Sechs
Das grelle Tageslicht traf mich wie ein harter Schlag, als ich das Revier verließ und auf die Straße trat. Die Hitze hatte den Asphalt auf dem Bürgersteig stellenweise aufgeweicht. Ich schätzte die Temperatur auf gut 30 Grad Celsius. Ich blickte zur Sonne hoch, die als glühender Ball am strahlend blauen Himmel stand, und kam mir vor wie ein Blinder, der soeben sein Augenlicht wiedergewonnen hatte. Ich konnte diesen Ort nicht schnell genug verlassen.
Mir fiel nur eine Person ein, an die ich mich wenden konnte – Hals Exfrau, Laurel. Wenn die Nachricht von Hals Tod sie bereits erreicht hatte, wäre sie sicherlich zu Tode betrübt und brauchte meine Unterstützung. Was mich betraf, so wünschte ich mir jetzt als Gesellschaft jemanden, dem ich vertrauen konnte.
Ich musste einige gemeinsame Freunde anrufen, um zu erfahren, dass sie vorübergehend in das Haus von Hals Mutter am Sheridan Square umgezogen war.
Laurels Ehe mit Hal dauerte alles in allem genau ein halbes Jahr. Seit ihrer Trennung vor gut einem Jahr hatten sie eine höchst ungewöhnliche, aber dafür umso tiefere Freundschaft zueinander aufgebaut, da ihnen klar geworden war, dass sich keiner von beiden für die Ehe eignete. An eine Scheidung hatten sie nie gedacht. Laurel arbeitete gerade an ihrer Dissertation in Philosophie, als sie Hal an der NYU kennenlernte. Sie war sehr gescheit, erdrückte ihre Umwelt jedoch niemals mit ihrem Intellekt, im Gegensatz zu Hal, der es liebte, die Leute sprachlich aufs Glatteis zu führen und ihnen ein Bein zu stellen. Ich hatte sie immer sehr anziehend gefunden, war jedoch wegen Hal auf Distanz geblieben. Hatte die Polizei sie schon benachrichtigt? Ich hoffte, dass nicht ich es war, der ihr die traurige Nachricht übermittelte.
Das Haus, in dem sie wohnte, war vom Revier nicht allzu weit entfernt, daher machte ich mich zu Fuß auf den Weg dorthin und nutzte die Zeit, um mich nach meinem Beinahereinfall bei der Polizei ein wenig zu beruhigen.
Ich konnte ein Gefühl des Unbehagens nicht abschütteln. Anfangs erklärte ich es als Folge des Verhörs, doch schon bald glaubte ich, sicher zu sein, dass mich jemand beschattete. Eris? Ich schaute zurück, ließ den Blick über die Gesichter der Leute hinter mir schweifen, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Ich machte einen Abstecher in eine Saftbar am Wege und inspizierte jedes Gesicht, als die Passanten an mir vorübergingen. Auch jetzt: Fehlanzeige. Ich schlug absichtlich einen anderen Weg ein und ging durch eine Straße, die von vierstöckigen Stadtvillen gesäumt wurde. Eines der Häuser, das mit kunstvoll geschmiedeten Eisengittern und Zierpfeilern und einem im spanischen Stil gehaltenen Balkon ausgestattet war, sah aus, als sei es aus einer Straße in New Orleans direkt nach hier versetzt worden. Trotz des exklusiven Charakters dieses Wohnviertels wurden die Straßen von Bäumen überschattet, die dringend gestutzt werden mussten. Die hohe Luftfeuchtigkeit und das saftige Grün in den Vorgärten sorgten für ein tropisches Flair. Nur wenige Leute bevölkerten die Bürgersteige. Eris würde sich kaum verstecken können. Ich wartete circa zehn Minuten lang, bemerkte jedoch nichts Ungewöhnliches. Der Augenschein versicherte mir, dass keinerlei Gefahr drohte, doch mein sechster Sinn widersprach dieser Überzeugung.
