Vier

Ich fuhr ziellos herum und schaute ständig in den Rückspiegel, um mich zu vergewissern, dass ich nicht verfolgt wurde. Meine Gedanken überstürzten sich. Was, zur Hölle, war da im Gange? War Eris von irgendetwas high? Hatte sie Hal wirklich getötet? Sie hatte es auf irgendeinen Kunstgegenstand abgesehen. Etwa auf das Ding, von dem Hal mir kurz vorher erzählt hatte? Hatte er mich angerufen, um mich zu bitten, dass ich ihm half, oder wollte er mich in irgendein Komplott verwickeln?

Ich blickte wieder in den Rückspiegel. War dieser silberne Range Rover vielleicht hinter mir her? War es möglich, dass sie mir so schnell hatte folgen können? Ich weiß nicht, weshalb ich ausgerechnet diesen Wagen in den Blick genommen hatte. Jeder andere hätte mich genauso auf dem Kieker haben können. Ich machte mit einem riskanten Manöver kehrt und jagte an dem silbernen SUV vorbei. Mein Körper verkrampfte sich und ich riss ruckartig am Lenkrad. Es war nur der Wachsamkeit des Fahrers neben mir zu verdanken, dass wir nicht zusammenstießen. Mit berechtigter Wut stützte er sich auf den Hupknopf. Wenn zu den Ereignissen von heute Abend noch ein von mir verschuldeter Verkehrsunfall hinzukäme, säße ich wirklich in einem Riesentümpel Scheiße.

Ich war derart durcheinander, dass ich gar nicht darauf geachtet hatte, wohin ich eigentlich unterwegs war. Nun jedoch erkannte ich, dass ich mich in Murray Hill befand. Ich schaute mich um. Der silberne Wagen war nicht zu sehen. Ich bog in eine Nebenstraße ein und lenkte den Wagen sofort auf einen freien Parkplatz, ehe ich erkannte, dass direkt hinter mir ein Streifenwagen kam. Er rollte langsam an mir vorbei und bremste dann. Der Cop auf der Beifahrerseite musterte mich kritisch. Er spürte meine Panik. Ich war geliefert. Aber zu meiner Überraschung blieben die Polizisten nur eine knappe halbe Minute stehen, ehe sie wieder Gas gaben und weiterfuhren. Ich legte den Kopf aufs Lenkrad, während die nächtlichen Ereignisse auf mich einstürzten.

Ich brauchte einen Ort, um zur Ruhe zu kommen und nachzudenken. Nach Hause zurückzukehren, verbot sich sozusagen von selbst. Vorerst jedenfalls. Eris hatte meine Visitenkarte mit der Geschäftsadresse. Der einzige andere Ort, der mir einfiel, war mein Lieblingsclub, der den Vorteil hatte, auf der anderen Straßenseite, genau gegenüber meiner Wohnung, zu liegen. Von dort hatte ich meinen Hauseingang im Auge und konnte unbemerkt auf Eris warten.

Ich wendete und fuhr zu Kenny’s Castaways.

Das Gebäude, in dem sich Kenny’s befand, war seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts immer eine Bar gewesen. In den 1890ern hatte der Herald es zum »übelsten Ort in New York« gekrönt. In jüngerer Zeit hatte Pat Kenny das Etablissement gekauft und berühmt gemacht. Seine legendären Bands haben mir die ersten Lektionen über gute Musik erteilt. In einer Sommernacht vor langer Zeit hatte ich am Geländer des Balkons unserer Wohnung gestanden und, verzaubert wie ein Seemann vom Gesang der Sirenen, gebannt den Klängen gelauscht, die aus der offenen Tür des Clubs drangen. Ich war damals erst acht gewesen, war jedoch stundenlang wach geblieben, bis Samuel darauf bestand, dass ich endlich ins Bett ging.

Meine Liebe zu diesem Ort und seinen Liedern hatte niemals nachgelassen.

Bei Kenny’s war die Stimmung gedämpft. Die Band spielte gerade ihr letztes Set und würde gleich die Instrumente zusammenpacken und das Lokal verlassen. Ein paar Gäste lungerten in der Nähe der Bühne herum und nippten an ihrem Bier. Ich schwang mich auf einen Hocker am Ende der Bar, wo ich gewöhnlich saß.

