Siebzehn

Nachdem ich mich von Corinne verabschiedet und den Chip aus seinem Versteck geholt hatte, hielt ich ein Taxi an und erreichte schon bald die Gegend am westlichen Ende der 34. Straße, die Tomas erwähnt hatte. Es war eine trostlose Umgebung, ein dunkler Fleck im glitzernden Labyrinth Manhattans.

Ich bat den Chauffeur, langsamer zu fahren. Links von mir erstreckte sich das weitläufige Gelände des West Side Güterbahnhofs. Gegenüber stand eine Kirche mit roter Klinkerfassade, romanischem Torbogen aus weißem Kalkstein, darüber ein gotisches Fenster, das mit Zementblöcken geschlossen worden war. Das war kein Firmengebäude, aber ich bat den Fahrer, trotzdem für einen Moment anzuhalten – ich konnte von hier aus den Hudson River sehen, also mussten wir schon ganz in der Nähe sein. Auf einem Schild neben dem Eingang war zu lesen:

ST. MICHAEL’S CHURCH

Gottesdienste nach römisch-katholischer Tradition

seit 1857

Eine Jesus-Statue stand vor der Kirche. In voller Lebensgröße, eingeschlossen in transparentes Plastikmaterial wie in einen durchsichtigen Sarg, stand die Figur auf einem Podest und blickte auf die Passanten herab. Sie bestand aus Gips, hatte eine Hand ausgestreckt, während die andere ein großes vergoldetes Gitterwerk berührte, das teilweise von einem goldenen Kreuz und einem weißen menschlichen Herz bedeckt wurde. Über dem Plastikkasten waren in großen römischen Lettern die Worte zu lesen: »Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.«

Mir kam es vor, als wäre der Text für mich geschrieben worden.

Im nächsten Block fand ich es, ein unauffälliges, etwa fünf Stockwerke hohes Gebäude mit schlichter Stuckfassade. Auf Straßenniveau hatte es eine mit weißen Kalkstreifen verunstaltete, blaue Brettertür, die offensichtlich seit Jahren nicht benutzt worden war, und ein Stück weiter eine gewellte Metallplatte, so groß wie ein Garagentor. Daneben entdeckte ich an der Hauswand ein schlichtes Messingschild, in das die fünf Planetensymbole eingraviert waren.

Der Fahrer machte sich bemerkbar. »Wenn wir weiterfahren, kommen wir zur Schnellstraße. Was wollen Sie tun?«

»Ich habe genug gesehen. Bringen Sie mich zum Port Authority.«

Er knurrte etwas, das ich für Zustimmung hielt, wendete und gab Gas.

Er setzte mich am Port Authority Busbahnhof ab, wo die fliegenden Händler noch immer ihre Waren anboten – antiquarische Bücher, Damenhandtaschen, Duftöle. Einer von ihnen zog den Korken aus einer Flasche und hielt sie mir hin. Der Duft von Jasmin drang bis zu mir und mischte sich mit dem Abgasgestank der Straße.

Ein Obdachloser näherte sich mir mit bettelnd ausgestreckter Hand. Er trug eine löcherige Trainingshose, Nike-Turnschuhe und auf dem Kopf eine Baseballmütze, unter der sich Dreadlocks hervorkräuselten. Seine blassen Augen fixierten mich. Sein Lächeln enthüllte die fauligen Zahnstümpfe eines Crystal-Meth-Süchtigen. Ich gab ihm ein paar Vierteldollarmünzen. Er tippt dankend gegen seinen Mützenschirm, während ich weiterging.

Das letzte Mal, dass Busreisen als etwas Vornehmes betrachtet wurden, muss zwischen den beiden Weltkriegen gewesen sein. Egal in welcher Stadt man ist, alle Busbahnhöfe vermitteln einen traurigen, vernachlässigten Eindruck. Und Port Authority stellte in dieser Hinsicht alle anderen in den Schatten. Eine Haut aus schlammfarbenen Keramikfliesen bedeckte den Fußboden, die Wände und die massiven quadratischen Stützpfeiler. Es schien, als habe die Verwaltung sich verschworen, das Licht so trübe und abweisend wie möglich zu halten. Die Ausnahme bildete ein riesiges Kunstwerk aus glänzendem Aluminium und vielfarbigen Glasfacetten an der südlichen Wand. Es hing dort wie ein wunderschönes Kind, das man in einer öffentlichen Toilette vergessen hatte.