Es erschien völlig verrückt, dass sich für mich, einen bis dahin unbescholtenen Bürger, das Leben innerhalb eines Tages derart verändert hatte, dass ich mich nun in einem Zustand akuter Angst befand.
Ich schaute noch einmal die Straße hinauf und hinunter, als ich Laurels Haus erreichte. Auch jetzt konnte ich nichts Auffälliges feststellen, also ging ich hinein. Hal hatte das Haus seiner Mutter übernommen, als sie im vergangenen Herbst gestorben war. Ihr Penthouse saß wie ein Adlernest auf dem dunkelbraunen Klinkerbau, der sich durch eine dekorative Mischung aus gotischen Säulen, Fensterbögen, Altanen und Wasserspeiern von den benachbarten Gebäuden deutlich abhob. Das Parterre beherbergte eine Bar, die für ihre an jedem Montag stattfindenden und von Transvestiten in großer Zahl frequentierten Latino-Partys berühmt war.
Meine einzige Sorge war, ob Gip sich noch an mich erinnern würde, doch als ich die Vorhalle betrat, erhob er sich grinsend hinter seinem Empfangspult. In seiner grünen Uniform mit zahlreichen Goldschnüren, die aus einer Mütze, einem langen Mantel und einer dazu passenden Hose bestand, sah er wie immer absolut perfekt aus. Nur gut, dass auch das Foyer klimatisiert war. Gip, ein stämmiger Ire mit rundem, rotem Gesicht, vertrat seine Familie bereits in dritter Generation auf diesem Posten. Als Angehöriger der gehobenen Portiersaristokratie nannte er sich Gerald Powell der Dritte.
»Schön, Sie mal wiederzusehen, John. Sie waren schon lange nicht mehr hier.«
»Danke, Gip. Ich wollte zu Laurel Vanderlin, wenn sie überhaupt zu Hause ist.«
»Eine Sekunde, ich schaue mach.« Er tippte ein paar Zahlen ein, sagte etwas ins Telefon und reichte mir den Hörer.
»Hi, Laurie. Ich bin’s – John.«
»Oh, John. Dann hast du es schon gehört.«
»Ja. Darf ich raufkommen?«
»Ich bitte darum. Ich brauche dringend Gesellschaft.«
Der Fahrstuhl war gründlich renoviert und aufpoliert worden, jedoch hatte man klugerweise die Messingbeschläge im Art-deco-Stil weitgehend erhalten. Ein livrierter Angestellter mit weißen Handschuhen schob die Tür auf. Dies musste eines der wenigen Häuser in Manhattan sein, das einen solchen Service anbot. Hier fragte man nicht nach dem Stockwerk, sondern nannte einfach nur den Namen des Hausbewohners. Wir stiegen auf in Richtung Penthouse.
Laurel wartete bereits in der halboffenen Tür. Ich schloss sie in die Arme, schmiegte mein Gesicht an ihres und spürte die Tränen auf ihrer Wange. Ich nahm den Geruch von Alkohol in ihrem Atem wahr. Das hellere Licht in der Wohnung zeigte mir ein Gesicht, das vom Weinen gerötet und verquollen war. In ihren Augen lag jener glasige Ausdruck von Leuten, die einen Schock erlitten und noch nicht überwunden hatten.
Wir gelangten in eine Rundhalle, deren Fußboden aus glänzendem Giallo-Marmor aus Siena bestand. Die Spiegel waren entsprechend der Rundung der Wände maßgefertigt, und in der Mitte stand eine mit Intarsien versehene und von Hand bemalte Credenza, die einst einem französischen König gehört hatte. Darauf brannte eine Tiffany-Lampe. Der Fußboden im Empfangszimmer, im Fischgrätenmuster verlegtes Eichenparkett, war mit seidenen Kashan-Teppichen aus dem siebzehnten Jahrhundert bedeckt, die so wertvoll waren, dass ich es als Sünde empfand, sie zu betreten. Drei hohe, von schweren Brokatvorhängen eingerahmte Glastüren führten hinaus auf die erste Terrasse. Insgesamt boten die Räume einen Anblick seelenloser, abgestandener Eleganz.
