es möglicherweise schon zu spät sei, hinsichtlich des Verkaufs der Eigentumswohnung etwas zu unternehmen.

Ich hätte es begrüßt, Tomas aus dem Weg gehen zu können, jedoch war es für uns beide sicherer, zusammen die Bibliothek aufzusuchen. Mittlerweile dürfte Ari ihn über Laurels Schicksal ins Bild gesetzt haben, so dass ich wohl davon ausgehen konnte, dass er ausreichend motiviert war, ihr zu helfen. Ich stopfte meine Siebensachen in die Reisetasche, wählte seine Nummer, um ihm Bescheid zu sagen, er solle sich bereithalten, und wurde mit seiner Mailbox verbunden. Als ich an seine Tür klopfte, rührte sich nichts.

Am Empfang beglich ich die Rechnung für unsere Zimmer und wollte für Tomas Zakar eine Nachricht hinterlassen, in der ich ihn bat, sich mit mir an der Columbia University zu treffen.

Die Hotelangestellte rief im Computer seinen Namen auf. »Er ist schon heute Morgen ausgezogen, Sir.«

»Sind Sie sicher?« Hatte ihn die Neuigkeit über Laurel derart erschreckt, dass er sämtliche weiteren Pläne, die Suche nach der Schrifttafel betreffend, aufgegeben hatte? War er zusammen mit Ari abgereist? Ein weiteres Mysterium, mit dem ich mich herumschlagen konnte. Ein Versuch, Ari per Mobiltelefon zu erreichen, brachte mich nicht weiter. Auch er meldete sich nicht. Wahrscheinlich befand er sich längst über dem Atlantik und war nicht mehr zu erreichen. Ich hatte keine Zeit, mir wegen Tomas den Kopf zu zerbrechen. Laurel war jetzt das Einzige, was für mich zählte.

Ein metallisches Klirren und Klappern verkündete, dass die Stadt aus ihrem nächtlichen Schlaf erwachte. Müllwagen rollten durch die Straßen und leerten die bereitgestellten Abfalltonnen, Lieferwagen standen am Bordstein und entluden ihre Waren, Verkaufspersonal kurbelte Absperrgitter vor Schaufenstern hoch. Ich kam an einem ganz speziellen Privatunternehmer vorbei, der auf der Eingangstreppe eines der eleganten Gebäude saß, die die 5. Avenue säumten, und Vorbereitungen für seinen Arbeitstag traf. Zwei Katzen lagen zu seinen Füßen, eine silbergraue und ein pechschwarzer Perser, jede auf einem runden, blauen Kissen mit einer offenen Dose Katzenfutter zwischen ihnen und einem mit krakeligen Lettern beschrifteten Schild BITTE EINE SPENDE. Den eleganten Kodiak-Stiefeln nach zu urteilen, die der Mann trug, waren die Leute bisher ausgesprochen großzügig gewesen.

Eine Freiheitsstatue wedelte mir mit einem Flugblatt vor der Nase herum. Es war ein Mann, der von Kopf bis Fuß in ein grünes Latexkostüm gehüllt war. Sein weiter Umhang flatterte im morgendlichen Wind. Sein Gesicht war mit grüner Farbe bedeckt und auf dem Kopf trug er eine Krone mit sieben Zacken. Die Katzen betrachteten ihn staunend.

Ich mischte mich unter die Leute, die sich in die U-Bahn drängten, um ins Stadtzentrum zu fahren, stieg an der 116. Straße aus und ging zum Campusgelände. Ich redete mir ein, dass Laurel nichts zugestoßen und sie wohlauf war. Ohne die Schrifttafel würden sie keine wesentlichen Schritte unternehmen. Trotzdem wuchs meine Unruhe und dämpfte den Ansturm nostalgischer Gefühle beim Anblick des Low Memorial. Wie oft hatten Hal, Corinne und unsere anderen Freunde sich auf diesen Stufen getroffen, um gemeinsam die Zeit totzuschlagen und das Leben zu genießen? Ich hatte so manche schöne Zeit an der Columbia verbracht; zu viele, zurückblickend betrachtet.

In seiner neoklassischen Schönheit war das Low Memorial ein Tempel am Ende einer imposanten Freitreppe. Seine Architekten waren offensichtlich durch das römische Pantheon inspiriert worden. Zehn ionische Säulen trugen eine mächtige Kuppel aus Granit.