Ich ging zum Fahrkartenschalter und dachte, dass ich vielleicht mein Geld sparen könnte, wenn ich Samuels Kreditkarte ausprobierte. Die Angestellte empfing mich mit einem abweisenden Blick. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Das war die jedem Verkaufspersonal eingebläute Frage, die man zu hören bekommt, ehe sie einem das Fell über die Ohren ziehen.

»Eine Fahrkarte für den nächsten Bus nach Philadelphia, bitte.«

»Einfach oder mit Rückfahrt?«

»Einfach.«

»Das macht dreiundzwanzig Dollar.«

Ich steckte Samuels American-Express-Karte durch das Schalterfenster. Die Frau schob die Karte durch den Leseschlitz und wartete. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie auf den Bildschirm. Dann sah sie mich an. »Tut mir leid, Sir, diese Karte ist nicht mehr in Ordnung. Es heißt hier, der Inhaber sei verstorben.« Sie betrachtete mich prüfend. »So schlecht sehen Sie aber nicht aus.«

Ich murmelte eine Entschuldigung und fragte, wo der Bus abfahre. Sie verdrehte die Augen und deutete auf eine Ansammlung von Hinweisschildern. »Richten Sie sich nach den Wegweisern. Dafür sind sie da.«

Ich hatte die Idee gehabt, den Minipeilsender in einem Bus zu deponieren, damit meine Verfolger glaubten, ich habe die Stadt verlassen. Doch dazu kam ich nicht. Auf dem Weg zu den Haltebuchten entdeckte ich den Mann, der Laurel im Washington Square Park beobachtet hatte – ein Typ mit scharf geschnittenem Gesicht, Haut von leichenhaftem Weiß und jettschwarzem Haar. Auf dem linken Handgelenk hatte er eine Tätowierung. Es war kein Zufall, ihn hier wiederzusehen.

Er hatte es auf mich abgesehen. Plötzlich waren die Haltebuchten menschenleer und kein Angehöriger des Port-Authority-Wachdienstes war weit und breit zu sehen. Ich verließ eilends das Gebäude und rannte die 42. Straße hinunter. An der 10. Avenue erwischte ich die letzten Sekunden der Gelbphase der Fußgängerampel. Als mein Verfolger die Kreuzung erreichte, war die Ampel auf Rot umgesprungen und der fließende Querverkehr versperrte ihm die Straße. Ich folgte dem West Side Highway nach Norden, ehe ich in die 44. Straße einbog. Dabei schnappte ich mühsam nach Luft und wusste, dass ich dieses Tempo nicht mehr lange würde durchhalten können.

Dort, wo die Straße die Gleise des West Side Güterbahnhofs berührte, krönte eine Mauer schwarzer Bruchsteine die Böschung und schuf so eine künstliche Senke für die Eisenbahnstrecke. Der knapp zehn Meter tiefe Steilabfall zu den Gleisen und die solide Mauer von Gebäuden auf der anderen Straßenseite schränkten meine Möglichkeiten erheblich ein. Ein Stacheldrahtzaun, der einen Lkw-Abstellplatz umschloss, bot mir ebenfalls keine Fluchtmöglichkeit. Hinter mir lag die Intrepid, ein massiges graues Gespenst von einem Schlachtschiff, auf dem Hudson. Neben ihr ankerte ein schwarzes U-Boot und dahinter war ein kleineres Schiff zu erkennen, das mit einer Rumpfhälfte einer Concorde beladen war. Diese Ansammlung von alten Schiffen und Flugzeugwracks bot eine Menge guter Verstecke, doch bei Nacht wäre dieser Ort für die Öffentlichkeit sicherlich gesperrt.

Meine Eingeweide protestierten nach dem schnellen Lauf. Als ich sah, wie der Mann um die Ecke bog, suchte ich fieberhaft nach einer Möglichkeit, irgendwie von der Straße zu verschwinden. Es war ohnehin schon ein kleines Wunder, dass ich ihn bis jetzt hatte auf Distanz halten können. Links von mir begann ein Abschnitt, wo der Zaun Lücken aufwies oder verbogen an den Pfählen hing. Ich schlängelte mich durch eine Öffnung, um mich zwischen den Lastwagen zu verstecken. Das Ende eines Drahts bohrte sich durch mein Oberhemd und hinterließ einen tiefen Kratzer in meiner Schulter. Ich ging hinter einem Lastwagen in Deckung und versuchte, meinen Verfolger zu orten, um ihm ausweichen zu können.