Hals Mutter hatte nur eine einzige Veränderung vorgenommen, indem sie einen Flur, eine Vorratskammer und einen Frühstücksraum zu einem großen Wohnzimmer mit moderner Küche zusammengelegt hatte. Dieser Bereich war in Klinikweiß gehalten. Weißer Teppichboden, weiße Wände, weiße Möbel. Das Ganze erinnerte an einen Operationssaal mitten in einem Museum.
Ich ließ mich auf die Couch im Wohnzimmer fallen. Laurel fragte, ob ich etwas zu trinken wolle.
»Nichts, danke.«
»Bist du sicher?« Sie griff nach ihrem Longdrinkglas, das zur Hälfte mit etwas gefüllt war, das wie Wasser aussah, aber, wie ich wusste, etwas ganz anderes war, und hielt es einladend hoch.
»Du trinkst deinen Wodka pur?«
»Das Eis ist mittlerweile geschmolzen. Wenn du mir nicht Gesellschaft leisten willst, viel Spaß beim Zuschauen.« Sie leerte das Glas in einem Zug. Ich hatte nicht vor, ihr zu raten, die Finger vom Alkohol zu lassen. Ich mit einem eigenen Hang zu einem nicht unbeträchtlichen Katalog von Sünden war wohl kaum der Richtige, um anderen Moral zu predigen. Nach dem, was mit Hal gestern Abend passiert war, konnte man ihr durchaus nachsehen, dass sie sich betäuben wollte.
Laurel sank in einen Sessel. »Welcher böse Geist hat über uns seinen Fluch ausgesprochen, John? Zuerst hatten Samuel und du diesen schrecklichen Unfall und jetzt dies hier. Es ist unfassbar.«
»Ich weiß.« Ich empfand eine Art leidvolle innere Verbindung mit ihr, nun, da wir beide einen schmerzlichen Verlust verwinden mussten.
»Ich habe ihn so oft gewarnt, dass diese Drogen am Ende sein Tod wären.«
Wie viel wollte ich ihr offenbaren? »Ich bin mir nicht sicher, ob es sich so einfach erklären lässt. Hal rief mich an, nachdem ich die Party verlassen habe. Ich bin schnellstens zurückgekehrt, aber er war schon tot, als ich dort eintraf.«
»Du hast ihn gefunden? Das hat die Polizei mir nicht erzählt. Was ist passiert?«
»Jemand auf der Party hat ihm eine tödliche Überdosis verpasst. Eine Frau. Sie hat auch mich bedroht.«
Ihr Gesicht wurde fahlweiß. »Darüber hast du die Polizei doch informiert, nicht wahr?«
»Ich habe mit ihnen geredet und komme gerade von dort. Sie glauben mir nicht. Aufgrund meiner Vorstrafen und angesichts der Tatsache, dass auf der Party genügend Drogen herumlagen, um damit eine Apotheke zu versorgen, haben sie mich im Visier. So denken sie nun mal.«
»Soll das heißen, dass Hal ermordet wurde und du gesehen hast, wer es getan hat?« Sie schwankte. Ich fing sie auf, ehe sie zu Boden rutschte, half ihr zum Sofa hinüber und setzte mich neben sie. »Das Ganze macht mir Angst, John. Ich weiß nicht, wem ich glauben soll.«
»Warum sollte ich lügen? Sieh mal, ich weiß, wie schlimm das alles für dich ist. Das ist nicht zu übersehen.«
»Es war ohnehin schon schrecklich, und jetzt erzählst du mir, dass es noch viel schlimmer ist. Ich kann das alles nicht begreifen.«
»Wem sagst du das. Ich hatte eine schlimme Zeit, nachdem ich Samuel verlor, und jetzt diese … Sache mit Hal. Es ist, als wäre in meinem Kopf eine Bombe explodiert. Hal war für mich fast so etwas wie ein Bruder.«