Ich passierte Bronzestatuen von Zeus und Apollo und blieb im Eingang stehen. Was suchte ich eigentlich? Viele klassische Elemente waren bei der Innenausgestaltung verarbeitet worden. Auf welches genau spielte Hal an? Die zwölf Sternzeichen waren im Kreis um die berühmte Büste der Pallas Athene angeordnet. Keins passte in die sieben Felder von Hals Rätsel. Ich rief mir die ursprünglichen Worte ins Gedächtnis: owl la memoir. Vielleicht hatte Hal sie nur benutzt, um damit den Namen des Gebäudes herleiten zu können, aber ich war überzeugt, dass sie eine tiefere Bedeutung hatten.

Die Verbindung zu owl setzte etwas in meinem Gedächtnis in Gang. Hal hatte das Spiel für mich entwickelt, daher müsste etwas, das ich kannte, in engem Bezug zur Antwort stehen. Und dann fiel mir ein, was es war. Die Statue der Alma Mater vor dem Gebäude. Als Studienanfänger befanden wir uns in einem ständigen Wettstreit, wer das Bild der Eule in ihrem Gewand als Erster findet. Die Statue war der griechischen Athene, gleichzeitig die römische Minerva, nachempfunden. Da hatte ich die sieben Buchstaben: der Name von Hals Mutter.

Ich setzte mich draußen auf die Treppe und trug Minerva in die sieben freien Felder ein. Der Name und das Anagramm verblassten und übrig blieben das auf der Spitze stehende Quadrat und das Wort Transmutation, wodurch ich die Bestätigung erhielt, dass ich die richtige Antwort gefunden hatte.

Und das bedeutete was?

Ich erinnerte mich an die Urne, die ich im Stadthaus gefunden hatte, und an die matt glänzenden Steine darin. Es konnten weniger wertvolle Diamanten gewesen sein, aber in der Urne hatte sich darüber hinaus nichts anderes befunden, kein Hinweis auf irgendein Versteck. Ich dachte sicherlich zehn Minuten lang darüber nach, bis mir eine Bemerkung Corinnes in den Sinn kam.

Höchst seltsam, was er mit ihr gemacht hat.

Als sie es sagte, hatte ich angenommen, sie meine damit ihre ziemlich ungewöhnliche Beziehung. Hatte sie etwas anderes im Sinn gehabt? Sie meldete sich sofort, als ich ihre Nummer wählte.

»John, gut dass du anrufst. Tut mir leid, dass ich mich noch nicht gemeldet habe.«

»Kein Problem, Corrie. Hör mal, mir geht die ganze Zeit etwas durch den Kopf. Als ich bei dir war, hast du davon gesprochen, wie seltsam gewesen sei, was Hal mit Mina gemacht hat. Was genau hast du damit gemeint?«

»Hat Hal es dir nicht erzählt?«

»Nein. Er hat die Leiche einäschern lassen, nicht wahr?«

»Als ersten Schritt, ja.«

»Als ersten Schritt?«

Ich hörte, wie sie seufzte. »Es überrascht mich nicht, dass er es nicht allgemein bekannt machen wollte. Es war so abartig. Völlig unfassbar, wie man sich so eng an einen Menschen ketten kann. Jedenfalls hat er ihre Asche komprimieren und in einen Diamanten umwandeln lassen – es ist der Solitär in dem Ring, den er danach immer trug. Auf gewisse Art und Weise sei sie so unsterblich, meinte er.«

»Ist das dein Ernst?«

»Man kann das heute machen. In einem erwachsenen menschlichen Körper ist genügend Kohlenstoff enthalten, um daraus mehrere kleine Diamanten herzustellen. Sie werden künstlich aus der Asche erzeugt.«

»Mein Gott.«

Mir fehlten die Worte.

Corinne brach schließlich das Schweigen. »Da ist noch etwas anderes, was ich dir erzählen muss. Über Hanna Jaffrey.«

»Hast du sie gefunden?«

»Es gab da eine Meldung in einem irakischen Nachrichten-Blog. Das Bild wäre niemals in den regulären Nachrichtenmedien veröffentlicht worden. Hast du schon mal etwas von einem Ort namens Tell al-Rimah gehört? Er liegt irgendwo im Irak.«

Tomas hatte diesen Ort als mögliches Ziel Hanna Jaffreys genannt, nachdem sie ihr Camp in Ninive verlassen hatte. »Ja, ich weiß, dass es ihn gibt.«

»Offensichtlich wurde ihre Gruppe von einem Ausgrabungsteam, das in Tell Afar tätig war, vermisst. Und zwar im April. Ein Sandsturm hatte die Region heimgesucht, ein sehr heftiger offenbar. Nachdem der Sturm sich verzogen hatte, haben sie nach ihnen gesucht. Sie fanden Hanna zuerst, an einen Pfahl gefesselt. Es war brutal. Sie war gesteinigt worden. Einer ihrer Kollegen meinte wohl, von ihrem Gesicht sei nichts mehr zu erkennen gewesen.«