Diane Chen, die Bardame, hatte stacheliges, kurzes Haar in zwei Violettschattierungen und trug ein Make-up, das ihre ohnehin schon bleiche Haut geradezu geisterhaft erscheinen ließ. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie ihre Augenbrauen regelmäßig zupfte und mit einem schwarzen Stift nachzeichnete. Der Eyeliner unter ihren langen schwarzen Wimpern war auftätowiert. Ein kleiner Diamant zierte ihre Unterlippe, und ein Ohrläppchen war von einer Reihe silberner Ringe durchstochen. Wie viele Restaurantangestellte machte sie diesen Job nur, um ihre Karriere als Schauspielerin zu befördern. Bei all diesen Ohrringen, dachte ich, musste jeder Kostümwechsel die reine Hölle sein.

Sie winkte mir zu, als sie mich entdeckte, ging zum Eingang und schaute hinaus, ehe sie zu mir kam. Meine Hände zitterten immer noch. Ich klemmte sie zwischen meine Oberschenkel, damit sie es nicht bemerkte.

»Warum warst du gerade am Eingang und hast hinausgeschaut?«

»Der Restaurant-Stalker ist wieder unterwegs. Wir versuchen, ihn rechtzeitig abzuwimmeln.«

Sie sah die Frage in meinen Augen.

»Er ist so ein seltsamer Typ. Er dreht regelmäßig seine Runden im Viertel, und diese Woche ist er auf der Bleecker Street unterwegs. Er geht in eine Bar oder ein Restaurant, stellt sich mitten in den Gastraum und starrt nur in die Gegend. Das macht die Gäste nervös. Wenn wir ihm einen Fünfer geben, geht er. Keine schlechte Taktik. Besser, als sich auf den Bürgersteig zu setzen und die Hand aufzuhalten.«

Das brachte mich zum Lachen, und sie stimmte mit ein.

»Ich hab dich vermisst, John. Das mit deinem Unfall tut mir unendlich leid. Hast du meine Beileidskarte erhalten?«

Seit dem Unfall hatte ich jeden Antrieb verloren, meine Post auch nur zu öffnen. Ich bedankte mich für die Karte.

»Ich hab versucht, dich anzurufen, aber da lief nur der Anrufbeantworter.«

»Ich war für eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Genau genommen für über sechs Wochen.« Das Elend des Unfalls holte mich wieder ein. »Sie mussten mich regelrecht aus dem Wagen herausschneiden. Meine Rippen waren gebrochen und eine Arterie war verletzt. Der Blutverlust hat mich so lange im Krankenhaus festgehalten, dass ich sogar Samuels Beerdigung versäumt habe. Aber ich bin jetzt auf dem Wege der Besserung.«

Sie seufzte. »Das alles ist so schrecklich. Wie ist es denn überhaupt passiert?«

»Ich stehe wie vor einer Wand, wenn ich versuche, mich daran zu erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich Samuel vom JFK abgeholt habe. Er kam aus Jordanien. Wir fuhren über den Belt Parkway und befanden uns kurz vor der Rennstrecke. Ein Pick-up hinter mir war unheimlich dicht aufgefahren, als wollte er mich von der Straße schieben. Aber als ich langsamer fuhr, um ihn überholen zu lassen, tat er mir nicht den Gefallen. Und das ist das Letzte, was ich weiß.«

Das entsprach nur zum Teil der Wahrheit, aber ich konnte es nicht ertragen, auch den Rest zu schildern. Der Airbag hatte mir völlig die Sicht genommen, aber mein Gehör funktionierte noch – ich hörte das nackte Grauen in Samuels Stimme. Der Mann, der mir gegenüber niemals die Stimme erhob, brüllte mich an. Ich ignorierte den stechenden Schmerz in meiner Brust, fingerte an meinem Sicherheitsgurt herum, um mich von ihm zu befreien, damit ich ihm helfen konnte, und hatte es beinahe geschafft, als ich ohnmächtig wurde.

Diane ergriff meine Hand und drückte sie. »Vielleicht ist es ein Segen, dass du dich nicht erinnern kannst. Dein Gehirn schützt dich vor einem Erlebnis, das einfach zu schrecklich ist. Du musst Samuel furchtbar vermissen.«

»Ich glaube nicht, dass ich jemals darüber hinwegkomme, Diane.«

Wie konnte ich das schwarze Loch beschreiben, in das ich seit seinem Tod gestürzt war? Mir fehlten die Worte dafür. In Gedanken kehrte ich immer wieder zu den frühen Jahren zurück.