»Ich dachte, Samuel war dein Bruder.«
»Sicher, aber er war vierzig Jahre älter als ich, daher kam er mir immer wie mein Vater vor. Und er spielte diese Rolle auch. Meinen richtigen Vater habe ich nie kennengelernt. Wenn Hal aus der Schule oder aus dem Sommerlager nach Hause kam, haben wir immer viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben uns auch oft gestritten. So richtig brüderlich war es eigentlich nie zwischen uns.«
Unsere Unterhaltung schien Laurel ein wenig ruhiger werden zu lassen. »Ich bin das einzige Mädchen in unserer Familie«, sagte sie. »Ich habe vier Brüder. Glaube mir, Streit ist etwas völlig Normales.«
»Aber er hat es zu weit getrieben. Er wollte noch nicht mal damit aufhören, als wir erwachsen waren. An der Columbia University waren wir oft zusammen unterwegs bei irgendeiner Party oder wo auch immer. Wir hatten eine Menge Spaß und dann fing er plötzlich an, in mir einen Konkurrenten zu sehen. Das wird mir jetzt erst richtig klar. Ich hätte ihn schon damals ansprechen und nach dem Grund für dieses Verhalten fragen sollen.«
»Es kommt daher, wie sein Vater ihn behandelt hat. Peter hätte sich genauso verhalten.« Sie hatte eine reizvolle Stimme. Ihre Jahre in New York hatten ihrem mittelwestlichen Akzent nichts anhaben können. »Ich nehme an, ich muss mich jetzt um Peter kümmern und um alles andere.«
Ich ergriff ihre Hand. »Ich helfe dir. Samuel und ich haben Peter besucht, nachdem er ins Pflegeheim gegangen ist. Er hat sich noch an mich erinnert.«
Sie seufzte tief. »Warum ist alles auf einmal so durcheinander? Ich komme mir vor, als wäre ich gerade von einem Zehntonner überfahren worden.«
»Ich glaube, es gibt eine Verbindung. Zwischen meiner Situation und deiner.«
»Was meinst du?«
Wir unterhielten uns noch für einige Minuten und bemitleideten uns gegenseitig wegen des schweren Schlags, den das Leben uns beiden versetzt hatte. »Kennst du irgendjemanden, der es auf Hal abgesehen haben könnte?«, fragte ich.
»Ich habe festgestellt, dass ich über sein Leben nicht alles wusste. Er hat einige Dinge vor mir geheim gehalten – ich erkenne erst jetzt, indem ich seine Konten und seine persönlichen Dinge durchgehe, wie viel das war. Aber meinst du damit jemanden, der sogar so weit gehen würde, ihn zu töten? Ich kann mir niemanden vorstellen, der so etwas tun würde.«
Ich senkte den Kopf und rieb mir die Augen. »Was hat die Polizei gesagt?«
Sie brauchte fast eine Minute, um darauf zu antworten. »Der Detective war ziemlich zurückhaltend. Er meinte nur, dass Hal gestorben sei, wahrscheinlich an einer Überdosis. Ein Nachbar habe die 911 angerufen, nachdem er irgendwelchen Lärm gehört hatte. Er hat Hal auch identifiziert. Gott sei Dank musste ich das nicht tun. Aber sie haben seinen Leichnam noch nicht freigegeben.«
»Laurie, Hal war in irgendetwas verwickelt. Und das hatte nichts mit Rauschgift zu tun. Er hat versucht, ein sehr wertvolles antikes Objekt zu verkaufen, ein echtes Sammlerstück. Darauf hatte die Frau es abgesehen. Weißt du etwas darüber?«