Mir wurde fast übel, als ich das hörte. »Mein Gott, das ist ja furchtbar. Weiß man, wer das getan hat, und hat man den Schuldigen geschnappt?«

»Die Leiche ihres Freundes wurde ebenfalls gefunden, nicht allzu weit entfernt. Er gilt als verdächtig. Sein Knie war verletzt, aber man nimmt an, dass er sie umbrachte und dann von dem Sturm überrascht wurde. Offensichtlich haben sie sich im Lager wegen irgendetwas gestritten.«

Oder hatte der Freund fremde Hilfe? Ich brauchte einige Sekunden, um mich so weit zu beruhigen, dass ich wieder reden konnte.

»Bist du noch da?«

»Ja. Ich denke nach.«

»John, ich will mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber das alles ist wirklich entsetzlich. Bist du okay?«

»Ich passe schon auf.«

»Das hoffe ich doch. Ich habe auch noch eine andere Information ausgegraben. Viel ist es nicht, aber vielleicht hilft es dir weiter. Es geht um die Frau – Eris Haines. Ihr richtiger Name lautet Eris Hansen und sie wurde nicht gefeuert. Sie war eine Spezialistin für Transhumanismus und verließ das DOD in allen Ehren.«

»Transhumanismus. Was heißt das?«

»Es geht dabei um Technologien, die die physischen oder mentalen Fähigkeiten des Menschen steigern sollen. Stell dir einen bionischen Mann oder eine bionische Frau vor.«

Haines hatte erzählt, sie habe das MIT besucht, daher passte es ins Bild. »Corinne, vielen Dank für all das. Du hast mir wirklich geholfen.«

»Kein Problem. Melde dich. Mach dich nicht wieder so rar, okay?«

»Nein, versprochen.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, dachte ich über diesen neuen Aspekt nach, den Transhumanismus, und fragte mich, was das mit dem Schatz zu tun haben könnte, dessen Versteck auf Nahums Schrifttafel genannt wurde. Ich hatte angenommen, dass der Begriff Transmutation sich auf die Umwandlung von unedlen Metallen in Gold bezog, da er meistens in dieser Bedeutung benutzt wird. Aber er konnte sich auch auf jede andere Art von Veränderung beziehen, sogar auf die Evolution. Als ich den Begriff recherchierte, konnte ich nachlesen, dass Charles Darwin anfangs als Transmutationist bezeichnet wurde. Ein typisches Hal’sches Wortspiel: von menschlichem Fleisch zu einem Diamanten. Von einem menschlichen Tierwesen zu einer völlig neuen Seinsform. War dies vielleicht das übernatürliche Element, auf das Tomas angespielt hatte? Diese Frage führte jedoch nirgendwohin, und ich tappte weiterhin völlig im Dunkeln.

Ich musste zum Sheridan Square zurückkehren, dem Ort, wo ich das letzte Mal einen Ring gesehen hatte. Ehe ich die Bibliothek verließ, sah ich in der Hoffnung auf eine Nachricht von Tomas in meinem E-Mail-Fach nach. Von ihm war nichts gekommen, aber mein Anwalt hatte geantwortet:

John,

zuerst einmal, was ist mit Reznick? Ich bringe Sie mit einem der besten Strafverteidiger der Stadt zusammen, und Sie bringen es fertig, zu einem Termin mit ihm nicht zu erscheinen. Reznick ist stocksauer und ich bin auch nicht besonders glücklich. Was die Wohnung betrifft, war eine New Yorker Firma für den Käufer tätig und ich habe mich mit ihr in Verbindung gesetzt. Der Verkauf wurde ordnungsgemäß vollzogen und ist endgültig. Da lässt sich nichts mehr machen. Ich habe Ihre Lage geschildert und man lässt Ihnen Zeit bis zum 26. August. Unter den gegebenen Umständen ist das sehr großzügig. Bis dahin müssen Sie Ihren sämtlichen Besitz aus der Wohnung herausgeschafft haben, sonst wird er entsorgt. Das ist das Beste, was ich erreichen konnte. Ich schicke Ihnen in Kürze eine schriftliche Bestätigung nebst meiner Rechnung.

Meine letzte Hoffnung erlosch wie ein Feuer im Regen. Ich konnte ein wenig Bargeld aufbringen, indem ich Samuels Sammlung verkaufte, etwas, woran ich noch nicht einmal denken wollte. Ansonsten war ich pleite, auf der Flucht und völlig alleine.

Babylon
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