Drei

Ich kramte in meinem Gedächtnis, um ihren Namen zutage zu fördern. Erica oder Erin, so oder ähnlich. »Ist Ihnen nicht klar, was hier passiert ist?«

Sie kam näher und strich mit den Fingerspitzen über meinen Arm. »Der Name ist Eris. Wir haben uns auf der Party kennengelernt, erinnern Sie sich?«

Hatte sie Hal nicht gesehen? Vielleicht versperrte ich ihr die Sicht. Ich trat zur Seite.

Als ob sie es früher schon oft getan hätte, kniete sie neben ihm nieder, überprüfte seine Augen und drückte mit den Fingern gegen seinen Hals. Seufzend erhob sie sich wieder. »Ihm ist nicht mehr zu helfen. Aber ich glaube, das wissen Sie längst.« Sie sagte es voller Mitgefühl, doch dass sie überhaupt nicht erschrocken oder gar entsetzt wirkte, beunruhigte mich.

»Was ist mit ihm geschehen?«

»Ich habe genug Leichen wie diese gesehen. Er hat sich eine Überdosis verpasst.«

Ein Hecheln und Jaulen kam von der Tür nebenan. Der Hund des Nachbarn. Er kratzte wie wild am Holzzaun. Dass sie meinen Verdacht bestätigte, stürzte mich in ein Dilemma. Das Richtige wäre, die Polizei zu rufen, aber bei all den Drogen würden sie mich sofort zum Verdächtigen stempeln, zumal ich in meiner Jugend des Öfteren diesbezüglich mit dem Gesetz in Konflikt geraten war.

Als könnte sie meine Gedanken lesen, sagte sie: »Verwickeln Sie bloß nicht die Cops in diese Sache.«

»Warum nicht?«

»Sie haben sich mit ihm gestritten. Das Fenster hat offen gestanden. Die Leute haben Sie gehört.«

»Das war doch nichts.« Ich sah mich um. »Sind Sie allein hier? Wo ist Colin Reed?«

Sie verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. »Reed hat sich vor einer Weile verabschiedet. Er interessierte sich nur für eine einzige Sache und verschwand, als ich ihm klarmachte, dass ich nicht mitspielen würde. Männer können manchmal wirklich enttäuschend sein.« Sie sagte das in einem lockeren Ton, als machte sie einen Scherz. »Ich habe meine Zeit mit ihm vergeudet, wenn ich sie hätte mit Ihnen verbringen können.« Sie hob Hals Plastikbeutel auf und stopfte ihn in ihre Tasche. Dann kehrte ihre Hand wieder auf meinen Arm zurück. »Sehen Sie, was hier mit Hal geschah, ist ein Unglück. Aber wir können ein Geschäft machen. Da steckt jede Menge Geld drin.«

»Wovon, zum Teufel, reden Sie?«

Sie kam näher und der Druck ihrer Hand auf meinem Arm verstärkte sich. »John, es geht um ein gestohlenes Artefakt. Ich bin darüber informiert. Aus rein privaten Gründen. Sie glauben doch nicht etwa, dass ich beim FBI bin, oder?«

Ich machte einen Schritt rückwärts und schüttelte ihre Hand ab. »Ehrlich gesagt ist es mir völlig egal, ob Sie vom FBI oder von Fort Knox sind.«

Die Motte, die ich vorher gesehen hatte, war wieder da und flatterte um die Öllampe herum. Eris streckte eine Hand aus und schnippte sie in Richtung der Flamme. Ich hörte ein leises Knistern. Die Motte flatterte hektisch herum und bemühte sich, mit versengten Flügeln in der Luft zu bleiben, dann stürzte sie ab und landete neben dem Lampenfuß.

»Das Ganze wird allmählich ermüdend«, sagte sie. »Muss ich es Ihnen wirklich haarklein erklären? Was ich Ihnen klarzumachen versuche, ist, dass Hals Injektion kein Unfall war. Treffen Sie nicht die gleiche falsche Entscheidung wie er.«

»Haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Sie haben ihn getötet? Er hatte sich schon genug gespritzt. Ich war bei seinem ersten Schuss dabei.«

»Er ist stur geblieben. Er wollte es nicht anders.«

»Wovon reden Sie?«

Ihr freundlicher Tonfall verflüchtigte sich. »Sehen Sie, wir beide wissen, dass Sie mit drinhängen. Hal hat Sie aus einem ganz bestimmten Grund gebeten, hierherzukommen. Verraten Sie mir nur, wo es ist.«

Meine Gedanken rasten. Nichts von all dem ergab einen Sinn. Entweder hatte sie Wahnvorstellungen, oder es ging um eine wirklich ganz üble Geschichte. Egal was es war, ich wollte nichts davon wissen. Die ganze Angelegenheit geriet allmählich außer Kontrolle. Ich wollte nichts anderes, als von hier verschwinden. Ich bezweifelte, dass sie stark genug war, um mich aufzuhalten, und ich konnte keine Waffe an ihr entdecken. Ich hörte ein Geräusch und hoffte, dass noch jemand anderer erschien. Ihr Blick irrte zum schattigen Gebüsch am Ende des Gartens. Dort war schemenhaft eine bedrohliche Gestalt zu erkennen. Ich erkannte einen riesigen Mann, der den plattierten Weg betrat. Eris lächelte. Das war kein Retter. Mit einem von beiden würde ich vielleicht fertig, aber nicht mit beiden.

Ein alter Lattenzaun trennte das Grundstück der Vanderlins vom Anwesen nebenan. Durch die Lücken zwischen den Latten war der Hund zu sehen. Er bellte wütend und machte sich mit Zähnen und Pfoten an dem verrotteten Holz zu schaffen. Es splitterte.

Eris wandte sich erschrocken um. Sie öffnete den Mund, zeigte makellose, gleichmäßige Zähne und leckte mit ihrer rosigen Zunge über ihre Lippen.

Der untere Teil des Zauns zerbrach. Durch die Öffnung schob sich der Kopf einer Bulldogge mit triefenden Lefzen.

Eris brachte sich durch einen Sprung in Sicherheit. Jeden Moment konnte der kräftige Hund durch den Zaun brechen und angreifen. Nebenan flammten Lampen auf. Eine Männerstimme rief: »Was, in Gottes Namen, geht da drüben vor?« In der Ferne ertönte eine Polizeisirene.

Ich nutzte die Lücke, die Eris geschaffen hatte, stieß mit dem schartigen Ende von Hals Mobiltelefon nach ihr und rannte durch die offene Glasschiebetür. Nicht umdrehen! Hau ab! Verschwinde einfach! Ich hetzte durch das Haus, gelangte durch die Haustür nach draußen und setzte meinen Wagen bereits in Gang, noch ehe ich die Fahrertür geschlossen hatte. Ein gutes Stück voraus konnte ich Streifenwagen die Kreuzung an der 8. Avenue überqueren sehen.

Ich gab Vollgas. Wenn die Polizei mich jetzt stoppte, musste sie glauben, dass ich einen Mord begangen hatte und auf der Flucht war.

Babylon
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