»Glaubst du, dass er deswegen gestorben ist?«
»Ja.«
»Ich dachte, er habe Peters gesamte Sammlung verkauft. Du hast das doch für ihn erledigt. Wenn noch etwas übrig war, weshalb hat er es nicht über dich angeboten?«
»Es hat Peter nicht gehört. Es war eine in Stein gehauene Inschrift, die Samuel aus dem Irak mitgebracht hat. Hal hat sie sich geholt, während ich im Krankenhaus war. Diese Frau, Eris, hat es irgendwie herausbekommen. Hat Hal jemals von ihr gesprochen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.« Laurel stand auf und ging hinüber zu einem Sideboard an der Wand. Dessen Marmorplatte war mit Stapeln von Aktenordnern und Dokumenten sowie mit einigen verstaubten Fotos bedeckt, die neben ihrem Computermonitor standen. Eines davon, ihr Hochzeitsfoto, zeigte eine Braut mit markanten Wangenknochen und einem leicht slawischen Einschlag um die Augen, der ihrem Gesicht ein exotisches Aussehen verlieh. Das schimmernde braune Haar trug sie auf dem Foto zurückgekämmt. Bekleidet war sie mit einem schlichten weißen Satinkleid. In der Hand hielt sie einen Strauß schwarzer Rosen und Schleierkraut. Hal, der stocksteif und kerzengerade in einem strengen schwarzen Anzug neben ihr stand, machte ein unbehagliches Gesicht, als wüsste er bereits, dass diese Ehe zum Scheitern verurteilt war. Wie ein allgegenwärtiger Geist war Hals Mutter, Mina, ein wenig verschwommen, aber deutlich zu erkennen, im Hintergrund zu sehen.
Laurel sah, wie ich das Foto betrachtete. »Weißt du eigentlich, dass es kein Hochzeitsfoto gibt, auf dem nur wir beide zu sehen sind? Mina lauerte stets irgendwo im Hintergrund und hat dafür gesorgt, dass auch sie mit aufs Bild kam.« Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Gewöhnlich gehört diese Geste zu einem Flirt. In ihrem Fall verriet sie jedoch den Kummer und die Anspannung. Sie blätterte in einigen Ordnern und Schnellheftern, jedoch ohne zu finden, was sie suchte. »Irgendwo hat Hal alles notiert, was noch nicht verkauft worden war, vorwiegend Dinge aus seiner Wohnung, aber ich weiß nicht, wo die Liste sein könnte.«
Sie wandte sich zu mir um. »John, es gibt etwas, das du wissen musst. Hal und ich haben darüber gesprochen, wieder zusammenzukommen. Da Mina verstorben war und Peter an einem Ort untergekommen ist, den er wohl nie mehr verlassen wird, ergab sich für mich so etwas wie eine Chance. Hal wurde von seinem Vater tyrannisiert und stand seiner Mutter viel zu nahe. Er verehrte sie. Wusstest du, dass er sie sein Juwel nannte?«
Ich schüttelte den Kopf und ließ sie reden.
»Die Dinge entwickelten sich sehr gut. Mein Mietvertrag lief aus und er bot mir an, hier zu wohnen, weil er vorübergehend ins Stadthaus zog, um Peter zu versorgen. Alles war bestens, bis ich herausbekam, dass er wieder Heroin konsumierte, obgleich er geschworen hatte, er sei darüber hinweg. Wir sahen uns jeden zweiten Tag. Damit war jedoch letzte Woche Schluss, als ich das mit seiner Sucht erfuhr. Ich war rasend vor Wut.« Ihre Unterlippe zitterte.