Die Geräusche, die er verursachte – eilige Schritte, ein gelegentliches heftiges Atmen –, brachen abrupt ab, als hätte er es sich anders überlegt. Schlich er noch auf dem Abstellplatz herum oder hatte ich ihn abgeschüttelt? Ich gelangte auf die 45. Straße, ein gutes Stück von einem niedrigen weißen Gebäude entfernt. Der Eingang zu dem Bau stand weit offen. Ich überlegte nicht lange und benutzte ihn. Es war ausgerechnet ein Stall und stank nach Pferdemist und altem Öl. Auf einer Seite konnte ich das Scharren von Hufen und das gelegentliche Rascheln eines Pferdeschweifs hören. Kunstvoll verzierte weiße und bunte Pferdekutschen standen in langen Reihen in der Halle. Es war wie bei einem Zigeunertreffen, nur dass die Kutscher offenbar alle in der Mittagspause waren. Das mussten die Kutschen sein, die man im Central Park für Rundfahrten mieten konnte.

Ich kauerte mich hinter der vierten in einer Reihe von fünf Kutschen auf den ölverschmierten Boden, atmete die vom Stroh staubige Luft ein und lauschte dem leisen Schnauben der Pferde. Ich konnte es nicht riskieren, mein Mobiltelefon zu benutzen. Wenn er mir in die Halle gefolgt war, würde er sofort meine Stimme hören und mein Versteck finden.

Ein neues Geräusch drang an meine Ohren: Schritte, die sich zwischen den Kutschen bewegten. Ich hielt den Atem an und hoffte, dass er eine andere Richtung einschlug, aber er kam näher und war schließlich nur noch höchstens zwei Kutschen von mir entfernt. Ich suchte mein Heil in der Flucht und rannte los.

Ein schwergewichtiger Mann mit großen Schweißflecken in den Achselhöhlen seines Arbeitshemdes blickte verblüfft hoch, als ich hinter der Kutsche hervorstürmte. Das war nicht der Mann im Narrenkostüm. Meine Glückssträhne schien mir treu zu bleiben.

Sobald ich die 10. Avenue erreichte, vergewisserte ich mich, dass er nirgendwo zu sehen war, und hielt mich dann dicht an den Ladenfronten, um weniger aufzufallen. Kurz bevor ich ein Straßencafé erreichte, dessen Tische an diesem warmen Sommerabend dicht besetzt waren, spürte ich, wie mir etwas, das sich wie der Griff eines Schraubenziehers anfühlte, in Höhe meiner Taille gegen die Wirbelsäule gedrückt wurde. Ein Arm in einem schwarzen Ärmel schlang sich um meine Brust.

»Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie so etwas Blödsinniges versuchen würden, Madison.«

Ich versuchte, mich loszureißen. Er drängte mich gegen das Schaufenster einer Bäckerei. Keiner der Passanten nahm Notiz von uns.

»Wollen Sie mich etwa gleich hier erschießen? Vor all den Leuten?«

»Nein, wir überqueren jetzt die Straße und gehen zu dem Imbiss, wo mein Wagen steht.«

»Und wenn ich nicht mitgehe?«

»Wurden Sie schon mal angeschossen?«

»Nein.«

»Ich schon. Zuerst spüren Sie gar nichts. Nur einen Schlag. Als hätte ihnen jemand eine Schaufel gegen den Rücken geschmettert. Dann folgt ein brennendes Gefühl. Danach geben Ihre Beine nach.«

»Wenn wir zum Wagen kommen, wartet sie sicherlich schon, nicht wahr?«

»Eris? O ja. Mit offenen Armen.«

Ehe ich mich dazu äußern konnte, hörte ich einen Knall wie von einem geplatzten Autoreifen. Die Welt bewegte sich plötzlich nur noch im Zeitlupentempo. Ich spürte, wie der Mann sich von mir fortbewegte. Meine Beine waren wie Gummi. Ich stemmte mich gegen das Schaufenster und bemühte mich, aufrecht stehen zu bleiben. Ich wartete auf den brennenden Schmerz in meinem Rücken. Ein Wehlaut stieg in meiner Kehle hoch.

Eine Frau an einem Cafétisch, nur ein paar Schritte entfernt, sprang von ihrem Stuhl auf und stieß einen Schrei aus. Ein Taxi bremste mit quietschenden Reifen. Ein Mann auf dem Bürgersteig holte sein Mobiltelefon heraus und tippte hektisch eine Nummer ein. Die Tische vor dem Café leerten sich. Leute rannten vor mir davon. Ich streckte eine Hand aus. Niemand half mir.

Babylon
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