Samuels Arbeit hatte häufig lange Zeiten der Abwesenheit mit sich gebracht. Da war immer dieses Gefühl des Wartens gewesen, wie man es schon mal im März verspürt, wenn man sich danach sehnt, dass der Winter endlich zu Ende geht. Wenn unsere Haushälterin, Evelyn, dann erfuhr, dass Samuel nach Hause kam, veränderte sich die gesamte Atmosphäre. Ich sah sie vor mir, wie ihr Gesicht aufleuchtete und wie ihre Wangen sich röteten. Sie wirbelte durch das Haus und säuberte irgendwelche Dinge, die es gar nicht nötig hatten. Ich ging zum Friseur, und sie putzte sämtliche Schuhe und versuchte sogar, einen Kuchen zu backen. Wenn dann der Tag kam, zwängte Sam sich durch die Tür, die Arme voller Kartons mit Geschenken und allen möglichen exotischen Dingen. Türkischer Honig. Sandflaschen. Mosaiken. Ohrringe aus römischem Glas für Evelyn, handgefertigt in Israel.

Ich räusperte mich, um zu kaschieren, dass meine Stimme zitterte. »Ich erwarte ständig, ihn wiederzusehen. Obgleich ich genau weiß, dass das nie geschehen wird.«

Sie griff nach einer Papierserviette und reichte sie mir.

»Wofür ist das?«

»Für deine Augen.«

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie tränten. Ich berührte sie und spürte die Nässe.

»Kann ich dir etwas geben? Du siehst völlig fertig aus.«

»Ein Flasche Whiskey. Ein Glas brauche ich nicht unbedingt.«

Sie lachte. »Ich sehe, dass du eine wilde Nacht hattest.«

»Du hast ja keine Ahnung.«

Sie schenkte mir einen doppelten Scotch ein und verschwand durch die Tür am Ende der Bar. Ich kippte den Drink und stand auf, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Vom Fenster aus konnte ich nur den Eingang in die Halle des Hauses sehen. Keine Spur von Eris oder ihrem seltsamen Begleiter.

Es dauerte nicht lange, bis der Alkohol meine Nerven ausreichend betäubt hatte. Ich begann mich in der vertrauten Umgebung zu beruhigen. Mir hatte die Atmosphäre bei Kenny’s immer gefallen. Es war dort wie in einem auf langweilig und harmlos getrimmten Speak-easy – tomatenrote Wände, dunkle Wandtäfelung, ein von der Decke herabhängender, schmiedeeiserner Leuchter in Form eines Wagenrads. Die Wand hinter der Bar war mit Spiegeln, Bierkrügen, alten Säbeln und Revolvern geschmückt. In der Mitte prangte ein ausladendes Geweih mit staubigen Filzhüten an den Spitzen.

Mir genau gegenüber hing ein großes Foto vom Boss und darunter ein Zitat aus Crawdaddy!:

Bruce Springsteen war der Star und gab dem Konzert seinen Namen, doch von den Zuhörern wusste nicht mal ein Dutzend überhaupt, wer er war. Auf dem Plakat draußen über dem Eingang hatten sie sogar seinen Namen falsch geschrieben. Aber als er zu singen begann, war es, als beruhigten sich die Ozeane und als kündigte ein Prickeln auf der Haut an, dass sich ein Unwetter zusammenbraute.

Diane kletterte hinter der Bar auf ihren Hocker und holte mich aus meinem Traum. Unter dem Arm hatte sie einen rechteckigen braunen Kasten. Sie stellte ihn auf die Theke und öffnete den Deckel.

»Was ist das?«

»Erinnerst du dich nicht? Du erwähntest das einmal, als wir uns über deine Arbeit unterhielten. Eine Freundin hat es für mich im Britischen Museum gekauft, als sie in London war. Ich habe es herausgeholt, um dich von deinen Sorgen abzulenken.«

Als sie das Spielbrett herausnahm, erkannte ich es sofort. Es war eine Reproduktion des Königlichen Spiels von Ur, des ältesten bekannten Brettspiels. Das Britische Museum besaß ein seltenes Original. Es war ein Exemplar von zweien, die Sir Leonard Woolley in den 1920ern während seiner Ausgrabungen in den Ruinen der sumerischen Stadt Ur gefunden hatte.

Babylon
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