»Heroin ist teuflisch, Laurie. Es ist so schwer, davon loszukommen. Hal gestand mir einmal, dass er durch die Gosse kriechen würde, um Nachschub zu kriegen. Er hatte das übrigens von einem Experten – William Burroughs. Man kann die Vergangenheit nicht verändern. Versuch, dich auf die Zukunft und die guten Zeiten zu konzentrieren.«
Ihr standen die Tränen in den Augen, jeden Moment würde sie hemmungslos zu weinen anfangen. »Hal brauchte dringend Geld. Er musste die Kosten für das Stadthaus und dies hier tragen. Allein die Steuern betrugen mehr als sechstausend im Monat. Hinzu kamen die Kosten für Peters Pflege.«
»Warum hat er das Stadthaus nicht verkauft?«
»Hal hatte keine Vollmacht, es zu verkaufen. Peter hatte das arrangiert, ehe er so krank wurde, dass er nicht mehr richtig denken konnte.«
»Was hat Hal mit dem Erlös aus dem Verkauf von Peters Sammlung gemacht?«
Laurel schloss für einen kurzen Moment die Augen und versuchte, sich zu sammeln. »Er hat alles ausgegeben. Er war auch im Begriff, seine Stellung zu verlieren. Du weißt ja, wie verhasst ihm gesellschaftliche Ereignisse waren, aber er veranstaltete diese Party, um sich Colin gewogen zu stimmen – sein Vertrag lief aus.«
»Hal erzählte mir, Colin habe ihn gefeuert.« Die wenigen Male, die ich mit Colin Reed zusammengetroffen war, hatte er keinen besonders nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen. »Wie gut kennst du Reed? Hat er Ahnung von Antiquitäten?«
»Nicht viel. Ich sah ihn immer an der NYU, wenn ich dort mit Hal verabredet war. Oder auf Partys und bei ähnlichen Gelegenheiten. Und das war’s auch schon. Ich habe den Mann eigentlich nie richtig gemocht. Er lehrt die großen deutschen Philosophen – Kant, Schelling. Er gilt als ausgezeichneter Hegel-Kenner. Soweit ich weiß, sind diese Leute sein einziger Kontakt mit der Vergangenheit.«
»Reed war gestern dort. Er versuchte, mich mit hineinzuziehen, dieser Mistkerl. Ich frage mich, warum er das getan hat.«
Laurel zuckte die Achseln. Ich bemerkte, wie anmutig ihre Bewegungen waren, sogar in ihrem leicht angetrunkenen Zustand. »Nimm es nicht persönlich«, sagte sie. »Reed ist ein Typ, der das nur so zu seiner Belustigung tun würde.«
»Wo könnte Hals Computer sein – im Haus in der Stadt?«
»Dort ist sein Laptop. Sein Arbeits-PC steht in seinem Büro an der NYU.«
Ich musste sie beide überprüfen. In ihnen musste etwas gespeichert sein, das mir einen Hinweis auf Eris’ Identität liefern konnte.
Laurel gab einen tiefen Seufzer von sich. »Es ist ein seltsames Gefühl, von Hals Familienschätzen umgeben zu sein. Jetzt gehört alles der Bank.«
»Apropos Besitz, er trug immer noch deinen Trauring. Wusstest du das?«
»Du meinst den goldenen Ring mit dem einzelnen Diamanten? Das ist nicht sein Trauring. Er hat ihn aus einem antiken Ring anfertigen lassen, als seine Mutter starb. Er war mit Mina enger verheiratet als jemals mit mir.«
Eine seltsame Art, es auszudrücken, aber absolut zutreffend. Hals Mutter war immer sehr besitzergreifend gewesen. Ich konnte erkennen, wie schwer es für eine junge Ehefrau gewesen sein musste, sich zwischen die beiden zu drängen. »Was ist mit diesem Domizil? Es muss ein Vermögen wert sein.«
»Minas Bruder hat es ihr vererbt. Peter hat sich ganz bewusst nicht von ihr getrennt, bis alles vollends in ihren Besitz übergegangen ist, um sicherzugehen, dass er die Hälfte bekommt. Sie musste eine Riesenhypothek aufnehmen, um ihn auszuzahlen. Wahrscheinlich muss alles verkauft werden, nur um die Schulden abzudecken.«
Ich widersprach ihr nicht. Vielleicht konnte sie nur schlecht rechnen. Selbst wenn Mina gezwungen gewesen war, eine Hypothek in Höhe des halben Werts des Anwesens aufzunehmen, blieb immer noch eine beträchtliche Summe übrig. Aber Peter mochte es geschafft haben, auch auf dieses Penthouse Ansprüche geltend machen zu können.
Ich stand auf, um die Beine zu strecken. Ich war mir nicht sicher, ob ich Hals Brief Laurel jetzt schon zeigen sollte, aber ich brauchte dringend einen Rat. Ich holte die Skizze von dem Puzzle, die ich ausgedruckt hatte, aus der Tasche. »Hal hat eine Art Spiel entwickelt, um mir zu zeigen, wo er die Inschrift versteckt hat. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?« Ich hielt die Zeichnung hoch.
»Warum will er, dass du sie kriegst?« Und nicht ich? Ich konnte regelrecht hören, wie sie das dachte.
»Das geschah nicht aus irgendwelchen altruistischen Gründen. Er hat eine Falle aufgestellt und hat Eris auf mich angesetzt.«
Laurel nahm mir das Blatt Papier aus der Hand, betrachtete es eingehend, dann schlug sie die Hände vors Gesicht. Ich legte einen Arm um sie und ließ sie weinen. Nach ein paar Minuten entfernte sie sich und holte sich ein Papiertaschentuch, mit dem sie ihre Augen abtupfte. »Er hat erwartet, dass du das auflöst?«
»Es sieht so aus.«
Sie seufzte abermals. »Er hat mich immer bei diesen Wortspielen besiegt. Dieses Rätsel zu lösen, erzeugt bei mir das Gefühl, als würde ich mit einem Gespenst spielen.«
»Ich glaube nicht, dass es eine andere Wahl gibt. Jedenfalls nicht für mich.«
»Willst du behaupten, dass Hal deswegen jetzt im Leichenschauhaus liegt? Möchtest du auch dort enden?«
»Das Ganze war einige Nummern zu groß für ihn. Vergiss nicht, dass ich mich in dem Metier ganz gut auskenne. Die Worte, die er benutzt, sind, gelinde gesagt, ungewöhnlich.«
»Einige beziehen sich auf die Alchemie. Wie das Picatrix. Das ist ein Handbuch über Magie und stammt aus dem dreizehnten Jahrhundert. Die Worte schwarz und weiß bezeichnen wahrscheinlich zwei der Stadien bei der Umwandlung von unedlen Metallen in Gold. Melanosis, die Schwärzung, kommt zuerst, um Verunreinigungen durch Feuer zu eliminieren, und das nächste Stadium ist die Leucosis, die Weißung. Das letzte Stadium wäre dann die Iosis, die Rötung oder das Erreichen der reinen Form.«
»Alchemie? Wirklich? Das überrascht bei einem engagierten Akademiker wie ihm.«
Ich fand es seltsam, dass es in Hals Rätsel von Begriffen aus der Alchemie wimmelte. Wie ließ sich das mit einem neoassyrischen Fundstück verbinden? Hatten die Assyrer etwa nach Methoden gesucht, einfaches Metall in Gold umzuwandeln? Ich hatte immer angenommen, dass die Alchemie ihren Ursprung bei den Ägyptern hatte und nicht bei den Mesopotamiern.
Laurel gab mir die Zeichnung zurück. Ihr Fingernagel war ausgefranst und die Nagelhaut war gerötet, Anzeichen, dass ihre Sorgen schon lange vor Hals Tod begonnen hatten. »Eigentlich überrascht es nicht. Komm mit – du musst dir etwas ansehen.«